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Die Äbtissin von Castro

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Dieser Brief wurde mehrmals gelesen; nach und nach füllten sich Helenas Augen mit Tränen; sie betrachtete gerührt den prächtigen Strauß, dessen Blumen mit einem sehr feinen Seidenfaden gebunden waren. Sie versuchte eine der Blumen abzureißen, aber es gelang ihr nicht; dann ergriff sie Reue. Unter den jungen Mädchen Roms glaubte man, daß durch das Abreißen einer Blume oder durch irgendwelche Verstümmelung eines aus Liebe gegebenen Straußes diese Liebe selbst getötet würde. Sie fürchtete, daß Giulio ungeduldig werden möchte und lief zum Fenster; aber als sie dort war, fiel ihr plötzlich ein, daß sie zu sichtbar sei, da die Lampe das Zimmer mit Licht erfüllte. Helena wußte nicht mehr, welches Zeichen sie sich erlauben sollte; es schien ihr, daß es keins gab, das nicht viel zu viel sagte.

Beschämt lief sie wieder in ihr Zimmer zurück. Aber die Zeit verstrich und plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie in unaussprechliche Verwirrung stürzte: Giulio würde glauben, daß sie, wie ihr Vater, seine Armut verachtete! Sie erblickte ein kleines kostbares Marmorstück, das auf ihrem Tisch lag, band es in ihr Taschentuch und warf dies Taschentuch an den Fuß der Eiche hinunter, die gegenüber ihrem Fenster stand. Dann machte sie ihm Zeichen, daß er sich entfernen möge und hörte, daß Giulio gehorchte, denn im Weggehen suchte er nicht mehr den Schall seiner Schritte zu dämpfen. Als er die Höhe des Felsengürtels erreicht hatte, welcher den See von den letzten Häusern von Albano trennt, hörte sie ihn Worte der Liebe singen; sie winkte ihm Abschied, diesmal weniger schüchtern, dann begab sie sich an seinen Brief, um ihn wiederzulesen.

Am nächsten Tag und auch an den folgenden, gab es Briefe und ähnliche Zusammenkünfte; aber wie in einem italienischen Dorf alles bemerkt wird, noch dazu Helena weitaus die reichste Partie des Landes war, wurde Herr von Campireali aufmerksam gemacht, daß man jeden Abend nach Mitternacht im Zimmer seiner Tochter Licht sehe, und was noch viel merkwürdiger sei, daß das Fenster offen wäre und Helena dahinter stünde, als kenne sie gar keine Furcht vor den Zanzare, jenen unangenehmen Stechmücken, welche die schönen Abende in der römischen Campagna ganz verderben. Jetzt muß ich wieder um die Nachsicht des Lesers ersuchen. Wenn man Lust hat, die Gebräuche fremder Länder zu kennen, muß man sich auf ganz abgeschmackte, von den unsrigen ganz verschiedene Anschauungen gefaßt machen.

