Palmer :Black Notice

Text
From the series: Palmer #1
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Palmer :Black Notice
Font:Smaller АаLarger Aa

Stephan Lake

Palmer :Black Notice

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

Impressum neobooks

1

Singapur, Südostasien

Leichtfüßig, federnde Schritte, so schnell wie die Menschen vor ihm und die Menschen hinter ihm. Mark Li war eins mit der Masse.

Unsichtbar.

Sein Blick schweifte rechts und links, manchmal drehte er auch den Kopf und schaute hinter sich. Dass sich niemand abwandte oder plötzlich stehen blieb und ihn anstarrte, registrierte er zufrieden. Touristen, Einheimische, die Geschäftsleute und die Expats, sie alle waren heute Abend sein Schutzschild.

Wieder zog Mark ein Taschentuch hervor, wischte wieder die Perlen von der Stirn, sah wieder auf die Uhr. Noch sechs Minuten bis zur verabredeten Zeit. Eine halbe Stunde zu Fuß durch die schwüle Hitze Singapurs – von seiner Wohnung quer durch den Botanischen Garten in die Orchard Road – und noch vier Minuten bis zum Treffpunkt. Zwei Minuten Puffer.

Perfektes Timing.

Wie in alten Zeiten.

Mark hätte ein Taxi nehmen können, aber er musste nachdenken und das konnte der Sechzigjährige am besten bei einem langen Spaziergang. Selbst heute, da es nicht um ein wissenschaftliches Thema ging und er auch nicht mit einem seiner Freunde zum Gedankenaustausch über die großen Probleme der Welt verabredet war. Was er durchaus bevorzugt hätte.

Es ging vielmehr um ein Thema, das Mark lange hinter sich glaubte.

Es ging ums Töten.

Mark erreichte das Straßencafé vor dem Wheelock Place, einem der belebtesten Plätze der ohnehin ständig überfüllten Orchard Road. Der Treffpunkt. Normalerweise mied er Cafés, die zu einer der großen Ketten gehörten; der Tee war meist schlecht, das Essen oft ungenießbar. Aber dieses Café bot den Schutz der Menschenmasse und zugleich den besten Überblick, und das war alles, was er heute brauchte.

Zunächst hatte sich der Anrufer gesträubt, ihn in der Öffentlichkeit zu treffen, aber Mark hatte ihn beruhigen können. Wo versteckte man am besten ein Sandkorn? Am Strand, natürlich. Und die Orchard Road am Abend war für einen Menschen wie der Strand für ein Sandkorn. Sie machte ihn unsichtbar.

Das Café war rundherum offen, mit Dach, aber ohne abtrennende Wände, ohne Fenster. Typisch für diese Stadt, in der es immer warm war und schwül. Die Vorhänge, tagsüber baumelten sie lose von der Decke und schützten vor Sonne oder Regen, waren jetzt hochgezogen; eine Klimaanlage und drei Ventilatoren an der Decke kühlten die Luft im Café und noch zwei Meter außerhalb auf dem breiten Gehsteig. Eine Energieverschwendung, wie sie auch typisch war für diese obszön reiche Stadt.

Das Café war gut besucht und das Publikum, wie Mark mit schnellem Blick erfasste, gemischt. Männer, Frauen, die meisten von ihnen Chinesen und Westler, dazu zwei Japaner in Anzügen, eine Gruppe Inder, hinten in der Ecke saßen drei vollverschleierte Frauen. Sie alle tranken und aßen und fingerten an ihren Telefonen und Tablets. Nur wenige unterhielten sich. Niemand achtete auf ihn.

Alles okay.

Fast.

Verschleierte Personen machten Mark unruhig seit jenem Tag vor nunmehr zwanzig ... nein, einundzwanzig Jahren bereits, mein Gott, die Zeit ... als eine verschleierte Frau unter ihrem Gewand eine Zweiundzwanziger mit Schalldämpfer hervorzog und auf ihn richtete.

 

Also ein zweiter Blick auf die verschleierten Frauen: Füllig unter ihren schwarzen Gewändern, die Hände mit Henna rot bemalt; unter dem Tisch alte Füße nackt in ausgelatschten Sandalen.

