Read the book: «Weinrache», page 2

Font:

2

Die Eule meldete sich erneut. Dieses Mal erklang der Ruf dicht über dem Wagen, bis er unvermittelt abbrach und das an- und abschwellende Rauschen der Autos, die zu dieser späten Stunde unterwegs waren, wieder in Normas Aufmerksamkeit rückte. Die grünen Ziffern am Armaturenbrett zeigten 12.13 Uhr an. Gegen 10 hatten sie in einem italienischen Restaurant in der Limburger Altstadt gegessen. Zuvor war Arthur mit dem Leuchtenverkäufer einig geworden, was eine Weile gedauert hatte, weil der Mann sich besser auskannte und hartnäckiger verhandelte, als Arthur erwartet hatte. Anschließend wollte er ihnen unbedingt seine Sammlung alter Kinoplakate vorführen; ein Angebot, dem Norma als leidenschaftliche Kinogängerin leichtfertig zustimmte, hatte sie doch nicht geahnt, wie ausschweifend ein stolzer Besitzer auf jedes Beutestück eingehen konnte. Der Vorgang wurde nicht eben dadurch beschleunigt, dass Arthur mehrere Telefongespräche mit Kunden führte.

Als das Essen serviert wurde, schaltete er auf ihre Bitte das Telefon aus. Der Erwerb der Leuchten, wirklich seltene und gut erhaltene Stücke, die nun in einen Karton verpackt im Kofferraum verstaut waren, hatte ihn in beste Laune versetzt. Norma fühlte sich angenehm gesättigt von ›Linguine al Pesto‹. Besänftigt durch einen ›Winkeler Hasensprung‹, stellte sich eine unerwartete Vertrautheit ein, als wäre ihnen ein Sprung in die Vergangenheit gelungen, in der die Wochen und Monate des Streitens, der Zerwürfnisse und Versöhnungen und ihr Entschluss, ihn zu verlassen, weit weg waren. Das Gespräch drehte sich um Arthurs Geschäft, um die Kunden und jene früheren gemeinsamen Freunde, die nun, nach der Trennung, allein die seinen waren. Über die Scheidung fiel kein Wort. Keiner wollte die friedliche Stimmung zerstören.

Noch während des Essens hatte es zu donnern begonnen, und als sie durch die steile Gasse hinunter zum Parkhaus eilten, kam Wind auf, und die ersten Tropfen fielen. Sie liefen die letzten Schritte und hatten kaum das Tor erreicht, da brach der Himmel auf. Der Verkehrsfunk meldete einen Stau auf der A 3, einer unfallträchtigen Strecke in Richtung Wiesbaden, und Arthur schlug vor, für den Rückweg die Hühnerstraße zu nehmen und über Taunusstein und die Höhe der Platte zu fahren. Der Regen prasselte gegen die Frontscheibe. Die Musik war kaum zu verstehen. Arthur stellte den Ton lauter und summte mit. Joe Cocker besang die Vorzüge der Freundschaft.

Die Hühnerstraße führte abwechselnd durch Wald und Feld, hin und wieder durchquerten sie ein Dorf. Norma fuhr langsam, achtete auf den Verkehr und hing dabei ihren Gedanken nach. Zwei Tage Arbeit lagen noch vor ihr, dann wäre das Weinfest vorüber, und sie brauchte einen neuen Job. Hoffentlich als Ermittlerin! Sie hatte innerhalb der ersten Monate als Privatdetektivin mehrere Aufträge ausgeführt; hervorragend ausgeführt, wie ihre Klienten versicherten. Jedoch, Empfehlungen benötigten Zeit. Das Thema war sensibel. Wer posaunte schon gern heraus, dass er seinen Ehepartner oder einen Angestellten beschatten ließ? Oder beabsichtigte, das zu tun? Trotzdem sah sie voller Hoffnung auf ihre berufliche Zukunft. Noch vor gut einem halben Jahr, als sie aus dem Polizeidienst ausschied, war das anders; damals stand sie vor einem Scherbenhaufen. Ihr Leben lang hatte sie sich keinen anderen Beruf als den der Polizistin und später der Kommissarin vorstellen können. Die Erkenntnis, nicht mehr fähig zu sein, die Aufgaben, die sie so liebte, weiterhin auszuüben, erschien ihr wie ein Todesurteil. Inzwischen gab sie nicht mehr ausschließlich Arthur die Schuld an ihrem Scheitern. Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber Arthur hatte seinen Teil zu ihrem Unglück beigetragen.