Herr von Campireali brachte seine Flinte und die seines Sohnes in Ordnung. Abends, als es 3/4 12 Uhr schlug, verständigte er Fabio, und alle beide schlichen, so leise wie möglich, auf einen großen steinernen Balkon, der sich im ersten Stock des Palastes gerade unter Helenas Fenster befand. Die starken Pfeiler der Steinbalustrade deckten sie bis zum Gürtel gegen Flintenschüsse, die man von außen gegen sie abfeuern könnte. Es schlug Mitternacht; Vater und Sohn hörten unter den Bäumen, die ihrem Palast gegenüber am Rand der Straße standen, ein leichtes Geräusch; aber zu ihrem Erstaunen erschien kein Licht an Helenas Fenster. Dieses Mädchen das bisher so arglos war und in der Lebhaftigkeit seiner Bewegungen ein Kind zu sein schien, hatte einen anderen Charakter bekommen, seit es liebte. Sie wußte, daß die geringste Unvorsichtigkeit das Leben ihres Geliebten gefährdete; wenn ein Herr vom Ansehen ihres Vaters einen so armen Menschen wie Giulio Branciforte tötete, würde er jeder Strafe ledig gehen, so er nur für drei Monate nach Neapel verschwindet. Während dieser Zeit würden seine Freunde in Rom die Angelegenheit ordnen und alles wäre mit der Stiftung einer Silberlampe und einiger hundert Taler für den Altar der Madonna, die gerade in Mode war, erledigt. Morgens beim Frühstück hatte Helena in den Zügen ihres Vaters erkannt, daß er sehr aufgebracht war, und aus der Art, wie er sie ansah, wenn er sich unbemerkt glaubte, schloß sie, daß dieser Zorn zum großen Teil ihr galt. Alsbald machte sie sich daran, ein wenig Staub auf die Schäfte der fünf prächtigen Flinten, die über dem Bett ihres Vaters hingen, zu streuen. Sie bedeckte auch seine Degen und Dolche mit einer leichten Staubschicht. Den ganzen Tag trug sie eine tolle Ausgelassenheit zur Schau: sie durcheilte unaufhörlich das Haus von oben bis unten und alle Augenblicke näherte sie sich den Fenstern, fest entschlossen, Giulio ein abmahnendes Zeichen zu geben, wenn sie das Glück hätte, ihn zu bemerken. Aber der arme Junge war durch den Verweis des reichen Campireali so tief gedemütigt worden, daß er sich niemals bei Tage in Albano zeigte; nur Sonntags führte ihn die Pflicht zur Messe. Helenas Mutter, die sie anbetete und ihr nichts abzuschlagen wußte, ging dreimal an diesem Tage mit ihr fort, aber es war vergeblich; Helena sah nichts von Giulio. Sie war in Verzweiflung. Wie wurde ihr erst, als sie am Abend die Waffen ihres Vaters wieder musterte und sah, daß zwei Flinten geladen und fast alle Dolche und Degen in der Hand erprobt worden waren! Sie wurde von ihrer tödlichen Unruhe nur durch die außerordentliche Anspannung abgelenkt, die sie beobachten mußte, um nicht verdächtig zu erscheinen. Als sie sich um zehn Uhr abends endlich zurückziehen konnte, verschloß sie ihr Zimmer, welches auf das Vorzimmer ihrer Mutter hinausging; dann kauerte sie sich dicht beim Fenster auf den Boden nieder, um nicht von draußen bemerkt zu werden. Man stelle sich die Angst vor, mit welcher sie die Stunden schlagen hörte: es war nicht mehr die Rede von den Vorwürfen, welche sie sich oft machte, sich Giulio zu schnell gegeben zu haben, was sie in Giulios Augen vielleicht weniger liebenswürdig erscheinen lassen könnte. Dieser Tag brachte die Sache des jungen Mannes weiter, als sechs Monate Treue und Beteuerungen. ‚Wozu lügen?‘ sagte sich Helena, ‚liebe ich ihn nicht mit ganzer Seele?‘

Um halb zwölf Uhr sah sie ganz deutlich ihren Vater und ihren Bruder auf dem großen Steinbalkon unter ihrem Fenster Stellung fassen. Zwei Minuten, nachdem es am Kapuzinerkloster Mitternacht geschlagen hatte, hörte sie gleichfalls sehr gut die Schritte ihres Geliebten, der bei der großen Eiche anhielt; sie bemerkte mit Freude, daß ihr Vater und ihr Bruder nichts gehört zu haben schienen: es erforderte die Angst der Liebe, um ein so leichtes Geräusch zu unterscheiden. ‚Jetzt‘, sagte sie sich, ‚werden sie mich töten, aber um keinen Preis dürfen sie den Brief von heute Abend bekommen; sie würden diesen armen Giulio auf ewig verfolgen,‘ Sie machte das Zeichen des Kreuzes und indem sie sich mit einer Hand am Eisenbalkon ihres Fensters festhielt, beugte sie sich so weit wie möglich zur Straße hinaus. Nicht eine Viertelminute war verstrichen, als der Strauß, der wie gewöhnlich an dem langen Rohr befestigt war, ihren Arm berührte. Sie ergriff den Strauß, allein als sie ihn schnell von der äußersten Spitze des Rohrs, auf der er befestigt war, abreißen wollte, geschah es, daß dieses Rohr gegen den Steinbalkon anschlug. Im gleichen Augenblick lösten sich zwei Flintenschüsse, auf die völlige Stille folgte. Ihr Bruder Fabio, ungewiß in der Dunkelheit vermutend, es sei, was heftig gegen den Balkon schlug, ein Seil, mit dessen Hilfe Giulio von seiner Schwester herabsteige, hatte gegen ihren Balkon Feuer gegeben; am nächsten Morgen fand sie den Eindruck der Kugel, welche sich auf dem Eisen breitgeschlagen hatte. Herr von Campireali hatte auf die Straße gezielt; gerade unter den Steinbalkon, weil Giulio beim Zurückziehen des Rohrs, das beinahe gefallen wäre, etwas Geräusch gemacht hatte. Als Giulio das Geräusch über seinem Kopfe hörte, erriet er, was folgen würde und hatte sich unter dem Vorsprung des Balkons gedeckt.