Nein, sie waren nichts anderes als alte, dicke, verschleierte Frauen.

Er würde keiner von ihnen in den Kopf schießen müssen, so wie damals.

„Ich kann mir alleine einen Sitzplatz suchen“, sagte Mark zu dem indischen Kellner neben dem Wait-to-be-seated-Schild am Eingang. Wählte einen Ecktisch, von dem er einen guten Blick auf die Straßen und den Wheelock Place hatte, setzte sich, überprüfte mit einer leichten Berührung seiner Hand den Sitz des Revolvers in seinem Gürtel, wischte sich ein weiteres Mal mit seinem Tuch über die Stirn, krempelte sorgfältig die Ärmel nach oben, vier Mal, bis knapp über die Ellbogen. Die verschwitzte Haut hob sich deutlich ab vom Weiß seines Hemdes.

Der Kellner kam, das dunkle Gesicht ohne jede Regung, legte eine Speisekarte auf den Tisch, wohl mit Absicht direkt neben den No-Smoking-Aufkleber und empfahl ihm unaufgefordert die gefüllten Nudeltaschen.

Mark schüttelte den Kopf. Billiges Fertigessen, tiefgefroren, in der Mikrowelle aufgewärmt? Er verlangte einen Jasmintee.

Der Kellner ging.

Minuten später stellte ihm eine junge Chinesin wortlos eine große Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel hin, daneben legte sie eine Handvoll Servietten. Mark warf ihr einen Blick zu. Er schätzte die junge Frau auf nicht älter als siebzehn, und sie schien ziemlich müde zu sein, denn ohne ihn anzusehen setzte sie sich wieder auf ihren Platz neben der Theke und schloss die Augen. Eine Studentin vielleicht, deren Familie nicht zu den Besserverdienenden gehörte; eine der vielen, die abends für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten, tagsüber studierten und dabei auf einen Sechzehnstundentag kamen. Vielleicht eine Studentin seiner Universität, vielleicht sogar eine seiner Studentinnen, die ihn vor lauter Müdigkeit nicht erkannt hatte.

Er musterte sie.

Vielleicht.

Der Anruf aus seiner Vergangenheit hatte ihn am Mittag erreicht, kaum, dass er nach der Vorlesung sein Büro betreten hatte. Seine Sekretärin hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt und gesagt, ein Mann wäre am Telefon und wünschte mit ihm zu sprechen.

„Ein Mann?“

Sie hatte mit ihren schmächtigen Schultern gezuckt.

„Wie heißt der Mann?“

„Er wollte mir seinen Namen nicht nennen.“

„Chinese?“

„Ja.“

„Hm.“

„Er ruft aus Hong Kong an, sagt er.“

„Aus Hong Kong?“

„Hong Kong.“

„Und er wollte seinen Namen nicht nennen?“

„Er wollte mir seinen Namen nicht nennen.“

Schnell hatte sich herausgestellt, wer der anonyme Anrufer war und ebenso schnell war klar, warum er seinen Namen nicht genannt hatte. Die Entscheidung, ob Mark ihm helfen wollte, hatte ihm der Anrufer abgenommen. Du schuldest mir das. Sie hatten gesprochen, dann hatte Mark seine Sekretärin angewiesen, alle Termine für die kommenden Tage abzusagen. Ihren fragenden Blick hatte er unbeantwortet gelassen.

Er hatte von seinem Konto eine größere Summe Bargeld abgehoben, war damit nach Chinatown gefahren und hatte das Geld deponiert. Dann war er nach Hause.

Beim Abendessen hatte er Linda von einem Anrufer berichtet, für den er in den nächsten Tagen einige Dinge tun musste. Die wenigen Einzelheiten, die er selbst kannte, auch den Namen des Anrufers, sparte er aus. Es gab keinen Grund, sie zu beunruhigen. Linda war seit fast fünfunddreißig Jahren seine Frau. Sie wusste von vielen Dingen, die er getan hatte, von noch mehr Dingen aber wusste sie nichts. Und Linda hatte gelernt, nicht zu fragen, sondern mit der Angst um sein Leben zurechtzukommen. Weil er es so von ihr verlangte.