Die ersten Takte von ›Yesterday‹ erklangen. Norma schaltete das Radio aus.

Arthur summte einen Teil der Melodie allein. »Immer noch so zart besaitet?«

Denk nicht daran, nicht jetzt, ermahnte sie sich. Sonst brichst du sofort einen Streit vom Zaun.

Sie konzentrierte sich auf Arthurs Worte, der auf sein aktuelles Lieblingsthema zurückkam: die Ausstattung der ›Villa Stella‹. Die neu erworbenen Leuchten seien die perfekte Ergänzung.

»Nick Reichels wird begeistert sein«, sagte er zufrieden. »Du hast sicherlich von ihm gehört?«

Wer in Wiesbaden hätte das nicht! Der junge Koch, der sich mit seinem Ehrgeiz viel Anerkennung und diverse Fernsehauftritte erkocht hatte, bildete zurzeit das Lieblingsthema der hiesigen Schickeria. Gut aussehend, von temperamentvoller Frische und mit kribbeligem Charme war dem Spross einer rheinhessischen Winzerfamilie der Erfolgssprung von der Mainzer Rheinseite hinüber nach Wiesbaden auf Anhieb gelungen. Norma war sein blendendes Zahnpastalächeln verdächtig.

»Was hat Nick Reichels mit der ›Villa Stella‹ zu schaffen?«, fragte sie verwundert.

Arthurs hintergründige Miene war selbst im Halbdunkel erkennbar. »Nick wird im ›Marcel B.‹ kochen.«

»Bruno will diesen Fernsehkoch einstellen? Davon hat er gar nichts erzählt.«

Bruno hatte in den vergangenen Tagen kein Wort über das neue Restaurant verloren, fiel Norma auf. Noch zu Beginn der Weinwoche war er unermüdlich immer wieder auf das ›Marcel B.‹ zu sprechen gekommen, wenn er am Stand nach dem Rechten sah.

»Nick übernimmt das Restaurant«, erklärte Arthur gelassen. »Bruno ist draußen.«

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Das kann Fischer nicht machen! Bruno ist sein Freund, und Bruno hat einen Haufen Arbeit und Geld in das Projekt gesteckt.«

»Der beste Freund von Moritz ist ein gutes Geschäft. Nick bietet einfach die besseren Konditionen. Die Familie hat Geld. Verfügt über beste Kontakte. Und Nick ist ein Sonnyboy. Der grinst mit seinem Lächeln alle in Grund und Boden. Das zählt heute. Nicht der altbackene Charme eines Emporkömmlings vom Schlag Bruno Taschenmacher.«

»Bruno hat schwer für den Erfolg gearbeitet! Es gibt Absprachen zwischen ihm und Fischer.«

Arthur wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung fort. »Er hat versäumt, einen Vertrag zu verlangen. Bruno wird sein Leben lang bleiben, was er ist: der ungeliebte Sohn einer Alkoholikerin, der keine Ahnung hat, wer sein Vater ist. Die miese Herkunft hängt an ihm wie Modergeruch.«

Norma starrte durch die Regenschleier auf die im Scheinwerferlicht glitzernde Fahrbahn. Sie drosselte das Tempo. »Wie kannst du so gemein über Bruno sprechen? Er ist dein Freund seit der Schulzeit! Ebenso wie Moritz.«

Er lachte wieder. »Moritz ist mein Freund, weil wir Geschäfte machen. Und Bruno war mein Freund, solange die Geschäfte mit ihm gut liefen. Kein Geschäft, keine Freundschaft. So einfach ist das. Bruno hockt auf einem absterbenden Ast. Nimm die rosa Brille ab, mein Kälbchen!«

Auf der linken Seite wurde ein Parkplatz angezeigt. Norma riss den Wagen herum und jagte durch die Einfahrt. Der Fahrer hinter ihnen hupte.