Fabio lud schnell seine Flinte von neuem und lief, ungeachtet der Vorstellungen seines Vaters, in den Garten des Hauses; öffnete geräuschlos eine kleine Tür, die auf eine Seitenstraße führte, und schlich sich heran, um die Leute, welche unter dem Balkon des Hauses vorbeigingen, ein wenig zu mustern. In diesem Augenblick befand sich Giulio, der an diesem Abend nicht allein war, zwanzig Schritt entfernt an einen Baum gelehnt. Helena, die über ihren Balkon gebeugt um ihren Geliebten zitterte, begann alsbald sehr laut mit ihrem Bruder, den sie auf der Straße hörte, zu sprechen; sie fragte ihn, ob er die Diebe getötet habe.

„Glaub nicht, daß ich mich durch deine schändliche List täuschen lasse,“ schrie dieser ihr von der Straße aus zu, welche er in allen Richtungen durchmaß, „aber halte deine Tränen bereit, denn ich werde den Unverschämten, töten, der es wagt, sich deinem Fenster zu nähern.“

Kaum waren diese Worte gesprochen, als Helena hörte, wie ihre Mutter an die Tür ihres Zimmers klopfte.

Helena beeilte sich, ihr zu öffnen, indem sie sagte, daß es ihr unbegreiflich wäre, daß die Türe verschlossen sei.

„Keine Komödie, teures Kind,“ sagte ihre Mutter, „dein Vater ist wütend und kann dich vielleicht töten: komm zu mir in mein Bett, und wenn du einen Brief hast, gib ihn mir, ich werde ihn verstecken.

Helena sagte ihr:

„Hier ist der Strauß, der Brief ist zwischen den Blumen versteckt.“

Kaum waren Mutter und Tochter im Bett, als Herr Campireali ins Zimmer seiner Frau eintrat; er kam aus ihrem Betgemach, das er soeben durchgestöbert und wo er alles durcheinandergeworfen hatte. Was Helena auffiel, war, daß ihr Vater, blaß wie ein Gespenst, mit Bedacht zu Wege ging, wie jemand, der seinen Entschluß wohl erwogen hat. ‚Ich bin tot!‘ sagte sich Helena.

„Wir sind glücklich, Kinder zu haben,“ sagte ihr Vater, als er zitternd vor Wut, aber den Schein vollkommener Kaltblütigkeit wahrend, am Bett seiner Frau vorbei in das Zimmer seiner Tochter ging; „wir sind glücklich, Kinder zu haben, statt dessen sollten wir lieber blutige Tränen vergießen, wenn diese Kinder Mädchen sind. Großer Gott! Ist es wohl möglich! Ihre Leichtfertigkeit kann einem Mann, der seit sechzig Jahren nicht den mindesten Vorwurf auf sich geladen hat, die Ehre rauben.“

Bei diesen Worten ging er ins Zimmer seiner Tochter.

 

„Ich bin verloren,“ sagte Helena zu ihrer Mutter, „die Briefe sind unter dem Sockel des Kruzifixes neben dem Fenster.“

Sogleich sprang ihre Mutter aus dem Bett und rannte zu ihrem Manne. Sie begann ihm so schlecht wie nur möglich Vernunft zuzusprechen, um seinen Zorn zum Ausbruch zu bringen, und es gelang ihr vollkommen. Der alte Mann wurde wütend, er zerschlug alles im Zimmer seiner Tochter; aber die Mutter konnte unbemerkt die Briefe an sich nehmen. Eine Stunde später, als Herr Campireali wieder in sein Zimmer zurückgekehrt war, das neben dem seiner Frau lag und im ganzen Haus Ruhe herrschte, sagte die Mutter zu ihrer Tochter:

„Hier sind deine Briefe, ich will sie nicht lesen; du siehst, was sie uns beinah gekostet hätten! An deiner Stelle würde ich sie verbrennen. Leb wohl und küsse mich.“

Helena ging, aufgelöst in Tränen, in ihr Zimmer zurück. Es schien ihr, daß sie seit den Worten ihrer Mutter Giulio nicht mehr liebte. Dann machte sie sich daran, seine Briefe zu verbrennen; aber sie mußte sie noch einmal lesen, bevor sie sie vernichtete. Sie las sie so oft und so gründlich, daß die Sonne schon hoch am Himmel stand, als sie sich endlich entschloß, den heilsamen Rat zu befolgen.