„Wann sehen wir uns wieder?“

Er hatte den Revolver eingesteckt und nicht geantwortet. Er wusste es selbst nicht.

Mark drehte das Handgelenk. Seine Uhr zeigte zehn. Der Anrufer war spät. Er fischte den Teebeutel aus dem Glas, legte ihn, da er nicht wusste, wohin sonst, auf die Servietten, nippte an seinem Getränk, war überrascht und nippte erneut.

Musterte wieder die Menschen um ihn herum und draußen.

Er sah den Anrufer auf das Café zukommen.

2

Zwei Tische von Mark entfernt saß Carolin Yu vor einem Glas Latte Macchiato mit viel Schaum. In der Hand hielt sie ein Modemagazin, in das sie scheinbar vertieft war. Sie war zwei Stunden zuvor nach einem mehr als zwanzigstündigen Flug aus New York kommend in Singapur gelandet und auf direktem Weg vom Flughafen zu diesem Café gefahren. Ihre Zielperson wollte sich hier mit einem Mann namens Mark Li treffen. Li, so stand in dem Dossier ihrer Abteilung, war chinesischer Staatsbürger und ehemaliger Spion des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit. Und er war der ehemalige Chef ihrer Zielperson.

Carolin streckte ihren müden Rücken, nahm wieder ihr Telefon aus der Handtasche und guckte auf das Display und steckte es wieder ein.

Sie hatten sie für diese heikle Mission ausgesucht, weil sie drei besondere Eigenschaften besaß: Erstens fiel sie aufgrund ihrer Herkunft in Singapur nicht auf, zweitens sprach sie, wie ihre Zielperson, Mandarin und Kantonesisch. Und drittens – und als ihr Boss das sagte, war sie schon ein bisschen stolz – „bist du eine der verdammt besten Mitarbeiterinnen, die die amerikanische Heimatschutzbehörde je hatte“.

Ihr wurde gerade der zweite Latte serviert, da war Mark Li ins Café gekommen, hatte sich an den Ecktisch gesetzt, das Gesicht mit einem Tuch abgewischt, bestellt, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, an seinem Tee genippt. Schlank, drahtig, die gebräunte Haut nahezu faltenlos, schwarzes, volles Haar, nur wenig Grau. Li sah jünger aus als die sechzig Jahre, die er ihren Informationen nach war.

Obwohl seit fast neun Jahren Soziologieprofessor an einer der Universitäten der Stadt und ebenso lange nicht mehr aktiv, musste sie davon ausgehen, dass Mark immer noch Profi genug war, ihr den Job schwer zu machen. Für sie bedeutete das, vorsichtig zu sein und so zu tun, als ob sie sich für nichts auf dieser Welt interessierte außer für ihr Modemagazin und ihr Getränk.

Ihr fiel das nicht schwer. Sie hatte eine Schwäche für Latte Macchiato, die einzige Ausnahme in ihrer ansonsten kalorienarmen Diät, sie liebte Modemagazine, und sie war entspannt, wofür es einen guten Grund gab.

Denn wenn alles gut gegangen war, und daran zweifelte sie nicht, dann war ihre Zielperson bereits vor einer knappen Stunde festgenommen worden und saß jetzt in einem Flugzeug mit Kurs in ein Land, das keine Fragen stellte, wenn Agenten der Heimatschutzbehörde mit einem Gefangenen einreisten.

Li würde dann vergebens warten und nie erfahren, was ihre Zielperson erfahren hat.

Und sie, ja, sie könnte sich einen freien Tag in einer der schönsten Städte der Welt gönnen und vielleicht sogar das eine oder andere Kleidungsstück aus diesem Magazin anprobieren, das sie aus dem Flugzeug mitgebracht hatte. Sie wartete nur auf die Meldung ihrer Leute.

Und zum vierten Mal innerhalb der vergangenen Stunde guckte sie auf ihr Telefon. Und zum vierten Mal hatte sie keine Nachricht.

Was war los, verdammt?

Und dann unterlief ihr ein dummer, dummer Fehler.

Denn noch während sie ihr Telefon wieder einsteckte sah sie ihre Zielperson in das Café kommen.