Arthur suchte Halt am Armaturenbrett. »Hast du sie nicht mehr alle!«

Der Fiesta rollte noch, als sie sich Arthur zuwandte. »Was willst du mir damit sagen? Dass ich mein Leben lang nach Stallmist stinken werde?«

Er hob abwehrend die Hände, die seine belustigte Miene nur unzureichend verdeckten. »Willst du deine Herkunft verleugnen? Kannst du keinen Spaß vertragen?«

Sicherlich war ihre Reaktion übertrieben, aber seine Missachtung reizte sie bis aufs Blut. Sie beherrschte sich mühsam.

»Ich schäme mich nicht für meine Herkunft. Ich bin, was ich bin. Meine Kindheit, die ich nicht missen will, hat mich geprägt. Was berechtigt dich zu dieser unerträglichen Arroganz gegen alle, die nicht wie du mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden? Nein, du willst mich nicht verspotten. Du willst mich demütigen!«

Er verschränkte die Arme über der Brust und verdeckte das Muster des Pullovers, den er sich im Restaurant übergestreift hatte. »Deine Haut ist verdammt dünn seit Kolumbien, Norma.«

»Meine Haut«, erwiderte sie mit eisigem Unterton, »meine Haut ist nicht dünn. Sie ist perforiert wie ein Sieb. Und wie es dazu kam, weiß niemand besser als du!«

Den Vorwurf wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Wie immer stritt er alles ab. Stellte sich dumm. Wollte sich der Verantwortung entziehen. Weiter ging es hin und her, sie schlugen sich die Beschimpfungen wie Schwerter um die Ohren. Bis er die Tür aufstieß. Plötzlich stand er vor dem Wagen, und sie setzte den Fuß auf das Gaspedal. Aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte ihn nicht überfahren.

Weiß der Teufel, wo Arthur steckte! Wieso verschwendete sie überhaupt einen Gedanken an ihn? Vermutlich hatte er längst ein Taxi gerufen. Oder sich von Bruno abholen lassen. Bruno brachte es fertig, im Restaurant alles stehen und liegen zu lassen und sich um Mitternacht auf den Weg zu machen, weil Arthur nach einer Gefälligkeit verlangte.

Bruno ist ein Schaf, dachte sie mitleidig. Ließ sich von seinen so genannten Freunden ausnutzen. Arthur verhielt sich keinen Deut besser als Fischer.

Doch mit ihrer Gutmütigkeit war Schluss. Sie sparte sich jeden weiteren Versuch, Arthur über das Mobiltelefon zu erreichen, und startete den Motor. Höchste Zeit, nach Hause zu fahren und aus den Sachen herauszukommen, die sie seit dem Morgen trug. Das Gewitter hatte einen kühlen Lufthauch mitgeführt, der durch das offene Fenster strich und sie frösteln ließ. Eine heiße Dusche, ein Glas Riesling und dann ins Bett. Sie war todmüde und sehnte sich nach Schlaf.

Wie unaufmerksam sie bei der Sache war, erwies sich nach wenigen Kilometern, als sie an einer Kreuzung auf einen Wegweiser stieß. Sie war unterwegs in Richtung Limburg! Von dem mehrmaligen Wenden hatte sie sich verwirren lassen. Als sich am rechten Straßenrand im Schatten der Baumstämme eine Lücke auftat, überlegte sie nicht lange und stoppte den Wagen. Sie schlug das Lenkrad ein und setzte den Fiesta rückwärts in einen Waldweg. Mit zu viel Schwung, wie sich beim Anfahren herausstelle. Der Motor heulte auf. Die Räder drehten durch. Der Wagen saß fest.