Am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, ging Helena mit ihrer Mutter zur Messe; zum Glück folgte ihr Vater ihnen nicht. Der erste Mensch, den sie in der Kirche bemerkte, war Giulio Branciforte. Mit einem Blick überzeugte sie sich, daß er nicht verletzt war. Ihr Glück war am Gipfel. Die Ereignisse der letzten Wochen lagen tausend Meilen zurück. Sie hatte sich fünf oder sechs mit Bleistift beschriebene Billets vorbereitet, aus alten, mit feuchter Erde beschmutzten Papierfetzen, wie man sie auf den Fliesen einer Kirche finden kann; diese Billets enthielten alle die gleiche Warnung:

‚Sie hätten alles entdeckt, bis auf seinen Namen. Er möge nicht mehr in der Straße erscheinen; man werde oft hierherkommen.‘

Helena ließ eins dieser Zettelchen fallen: ein Blick belehrte Giulio, der es aufhob und verschwand. Als sie eine Stunde später nach Haus zurückkehrte, fand sie auf der großen Treppe des Palastes einen Papierfetzen, der dadurch ihren Blick auf sich zog, daß er vollkommen denen glich, deren sie sich selbst am Morgen bedient hatte.

Sie griff danach, ohne daß selbst ihre Mutter es bemerkte und las:

„In drei Tagen wird er von Rom zurückkehren, wohin zu gehen er gezwungen ist. Man wird am hellen Tage singen, an den Markttagen, mitten im Lärm der Bauern.“

Diese Abreise nach Rom erschien Helena sonderbar. ‚Fürchtet er die Flintenschüsse meines Bruders?‘ sagte sie sich traurig. Die Liebe verzeiht alles, nur nicht die freiwillige Abwesenheit. Dies ist die schlimmste aller Qualen. Anstatt sich süßen Träumen zu ergeben und ganz damit beschäftigt zu sein, alle Gründe zu erwägen, die man hat, um seinen Geliebten zu lieben, ist das Leben von grausamen Zweifeln beunruhigt. ‚Aber kann ich denn nach allem, was geschehen ist, glauben, daß er mich nicht mehr liebt?‘ sagte sich Helena während der drei langen Tage, die Brancifortes Abwesenheit dauerte. Plötzlich wich ihr Kummer einer unsinnigen Freude: am dritten Tage sah sie ihn am hellen Mittag auf der Straße vor dem Palast ihres Vaters erscheinen. Er trug neue und fast prächtige Gewänder. Niemals waren die Vornehmheit seiner Haltung und die heitere und mutige Unbekümmertheit seines Antlitzes vorteilhafter hervorgetreten; nie allerdings hatte man auch vor diesem Tage so oft in Albano von der Armut Giulios gesprochen. Es waren die Männer und besonders die jungen Leute, welche dieses grausame Wort wiederholten; die Frauen und vor allem die jungen Mädchen konnten sich in Lobeserhebungen über seine gute Erscheinung nicht genug tun.

Giulio verbrachte den ganzen Tag damit, in der Stadt umherzuschlendern; es machte den Eindruck, als ob er sich für die Monate der Haft, zu der ihn seine Armut verdammt hatte, entschädigen wollte. Wie es einem Verliebten zukommt, war Giulio unter seinem neuen Rock gut bewaffnet. Außer seinem Degen und seinem Dolch hatte er sein giacco angelegt, eine Art Weste aus geflochtenem Draht, welche sehr unbequem zu tragen war, jedoch diese italienischen Herzen von einer traurigen Krankheit heilte, deren peinliche Anfälle man in jenem Jahrhundert unaufhörlich erleben konnte; ich spreche von der Furcht, an einer Straßenbiegung durch einen seiner wohlbekannten Feinde getötet zu werden. An diesem Tage hoffte Giulio Helena zu begegnen; übrigens hatte er auch einen gewissen Widerwillen, mit sich allein in seinem einsamen Haus zu sein. Hier der Grund: Ranuccio, ein alter Soldat seines Vaters, der unter diesem schon zehn Feldzüge in den Truppen verschiedener Bandenführer und zuletzt des Marco Sciarra mitgemacht hatte, war seinem Hauptmann gefolgt, als dessen Wunden ihn zwangen, sich zurückzuziehen. Hauptmann Branciforte hatte seine Gründe, nicht in Rom zu leben; er hätte dort die Söhne von Männern treffen können, die er getötet hatte; selbst in Albano sorgte er vor, daß er nicht nur auf die Gnade der regulären Autorität angewiesen sei. Anstatt ein Haus in der Stadt zu kaufen oder zu mieten, zog er es vor, eins zu bauen, das so gelegen war, daß man seine Besucher schon von weitem zu sehen vermochte. Er fand in den Ruinen von Alba einen wundervollen Platz: man konnte von dort, ohne von indiskreten Besuchern bemerkt zu werden, sich in den Wald zurückziehen, wo sein alter Freund und Herr, der Fürst Fabrizio Colonna herrschte. Hauptmann Branciforte kümmerte die Zukunft seines Sohnes wenig. Als er sich, erst fünfzig Jahre alt, aber besät mit Wunden, vom Dienst zurückzog, nahm er an, daß er noch zehn Jahre leben werde, und verbrauchte, nachdem sein Haus gebaut war, jeden Tag den zehnten Teil dessen, was er aus den Plünderungen von Städten und Dörfern zusammengerafft, und denen beizuwohnen er die Ehre gehabt hatte.