Und Carolin Yu, eine der verdammt besten Mitarbeiterinnen von Homeland Security, konnte für einen kurzen Moment ihr Erstaunen nicht unterdrücken.

Mark hatte die Chinesin wahrgenommen, selbstverständlich. Dreißig Jahre alt, sehr schlank, elegant gekleidet mit einem Kostüm aus dunkelblauer Seide und passenden dunkelblauen Stiefeletten mit hohen Absätzen. Eine sehr attraktive Frau. Er hatte beobachtet, wie sie einen Kaffee bekam mit einer fast überquellenden Schaumkrone und ihr Mobiltelefon auf Nachrichten überprüfte und schließlich in einem Modeheft zu blättern begann und dabei gelegentlich ihren Rücken streckte, als wäre sie müde. Ihm war aufgefallen, dass sie zwar eine Handtasche und eine kleine Reisetasche, aber keine Einkaufstüte bei sich trug. Was ungewöhnlich war auf der Orchard Road, aber nicht so ungewöhnlich, dass er misstrauisch geworden wäre. Er hatte sie dann nicht weiter beachtet.

Bis zu dem Moment, als der Anrufer vom Morgen in das Café kam und er im Gesicht der Chinesin für einen Augenblick den vollendeten Ausdruck des Erstaunens sah.

3

„Măkè, nin hăo ma?“

Mark, wie geht es Ihnen?

Die Begrüßung nicht auf Kantonesisch sondern in seiner Muttersprache Mandarin und wie früher mit dem respektvollen ’nin’. Ein gutes Zeichen. Andrew Wang wollte offensichtlich seinen Respekt zeigen.

Mark stand auf. „Wo hen hăo, wo hen hăo, Āndélu. Nin bàba māma hăo ma?“

Mir geht es gut, mir geht es gut, Andrew. Wie geht es Ihrem Vater und Ihrer Mutter?

Wang streckte ihm die Hand hin und quittierte seine höfliche Frage nach den Eltern mit einem Kopfnicken. „Tāmen dōu hen hăo. Xièxie.“

Beiden geht es gut. Danke.

Mark griff die Hand seines früheren Mitarbeiters und drückte sie. Er spürte, wie Wang zuckte.

„Setz dich“, sagte Mark, auf den Stuhl gegenüber deutend. „Was trinkst du?“ Er winkte dem Kellner.

Wang verlangte einen Eiskaffee. Der Inder ging, ohne Wang die gefüllten Nudeltaschen zu empfehlen und brachte kurz darauf den Eiskaffee und ein Glas Wasser, von dem Wang sofort trank.

Mark schaute nach der jungen Kellnerin und sah sie immer noch schlafend auf ihrem Stuhl neben der Theke.

Die Chinesin mit der Reisetasche blätterte wieder in ihrem Heft.

„Es ist gut, dich zu sehen, Mark.“

Mark sah Wang an und nickte. „Dich auch.“

Wie Wang vor ihm saß, dünner als früher, fast mager, das Gesicht zerfurcht, die Augen tief in ihren Höhlen, der Kopf jetzt völlig kahl. Der Oberkörper gebeugt, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sein Handschlag war schwach gewesen wie der eines Kindes. Beim Trinken hatte das Glas gezittert.

„Wie geht es dir, Andrew?“

Wang zog ein Päckchen Zigaretten aus der einen Hosentasche, fingerte einen Stängel heraus, mühsam und umständlich, zog ein Feuerzeug aus der anderen Tasche. Erst nach mehreren Versuchen kam die Flamme. Dann lehnte er sich zurück und atmete tief den Rauch ein, legte Zigaretten und Feuerzeug nebeneinander auf den Tisch, deutete um sich und nickte, „Du hattest recht. Ein Sandkorn am Strand.“ Beugte sich dann nach vorne, „Hast du mir einen Unterschlupf besorgt?“

Mark nickte.

„Ist der Unterschlupf sicher?“

Lis Augenbraue zuckte nach oben.

Er sah Wang verlegen lächeln.