Verflixt! Fluchend durchwühlte sie die Holzkiste auf dem Rücksitz, bis sie die Taschenlampe zu fassen bekam. Beim Aussteigen zeigte sich die Bescherung: Beide Hinterräder steckten in einem Graben, der sich quer über den Weg zog. Eigentlich war es gar kein Weg, wie ein Schwenken des Lichtkegels verriet: Ein Halbkreis aus jungen Buchen umschloss die winzige Lichtung, vor den Stämmen wucherten Gestrüpp und Brombeeren. Die Scheinwerfer leuchteten aufwärts über die Fahrbahn hinweg und zeigten auf die Baumkronen gegenüber. Drei weitere Versuche bestätigten: Ohne Hilfe bekäme sie den Wagen nicht frei.

Sie stellte den Motor aus, löschte das Licht mit dem leisen Bedauern, kein ADAC-Mitglied zu sein, und trat, mit der Taschenlampe bewaffnet, dem Verkehr entgegen. Nachdem der vierte Wagen ungebremst an ihr vorbeigerauscht war, stellte sie sich dem nächsten frech in den Weg. Sie winkte und wirbelte mit der Taschenlampe in dem Bewusstsein, dass ihr aschblonder Haarschopf der einzige helle Fleck in der Nacht war, trug sie doch dunkle Jeans und ein schwarzes Shirt und hatte auch nicht mit bleichen nackten Armen, sondern einer sonnengebräunten Haut aufzuwarten.

Ein flinker Sprung zur Seite rettete sie, als der Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen kam. Der Fahrer, der sich aus dem Fenster lehnte, wirkte nicht eben erfreut über diesen Überfall. Als sie ihm ihre Lage schilderte, schaltete er wortlos das Warnblinklicht ein und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Dann stieg er aus und trat ins Scheinwerferlicht.

Oh, Norma, dachte sie ernüchtert. Welchen Prinzen hast du dir herangezaubert!

Die Jahre bei der Polizei hatten ihre Instinkte geschärft. Dass dieser Mann kaum als Musterschwiegersohn durchgehen würde, bedurfte allerdings keiner geschulten Menschenkenntnis. Er hatte etwas Heimlichtuerisches an sich, und seine offensichtliche Nervosität hätte die Frage aufgeworfen, ob der Wagen gestohlen sein mochte, falls irgendjemand einen uralten BMW stehlen wollte. Die Motorhaube war zerbeult, und bei einem Scheinwerfer brannte nur das Standlicht. Bei näherer Betrachtung konnte selbst in dunkler Nacht die Frage aufkommen, womit der Gutachter des TÜV bestochen worden war. Oder bedroht?, überlegte sie mit stillem Spott. Ein Mann mit der Statur ihres potenziellen Retters besaß eine gewisse Überzeugungskraft. Er war, wie sie erkannte, als er ihr nun entgegen trat, kaum größer als sie mit ihren 1,75 m, aber kräftig und untersetzt und bewegte sich so geschmeidig wie ein geübter Sportler. Die Art, wie er die Arme leicht abspreizte, ließ darauf schließen, dass er einen Kampfsport betrieb. Und er wirkte nicht wie der Typ, der sich mit strikt geregeltem Judo begnügte.

Du hast es so gewollt, Norma Tann!

Sie blickte ihm entgegen, begegnete seinem abschätzigen Blick, mit dem er ihr wortlos die Taschenlampe aus der Hand nahm. Er richtete den Lichtkegel auf den Wagen; zu ihrer Verblüffung mit einem leisen Lachen.