Er kaufte den Weinberg, der jetzt seinem Sohn dreißig Taler Rente trug, als Antwort auf den schlechten Scherz eines Bürgers von Albano, der ihm eines Tages, da er erregt über die Interessen und die Ehre der Stadt disputierte, zurief, daß es in der Tat einem so reichen Grundbesitzer, wie er einer sei, wohl zustehe, den Eingesessenen Albanos Ratschläge zu erteilen. Der Hauptmann kaufte den Weinberg und kündigte an, daß er noch viele andre kaufen werde; später, als er den Spötter an einem einsamen Ort traf, tötete er ihn mit einem Pistolenschuß.

Nach acht Jahren dieser Art des Lebens starb der Hauptmann; sein Adjutant Ranuccio betete Giulio an; trotzdem nahm er, des Nichtstuns müde, wieder Dienst in der Truppe des Fürsten Colonna. Oft besuchte er seinen Sohn Giulio, wie er ihn nannte, und am Vorabend eines gefährlichen Angriffs, den der Fürst in seiner Feste Petrella aushalten mußte, hatte er Giulio mit zum Kampf genommen. Da er ihn sehr tapfer fand, sagte er:

„Du mußt wirklich toll und außerdem recht einfältig sein, daß du bei Albano wie der letzte und ärmste seiner Einwohner lebst, während du mit deinem Mut und dem Namen deines Vaters ein glänzender Soldat sein und dein Glück machen könntest.“

Giulio wurde durch diese Worte gequält; ein Priester hatte ihn Latein gelehrt; aber da sein Vater über alles, was der Priester sonst noch sagte, nur zu spotten pflegte, hatte er außer dem nicht das geringste gelernt. Dafür hatte sich bei ihm, der wegen seiner Armut verachtet und in seinem einsamen Haus ganz auf sich selbst angewiesen war, ein gesunder Menschenverstand entwickelt, welcher durch seine gewagte Kühnheit selbst Gelehrte in Erstaunen gesetzt hätte. Zum Beispiel schwärmte er, bevor er Helena liebte, ganz ohne zu wissen, warum, für den Krieg; aber er hatte einen Widerwillen gegen das Plündern, das doch in den Augen seines Vaters und Ranuccios der kleinen lustigen Komödie glich, die auf die edle ernste Tragödie folgt. Seit er Helena liebte, ließ ihn dieser gesunde Scharfblick, den er sich durch seine einsamen Überlegungen angeeignet hatte, Qualen erleiden. Diese früher so sorglose Seele wagte niemanden wegen ihrer Zweifel um Rat zu fragen und war von Leidenschaft und Unglück erfüllt. Was würde Herr von Campireali nicht alles sagen, wenn er Brigant würde? Dann erst würde er ihm begründete Vorwürfe machen können. Giulio hatte sich immer den Soldatenberuf als eine Sicherung für die Zeit aufgehoben, wo er den Erlös der goldenen Ketten und andren Kostbarkeiten ausgegeben haben würde, die er in der eisernen Kasse seines Vaters gefunden hatte. Giulio hatte trotz seiner Armut gar keinen Skrupel, die Tochter des reichen Herrn Campireali zu entführen, weil zu jener Zeit die Väter ganz nach ihrem Belieben über ihr Gut verfügten, und sehr leicht war es möglich, daß Herr von Campireali seiner Tochter nur tausend Taler als einziges Erbe hinterließ. Aber ein andres beschäftigte die Einbildungskraft Giulios aufs tiefste: erstens: in welcher Stadt würde er die junge Helena unterbringen, wenn er sie ihrem Vater entführt und geheiratet hatte; zweitens: mit welchem Geld würde er sie leben lassen?