Neun Jahre hatten sie sich nicht gesehen, aber in diesem Moment fühlte sich Mark, als hätten sich diese neun Jahre nicht ereignet. Als hätte er in Wirklichkeit Hong Kong nie verlassen und würde, wie hunderte Male zuvor, nur ein weiteres Mal in einem der kleinen Straßenrestaurants auf Hong Kong Island sitzen oder in Kowloon. Und Wang würde ihm Informationen weitergeben und hätte dabei etwas Dummes gesagt oder etwas Selbstverständliches und wäre dafür von ihm mit einer hochgezogenen Augenbraue gerügt worden.

Mark sagte, „Es ist lange her, Andrew.“

„Zu lange“, sagte Wang.

Wie Wang beim Sprechen stoßweise Rauch aus Nase und Mund entwich, er hatte das noch nie ausstehen können. Mark fächelte mit der Hand und schüttelte den Kopf. „Nicht lange genug“, sagte er. „Freund?“

Wang nickte. „Freund.“

Mark nahm einen Schluck von seinem Tee. Wang hatte mit seiner Antwort nicht gezögert, das war gut. Aber mit Wang war etwas passiert, das war nicht zu übersehen. Wang schien an den alten Zeiten zu hängen, oder vielleicht wollte er ihn auch nur an seine Schuld erinnern.

Als ob er diese Erinnerung brauchte.

Aber er glaubte Wang, dass der ihn noch als Freund betrachtete. Er war sich nur nicht sicher, ob er Wang auch vertrauen konnte.

Er sagte, „Okay, Freund, dann erzähle mir, um was es geht und was du von mir willst.“

Und sah Wang den nächsten tiefen Zug nehmen. Asche fiel auf sein Hemd, seine Augen suchten den Tisch ab, kein Aschenbecher, aber sein Blick blieb für einen Moment auf dem No-Smoking-Aufkleber. Wang zog noch einmal und ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus. Wischte die Asche vom Tisch, trank von seinem Eiskaffee. Knetete dann seine Hand, die immer noch zitterte.

 

Was war bloß mit ihm los?

„Es geht um mein Leben, Mark. Es gibt Leute, die es mir nehmen wollen. Verstehst du? Mein Leben. Weil ich alles gesehen habe. Ich brauche deine Hilfe.“

„Was für Leute? Profis?“

„Profis, natürlich.“ Wang nickte. „Weshalb sonst wäre ich denn hier? Ich brauche deine Hilfe, Mark.“

„Und um was geht es? Was hast du gesehen?“

Er beobachtete, wie Wang nach den Zigaretten greifen wollte, sein Blick wieder auf den Aufkleber fiel und es dann ließ und damit begann, die andere Hand zu kneten. Dann antwortete Wang, so leise, dass Mark sich weit zu ihm hinüber beugen musste.

„Es geht um ... Es geht um Amerika. Amerika. Und um unschuldige Tote. Viele unschuldige Tote.“

Mark lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Er ließ seinen Blick schweifen.

Die Chinesin blätterte in ihrem Heft.

Er legte einen Geldschein auf den Tisch, beugte sich wieder nach vorne und sagte, ebenfalls leise, „Wir müssen gehen.“

Wang griff nach seinen Zigaretten. „Warum?“

„Wir sind keine Sandkörner mehr“, sagte Mark.

4

Zehntausend Meilen entfernt in der Bronx, New York City

Sein Gegner lächelte. Und zog ein Messer aus der Jacke.

„I’cut your head off, asshole.“

Fünfzehn Zentimeter Klinge, beidseitig geschliffen.

Ich schneide dir den Kopf ab, Arschloch.

Palmer stand still. Der Kerl hörte sich ernst an. Als ob er das wirklich so meinte. Dabei war Palmer nur nach New York gekommen, weil er Doc einen Gefallen tun wollte. Viel lieber wäre er vor seinem Trailer in der Wüste sitzen geblieben mit dem Becher Kaffee in der Hand, das Gesicht in die kalte Wintersonne gestreckt, der Blick in die Wüste.

Weites Land.