»Ich hatte mit einem Totalschaden gerechnet. So irre, wie Sie auf der Straße herumgehüpft sind.«

Der warme Klang seiner Stimme vertrieb die Gespenster.

»Das Ergebnis einer Fehleinschätzung«, erklärte sie mit einem Lächeln. »Ich wollte hier wenden.«

»Haben Sie sich verfahren?«

»Ich suche meinen Mann. Ihnen ist nicht zufällig ein Fußgänger aufgefallen?«

Er bückte sich nach einem Stock, der unter einem Hinterreifen steckte, und ruckte daran herum. »Mir ist niemand begegnet außer einer Lebensmüden, die sich mir vor den Wagen warf! So, jetzt versuchen Sie es noch einmal.«

Er räumte einen Stein aus dem Weg, während sie den Wagen erneut startete und den ersten Gang einlegte. Im Rückspiegel erschien sein Rumpf wie ein Schattenriss und verdeckte die Hände, die er gegen die Scheibe presste. Ein Ruck, und der Wagen war frei. Sie wollte aussteigen, aber er bedeutete ihr durch ein Winken, gleich weiter zu fahren. So rief sie ihm nur einen Dank zu, bevor sie den Blinker setzte und in Richtung Wiesbaden abbog.

RÜD – WW und eine dreistellige Zahl, die sie ebenso wenig vergessen würde wie die Buchstaben des Kennzeichens für den Rheingau-Taunus-Kreis, Wiesbadens ländlichen Nachbarkreis. Seit sie ein Kind war, setzten sich Buchstaben- und Zahlenkombinationen ungefragt in ihrem Kopf fest, und Arthur, der sich kaum die eigene Telefonnummer merken konnte, neidete ihr dieses Talent.

3

Samstag, der 19. August

Norma träumte. Arthur verfolgte sie durch die Nacht. Er schleuderte eine riesenhafte Leuchte nach ihr und traf ihren Magen. Eine warme Last breitete sich auf ihrem Bauch aus, die nicht nachlassen wollte. Als sie erwachte, blickte sie geradewegs in runde Bernsteinaugen. Die schwarzen Pupillen hatten sich im Morgenlicht zu senkrechten Schlitzen zusammengezogen. Ein grollendes Knurren drang an ihr Ohr, und das Gewicht geriet ins Wanken, als ihr Besucher sich eine bequemere Lage suchte. Sie packte die Vorderpranken mit beiden Händen und schüttelte sie sanft: ein Begrüßungsritual, das ihn wie immer in Entzücken versetzte. Das Grollen schwoll an, und die ledrigen Sohlen stemmten sich gegen ihre Handflächen. Er hatte sich durch das Dachfenster eingeschlichen. Bei ihrer nächtlichen Heimkehr war sie von einer stickigen Schwüle empfangen worden und hatte im Vertrauen darauf, dass weitere Gewitterschauer ausbleiben würden, die Dachfenster aufgemacht und für Durchzug gesorgt. Nun schien die Sonne auf das Bett und überzog den Pelz des Kartäuserkaters mit einem blaugrauen Schimmer. Norma vergrub die Finger in seinem Fell und sah zum Radiowecker hinüber. Kurz nach sieben. Sie schloss die Augen und wollte, bevor sie aufstand, noch eine Viertelstunde dem genüsslichen Schnurren lauschen und den aufgeregten Morgengrüßen der wilden Papageien, die gerne in den Platanen übernachteten. Die Vögel vertrugen das milde Klima am Rhein so gut, dass mehrere 100 Exemplare verschiedener Großsittich- und Papageienarten Wiesbadens Parkanlagen bevölkerten, hatte Norma von ihrer tierlieben Vermieterin erfahren. Die grünen Halsbandsittiche bildeten die größte Population.