Als ihm Herr Campireali den beißenden Tadel versetzte, der ihn so empfindlich traf, war Giulio zwei Tage hindurch die Beute der Wut und des heftigsten Schmerzes: er konnte sich weder entschließen, den alten Mann zu töten, noch ihn leben zu lassen. Er verbrachte ganze Nächte weinend; endlich entschloß er sich, Ranuccio zu befragen, den einzigen Freund, den er auf der Welt hatte; aber würde dieser Freund ihn verstehen? Vergeblich suchte er im ganzen Wald von La Faggiola nach Ranuccio; er mußte auf der Straße von Neapel noch über Velletri hinaus gehen, wo Ranuccio einen im Hinterhalt liegenden Trupp befehligte. Er lauerte dort mit einer zahlreichen Schar auf den spanischen General Ruiz d'Avalis, welcher zu Land nach Rom reiste, ohne daran zu denken, daß er kürzlich vor vielen Leuten mit Verachtung von den Briganten des Colonna gesprochen hatte. Sein Feldprediger erinnerte ihn gerade noch zur rechten Zeit an diese kleine Begebenheit, und Ruiz d'Avalis zog es vor, ein Schiff rüsten zu lassen und übers Meer nach Rom zu reisen.

Als der Hauptmann Ranuccio Giulios Erzählung gehört hatte, sagte er ihm:

„Beschreibe mir genau diesen Herrn Campireali, damit seine Unklugheit nicht irgend einem guten Bürger Albanos das Leben kostet. Sobald die Sache, die uns hier zurückhält, beendet ist, sei es gut oder schlecht, wirst du dich nach Rom begeben und darauf bedacht sein, dich zu allen Tageszeiten in Gastwirtschaften und an andren öffentlichen Orten zu zeigen, denn man darf nicht, wegen deiner Liebe zur Tochter, gegen dich Verdacht schöpfen können.“

Giulio hatte große Mühe, den Zorn des alten Gefährten seines Vaters zu beruhigen. Es blieb ihm nichts übrig, als ärgerlich zu werden:

„Glaubst du, daß ich deinen Degen brauche?“ sagte er endlich. „Man sollte meinen, daß ich selbst einen besitze! Ich wünsche einen verständigen Rat von dir.“

Ranuccio schloß die ganze Auseinandersetzung mit den Worten:

„Du bist jung, du hast keine Wunde, die Beleidigung war öffentlich; nun, ein entehrter Mann ist selbst bei den Frauen verachtet.“

Giulio sagte ihm, daß er mit sich noch darüber zu Rate gehen wolle, wonach ihn gelegentlich verlange, und trotz des Drängens Ranuccios, der durchaus darauf beharrte, daß er an dem Überfall auf den spanischen General teilnehmen möge – wobei man, wie er sagte, Ehren erlangen könne, ganz abgesehen von den Dublonen – kehrte er allein in sein Haus zurück. Dort hatte er am Abend vor dem Tage, wo Herr von Campireali auf ihn schoß, Ranuccio und seinen Korporal empfangen, die auf dem Rückweg aus der Gegend von Velletri waren. Ranuccio hatte Mühe, die kleine eiserne Truhe zu sehen, wo sein Herr, der Hauptmann Branciforte, ehemals die goldenen Ketten und andre Schmucksachen einschloß, wenn es ihm nicht paßte, gleich nach der Expedition ihren Erlös auszuheben. Ranuccio fand zwei Scudi darin.

„Ich rate dir, werde Mönch,“ sagte er zu Giulio, „du hast alle Tugenden dazu: die Liebe zur Armut, den Beweis haben wir vor Augen; die Demut: du läßt dich auf offener Straße von einem Geldsack aus Albano beschimpfen. Nun fehlen dir bloß noch die Heuchelei und der Bauch.“

Ranuccio legte mit Gewalt fünfzig Dublonen in die eiserne Truhe.

„Ich gebe dir mein Wort,“ sagte er zu Giulio, „wenn binnen eines Monats dieser Herr Campireali nicht mit allen Ehren, die seiner Vornehmheit und seinem Reichtum gebühren, eingescharrt ist, wird mein Korporal, so wahr er hier steht, mit dreißig Mann deine Hütte zerstören und deine armseligen Möbel verbrennen. Es darf nicht sein, daß der Sohn des Hauptmann Branciforte unter dem Vorwand der Liebe eine schlechte Figur in der Welt macht.“

Als Herr von Campireali und sein Sohn die beiden Schüsse abfeuerten, hatten Ranuccio und der Korporal unter dem Steinbalkon Stellung genommen und Giulio hatte die größte Mühe, sie zu verhindern, Fabio zu töten oder mindestens zu entführen, als dieser unvorsichtig aus dem Garten trat, wie wir schon erzählt haben. Die Erwägung, welche Ranuccio beruhigte, war folgende: man soll nicht einen jungen Mann, der noch etwas werden und sich nützlich machen kann, töten, während ein alter Sünder dabei ist, mit mehr Schuld und zu nichts mehr gut als zum Begraben werden.

 

Am Morgen nach diesem Abenteuer schlug sich Ranuccio in die Wälder und Giulio reiste nach Rom. Die Freude darüber, daß er sich mit den von Ranuccio geschenkten Dublonen schöne Gewänder kaufen könnte, war durch einen in seinem Jahrhundert ganz ungewöhnlichen Gedanken grausam getrübt, der die hohe Bestimmung ahnen ließ, zu der er später gelangte. Er sagte sich: ‚Helena muß wissen, wer ich bin.‘ Jeder andre junge Mann seines Alters und seiner Zeit hätte nur davon geträumt, sich seiner Liebe zu erfreuen und Helena zu entführen, ohne im geringsten daran zu denken, was in sechs Monaten aus ihr werden würde, und ebensowenig, welche Meinung sie von ihm hegen könnte.

Nach Albano zurückgekehrt, erfuhr Giulio durch seinen Freund, den alten Scotti, am gleichen Nachmittag, da er vor aller Augen in seinen schönen, aus Rom mitgebrachten Gewändern glänzte, daß Fabio zu Pferde die Stadt verlassen habe, um nach einem drei Meilen entfernten Gut zu reiten, das sein Vater in der Ebene an der Küste besaß.

Später sah er, wie Herr Campireali in Begleitung von zwei Priestern den Weg durch die prächtige grüne Eichenallee einschlug, welche den Rand des Kraters krönt, auf dessen Grund der See von Albano liegt. Zehn Minuten danach drang eine alte Frau dreist in den Palazzo Campireali ein, unter dem Vorwand, schöne Früchte zu verkaufen; die erste Person, die sie traf, war die kleine Kammerzofe Marietta, die intime Vertraute ihrer Herrin Helena. Diese errötete bis ins Weiße der Augen, als sie einen schönen Blumenstrauß empfing. Der in diesem Strauß verborgene Brief war unermeßlich lang: Giulio erzählte alles, was er seit der Nacht der Flintenschüsse erlebt hatte; aber aus einer eigentümlichen Scham heraus wagte er nicht, das, worauf jeder andre junge Mann seiner Zeit stolz gewesen wäre, zu gestehen: daß er der Sohn eines durch seine Abenteuer berühmten Kapitäns war und selbst bereits in mehr als einem Kampf durch seine Tapferkeit erprobt. Er glaubte stets die Betrachtungen zu hören, welche diese Tatsachen dem alten Campireali eingeben würden. Man muß wissen, daß im sechzehnten Jahrhundert die Mädchen – einer gesunden republikanischen Vernunft näher als heute – einen Mann viel mehr seiner Taten wegen schätzten, als wegen der zusammengescharrten Reichtümer oder der berühmten Taten seiner Väter. Aber es waren hauptsächlich die jungen Mädchen aus dem Volk, welche diese Anschauung hatten; die den reichen Klassen oder dem Adel angehörten, hatten Angst vor den Briganten und hielten, wie es sich schließlich versteht, Adel und Reichtum in hoher Achtung. Giulio schloß seinen Brief mit folgenden Worten: „Ich weiß nicht, ob die gefälligen Gewänder, die ich aus Rom gebracht habe, Euch die grausame Beleidigung vergessen ließen, die mir kürzlich jemand wegen meines armsäligen Äußern zugefügt hat, den Ihr verehrt; ich hatte die Möglichkeit, mich schützen zu können, ich hätte es tun müssen, meine Ehre verlangte es: ich habe es wegen der Tränen nicht getan, welche meine Rache Augen gekostet hätte, die ich anbete. Dies kann Euch beweisen, wenn Ihr zu meinem Unglück noch daran zweifeln solltet, daß man sehr arm sein und doch edle Gefühle haben kann. Außerdem muß ich Euch ein schreckliches Geheimnis enthüllen; es würde mir sicher nicht schwer werden, es jeder andren Frau zu sagen; aber ich weiß nicht, warum: ich zittre, wenn ich daran denke, es Euch zu bekennen. Es könnte in einem Augenblick die Liebe, die Ihr zu mir fühlt, zerstören; keine Versicherung von Eurer Seite würde mir genügen. Ich will in Euren Augen die Wirkung lesen, welche dieses Geständnis hervorruft. An einem der nächsten Tage werde ich Euch bei Anbruch der Nacht im Garten hinter dem Palast sehen. Am gleichen Tag werden Fabio und Euer Vater abwesend sein: sobald ich mir die Gewißheit verschafft haben werde, daß sie, trotz ihrer Geringschätzung für einen armen schlecht gekleideten jungen Mann, uns nicht dreiviertel Stunden oder eine Stunde des Beisammenseins zu rauben vermögen, wird vor den Fenstern Eures Palastes ein Mann erscheinen, der den Dorfkindern einen zahmen Fuchs vorführen wird. Später, beim Läuten des Ave Maria, werdet Ihr in der Ferne einen Flintenschuß hören; in diesem Augenblick nähert Euch der Mauer Eures Gartens und wenn Ihr nicht allein seid, singt. Herrscht Schweigen, wird Euer Sklave zitternd vor Euren Füßen erscheinen und Euch Dinge erzählen, die Euch vielleicht entsetzen werden. In Erwartung dieses für mich entscheidenden und schrecklichen Tages, werde ich nicht mehr versuchen, Euch um Mitternacht einen Strauß zu überreichen; aber gegen zwei Uhr nachts werde ich singend vorübergehen und vielleicht werdet Ihr vom großen Steinbalkon eine Blume fallen lassen, die von Euch aus Eurem Garten gepflückt wurde. Dies sind vielleicht die letzten Zeichen der Neigung, die Ihr dem unglücklichen Giulio geben werdet.“