Palmer hatte bei dem Kerl auf Einsicht gehofft, auf eine unkomplizierte Einigung zwischen zwei Erwachsenen. Aber das kam dabei heraus, wenn er anderen einen Gefallen tat. Irgendwann stand jemand mit schlechter Laune und jugendlichem Starrsinn vor ihm. Und manchmal sogar mit einem Messer in der Hand. Obwohl, jetzt, in diesem Fall hatte Palmer eine Pistole erwartet. Berettas sind sehr verbreitet bei denen, Glocks auch. Sie konnten sich ihre Dienstwaffen aussuchen, oder?

Sein Gegner machte einen schweren Schritt über seine golden glitzernde Marke hinweg. City of New York Police. Das falsche Lächeln in dem feisten Gesicht verschwand. Der rechte Arm weit ausgestreckt, die harte Baumwolle der Jacke spannte über den massigen Schultern, die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger zeigte auf Palmer.

Jetzt noch drei Schritte entfernt.

Palmer stand immer noch still. Der rechte Fuß vorne, beide Ellbogen vor dem Körper, die Hände offen.

Bereit.

„Du kannst mein Angebot immer noch annehmen“, sagte er. Und meinte es. So, wie er alles meinte, was er sagte.

Der Cop machte einen zweiten Schritt, die Lippen jetzt zusammengepresst vor Wut und vor Schmerz. Sein linker Arm schlaff, gebrochen, aber er hatte Palmer angefasst, obwohl der ihm das verboten hatte. Dont touch. Was ist daran nicht zu verstehen? Nicht anfassen.

„Ich kann ja verstehen, dass du nicht bester Laune bist. Der gebrochene Arm und so? Aber du bist das selbst schuld. Das siehst du ein, nicht?“

Der Cop machte den dritten Schritt, schneller als die beiden zuvor, so schnell er konnte bei seiner Masse, aber immer noch zu langsam für Palmers Welt. Krümmte zugleich den Arm, um ihn im nächsten Moment wieder zu strecken.

Die Klinge würde Palmers Hals knapp oberhalb des Adamsapfels durchbohren.

Aber nicht heute.

Palmer wich zur Seite.

Der Cop streckte den Arm, die Klinge verfehlte ihr Ziel.

Mit beiden Händen zugleich packte Palmer das wulstige Handgelenk und drehte sich, eine halbe Drehung nur, der ausgestreckte Arm wich mit ihm zur Seite und weg aus der Richtung, in die der träge Körper noch unterwegs war. Der Cop verlor das Gleichgewicht, taumelte, balancierte für einen kurzen entscheidenden Moment seinen Körper auf dem rechten Bein.

Palmer trat das Bein unter ihm weg.

Hundert Kilogramm verteilt auf einen Meter neunzig klatschten auf den kalten Asphalt.

Palmer stand über ihm, weiter das Handgelenk haltend und streckte den Arm mit einem Ruck.

Die Hand öffnete sich, das Messer fiel heraus.

Noch bevor die Klinge den Boden berührte, ließ sich Palmer mit seinem Knie voran auf den Ellbogen fallen.

Achtzig Kilo und angewinkeltes Knie gegen ausgestreckten Ellbogen. Die Wirkung war furchtbar.

Der Ellbogen platzte mit dumpfem Knall auseinander, zugleich knickte der Unterarm nach oben. Der Cop? Stierte auf seinen Arm, der in die völlig falsche Richtung zeigte. Stumm, weil der Schmerz auf seinem Weg über das Rückenmark noch nicht im Gehirn angekommen war, und entsetzt, weil er zu verstehen begann, was gerade passierte.

Und immer noch hielt Palmer das Handgelenk mit beiden Händen, drehte jetzt den Unterarm nach rechts – das Gelenk knirschte – und nach links – das Gelenk knirschte wieder. Palmer spürte, wie die Bänder rissen.

Der Cop schrie auf.

Und er hatte allen Grund dazu.

Die Gelenkkapsel war zerrissen, die Bänder waren zerrissen, die Muskeln des Oberarmes und des Unterarmes waren vom Knochen abgerissen. Palmer wusste das. Er wusste es, weil es immer so war. In Hong Kong hatten sie ihm einen Namen gegeben.