Das Klingeln des Telefons mischte sich in das Kreischen der Vögel. So zeitig? Das musste Arthur sein! Ein weiterer Punkt in der Liste seiner schlechten Angewohnheiten. An diesem Morgen war ihr der Anruf willkommen. Der Streit in der Nacht hätte nicht sein müssen, jedenfalls nicht in dem Ausmaß. Im sanften Morgenlicht und mit dem schnurrenden Kater auf den Knien erschien es ihr, als hätte sie völlig überzogen reagiert.

»Entschuldige, Poldi!«

Sie hob den Kater hoch, der sich widerspenstig in die Bettdecke krallte. Norma beförderte ihren Gast ans Fußende, bückte sich gähnend und tastete auf dem Teppich nach dem Telefon, bis sie es unter dem Bett entdeckte.

»Arthur! Guten Morgen!«

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss«, lautete die Antwort.

Bruno. Dass er schon am frühen Morgen so angespannt klang! Er nimmt sich zu viel auf einmal vor, dachte sie mitfühlend. Seit Agnieszka ihn verlassen hatte, vergrub er sich in Arbeit. Die junge Polin war seine zweite Frau. Auch die erste Ehe war schief gegangen. Und nun kam auch noch der Ärger mit Moritz Fischer dazu.

Sie lächelte aufmunternd, als stünde er ihr gegenüber. »Hallo, Bruno! Es ist nur … ich hatte gestern Abend Krach mit Arthur.«

»Wann habt ihr keinen Streit? Du nimmst zu wenig Rücksicht auf ihn, Norma!«

Als sie ihn fragte, ob er Arthur in der Nacht abgeholt habe, zeigte er sich verwundert. Er habe seinen Freund nirgendwo hingefahren, entgegnete er. Sie hätten auch nicht miteinander telefoniert, fügte er unwirsch hinzu und kam auf den Grund seines Anrufs zu sprechen. Ob sie ihren Dienst eine Stunde früher antreten könnte? Für diesen Samstag, den vorletzten Tag der Weinwoche, sei mehr als gewöhnlich vorzubereiten.

Er rechnete demnach mit einem guten Geschäft. Norma vergrub die Zehenspitzen im Pelz des Katers, der sich unwillig mit dem Fußende begnügte. Eigentlich wollte sie sich mit dem Yogabuch beschäftigen und vor der Fahrt in die Stadt die ersten Übungen ausprobieren. Die Geschmeidigkeit der Katzen faszinierte sie von jeher, und mit Leopolds täglichem Beispiel vor Augen fand sie es an der Zeit, mehr für die eigene Beweglichkeit zu tun. Außerdem sollte Yoga viel Größeres bewirken, als die körperliche Fitness zu verbessern. Das versprach jedenfalls das Buch.

Bruno wartete auf eine Antwort. Er könne sich selbst nicht um den Stand kümmern, erklärte er ungeduldig.

Nach vergeblichen Bemühungen in den vergangenen Jahren hatte Bruno bei diesem Weinfest endlich den Sprung in die Riege jener prominenten Bürger geschafft, die auf dem Weinstand des ›Wiesbadener Kuriers‹ Getränke ausschenkten. Die Einnahmen kamen der Organisation ›Ihnen leuchtet ein Licht‹ zugute, die das Geld unter bedürftigen Wiesbadener Bürgern verteilte. Norma dachte an den Menschenstrom, den zwei Tage zuvor der Auftritt des hessischen Ministerpräsidenten herangelockt hatte. Eine gute Stunde seiner Zeit stellte der Landesherr für den guten Zweck zur Verfügung. Den Trubel hatte Norma von ihrem Arbeitsplatz aus ebenso gut beobachten können wie den Einsatz der uniformierten und zivilen Polizeibeamten, die auffällig und unauffällig für die erforderliche Sicherheit sorgen sollten.

Norma wackelte mit den Zehen, um Leopold zum Spielen zu animieren. Er ging sofort darauf ein und holte zu einem sanften Hieb mit der Tatze aus. Leopold war ein zärtlicher Kater.