Drei Tage später waren Helenas Vater und Bruder auf das Gut geritten, das sie am Ufer des Meeres besaßen; sie mußten etwas vor Sonnenuntergang fortreiten, um gegen zwei Uhr nachts wieder zu Hause zu sein. Aber, als sie den Heimritt antreten wollten, waren nicht nur ihre beiden Pferde, sondern alle, die noch in der Farm waren, verschwunden. Sehr erstaunt über diesen kühnen Diebstahl suchten sie nach ihren Pferden, die aber erst am nächsten Tag im Hochwald, der ans Meer grenzt, gefunden wurden. Die beiden Campireali, Vater und Sohn, waren genötigt, in einem von Ochsen gezogenen Landfuhrwerk nach Albano zurückzukehren.

Als an diesem Abend Giulio vor Helena kniete, war es beinahe völlig dunkel, und das arme Mädchen war sehr glücklich über diese Finsternis: sie stand zum ersten Male vor dem Mann, den sie zärtlich liebte, der das sehr wohl wußte, aber den sie noch nie gesprochen hatte.

Eine Beobachtung, die sie machte, gab ihr ein wenig Mut: Giulio war noch bleicher und zaghafter als sie. Sie sah ihn zu ihren Füßen: „Ich bin wahrhaftig außerstande, zu sprechen“, sagte er ihr. Es folgten einige sehr glückliche Augenblicke; sie sahen sich an, aber konnten kein Wort hervorbringen und waren unbeweglich, wie eine sehr ausdrucksvolle Marmorgruppe. Giulio lag auf den Knien und hielt eine Hand Helenas, sie hatte das Haupt gesenkt und betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit.

Giulio wußte wohl, daß er irgend etwas hätte versuchen müssen, wenn er den Ratschlägen seiner Freunde, der jungen Lebemänner Roms, hätte folgen wollen; aber dieser Gedanke entsetzte ihn. Er wurde aus diesem Zustand der Verzückung, vielleicht dem höchsten Glück, das die Liebe geben kann, durch das Bewußtsein aufgeschreckt: die Zeit verfliegt schnell, die beiden Campireali nähern sich ihrem Hause. Er begriff, daß er mit seiner gewissenhaften Seele kein dauerndes Glück finden könne, so lange er nicht seiner Geliebten jenes schreckliche Geständnis gemacht habe, das seinen römischen Freunden als große Dummheit erschienen wäre.

„Ich habe Euch von einem Geständnis gesprochen, welches ich vielleicht nicht machen sollte“, sagte er endlich zu Helena.