Der Cop schrie weiter und sah Palmer weiter an, Tränen in den Augen. Vor Schmerz und Wut und weil ihm klar sein musste, was vor ihm lag: Krankenhaus, Operationen, Stahlschrauben. Monatelange Therapie. Die Gelenke würden vermutlich trotzdem versteifen, Muskeln und Bänder vermutlich nie wieder richtig funktionieren.

Palmer ließ nicht los, hielt weiter das Handgelenk mit beiden Händen und kniete weiter auf dem schlaffen Arm. Zwei gebrochene Arme bedeuteten nicht zwangsläufig, dass der Gegner aufgab. Es gab harte Kerle überall auf der Welt, und noch wusste Palmer nicht, ob der Cop ein harter Kerl war.

„Ich muss noch einmal fragen“, sagte Palmer, ehrlich erstaunt. „Hast du wirklich deine Waffe nicht eingesteckt? Typen wie du, ihr geht doch nie ohne Schießeisen vor die Tür. Ihr sitzt noch nicht mal unbewaffnet zuhause auf eurem Sofa und guckt ... was immer ihr guckt. Starsky and Hutch. Magnum P.I. The Rockford Files.“

Palmer mochte die Achtziger.

Der Cop sah hoch, schwer atmend, die Augen zuckten wild hin und her.

„Noch eine Frage“, sagte Palmer. „Ihr dürft euch aussuchen, was ihr als Dienstwaffe benutzt, oder? Ich meine, Beretta oder Glock? Sig? Vielleicht auch eine ganz andere, aber jedenfalls, ihr dürft euch aussuchen. Korrekt?“

Der Cop guckte immer noch. Speichel floss in Fäden aus seinem Mund und sammelte sich neben seinem Kopf auf dem Asphalt. Seine Lippen bewegten sich nicht.

„Okay, du hast keine Lust zu plaudern“, sagte Palmer, „kann ich verstehen. In deinem Zustand, huh? Dann übernehme ich mal. Das Reden, meine ich.“ Er sagte, „Du hast mein Angebot nicht angenommen. Deswegen liegst du jetzt hier auf dem Boden. Das ist kein Zufall, sondern da besteht ein ganz direkter Zusammenhang. Du verstehst das, ja?“

Der Cop guckte.

„Ich brauche jetzt eine Antwort“, sagte Palmer und drehte das Handgelenk. Nur leicht, einen halben Zentimeter. Der Cop stöhnte. „Du verstehst diesen Zusammenhang. Ja?“

Jetzt schloss der Cop die Augen und nickte.

„Du verstehst, das ist gut“, sagte Palmer. „Also, dann noch einmal von vorne: Du wirst deine Frau und deine Kinder in Ruhe lassen. Damit meine ich, du wirst ihnen nicht mehr folgen, sie nicht beschimpfen, sie nicht bedrohen. Du wirst sie nicht anrufen und ihnen keine Nachrichten schicken, und solltest du ihnen zufällig einmal auf der Straße begegnen, wechselst du die Seite und wirst sie nicht einmal ansehen.“ Er sagte, „Und das ist mein Angebot: Lässt du sie in Ruhe, dann lasse ich dich in Ruhe.“

Der Cop atmete schwer. Dann ein Nicken, die Augen geschlossen.

Palmer glaubte ihm nicht. Aber was konnte er jetzt noch tun?

„Sieh mich an.“

Der Cop gehorchte. Wieder zuckten seine Augen wild hin und her.

„Nutze diese Chance. Denn sollte ich zurückkommen müssen, werde ich dir den Kopf abreißen. Asshole.“ Er ließ das Handgelenk los und stand auf.

Der Cop lag zusammengekrümmt neben seinem Messer auf dem harten, kalten Asphalt vor seiner Lieblingsbar in der East Bronx in New York City. Fremde Leute würden ihn füttern und ihm den Hintern abwischen. Er würde kein Cop mehr sein. Sein Leben, wie er es kannte, war zu Ende.

Er begann zu wimmern.

Palmer fühlte nichts für den Cop. Irgendjemand würde ihn finden und sich um ihn kümmern.

Im Weggehen hörte Palmer, wie der Cop sich übergab.

Kein harter Kerl.