»So ein Pech, dass du am Donnerstag nicht eingeladen warst.«

Bruno prustete ins Telefon. Er lege überhaupt keinen Wert auf einen Ministerpräsidenten an seiner Seite, log er, und zählte die Namen der Personen auf, die seiner Gruppe zugeteilt waren; darunter eine Redakteurin vom Zweiten Fernsehen, ein Sportreporter und zwei Schauspieler des Staatstheaters.

»Was ist jetzt? Kann ich auf dich zählen?«

Die Yogaübungen mussten warten. Sie versprach, pünktlich zu sein.

»Sag mal, Bruno«, fügte sie vorsichtig an, »Arthur hat mir gestern erzählt … Autsch!«

Ein stechender Schmerz im Knöcheln ließ sie mitten im Satz stocken. Das Kopfkissen packen und gegen den Kater schleudern, war eine Bewegung. Leopold floh fauchend auf den Schrank. Norma betrachtete den blutenden Streifen, der sich vom großen Zeh bis zum Knöchel zog. Sie hatte Leopold unterschätzt. Sogar in dem behäbigen Kartäuser schlummerte ein Raubtier.

»Was ist los?«

»Nur der Kater.«

»Nimm eine Tablette!«

Norma lachte. »Dieser Kater kommt nicht vom Wein. Er stieg durch das Fenster.«

»Du hast eine Katze?«

»Nein, nicht ich, meine Vermieterin.«

»Was wolltest du mir über Arthur erzählen?«

»Lass uns später darüber reden. Bis nachher!«

Norma wollte sich um ihren Fuß kümmern. Auf dem Bettlaken zeigten sich die ersten Blutflecken. Leopold hockte mit angezogenen Pranken auf dem Schrank und schmollte. Auf dem Weg ins Bad fühlte sie sich von seinen Blicken verfolgt. Als sie wieder herauskam, erwartete er sie auf der Schwelle.

Sie bückte sich zu ihm herab. »Frieden?«

Er maunzte, was sie als Einverständnis deutete. Das Frühstück nahmen sie gemeinsam in der Küche ein. Sie hielt immer sein Lieblingsfutter bereit; das einzige Fleisch, das ihr als Vegetarierin in den Kühlschrank kam. Sie hatte mit 15 Jahren beschlossen, keine Tiere mehr zu essen, und damit die Mutter vor den Kopf gestoßen, die nicht akzeptieren wollte, dass die eigene Tochter den auf dem Hof produzierten Schweinebraten verschmähte. Ihr Bruder Folke, der den Betrieb gemeinsam mit der Mutter führte, zeigte ebenso wenig Verständnis.

Während Leopold seinen Napf ausschleckte, als hätte er seit Tagen gehungert – ein deutlicher Widerspruch zu seiner Linie – wollte sie Arthur anrufen, bekam über jeden Anschluss aber nur seine gespeicherte Stimme zu hören.

Das Rasierwasser fiel ihr ein. Von einer Kundin hatte er es bestimmt nicht bekommen. Deren Geschenke, die ihm hin und wieder aufgedrängt wurden, versenkte er gewöhnlich in den hintersten Schubladen seines Aktenschranks. Hatte er eine neue Liebe? Die Vorstellung weckte ihre Eifersucht; ein verschwendetes Gefühl, war sie doch diejenige gewesen, die die Trennung gewollt und herbeigeführt hatte.

Finde dich damit ab. Du bist gegangen. Und er ist dir keine Rechenschaft schuldig. In den vergangenen Wochen hatten sie oft tagelang nichts von einander gehört.

Es gab keinen Grund, sich Gedanken zu machen.

Genres and tags
Age restriction:
18+
Release date on Litres:
25 May 2021
Volume:
251 p. 3 illustrations
ISBN:
9783839233344
Publisher:
Copyright holder:
Автор
Download format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip