Lehrbuch Psychomotorik

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Psychomotorische Gesundheitsförderung im Schnittfeld von Entwicklung und Gesundheit Psychomotorische Gesundheitsförderung setze demnach im Schnittfeld von Entwicklung und Gesundheit an (Fischer 2009, 250).

Zusammenfassung

Während die Ursprünge der Psychomotorischen Übungsbehandlung von Kiphard zwischen Pädagogik und Therapie angesiedelt wurden, zeigt Jürgen Seewald auf, dass sich keine der beiden Perspektiven vollkommen in der Psychomotorik entfalten konnten. Psychomotorik ist vielmehr im Paradigma der Entwicklungsförderung und möglicherweise im Paradigma der Gesundheitsförderung zu verorten. Psychomotorische Gesundheitsförderung setzt dabei im Schnittfeld von Entwicklung und Gesundheit an (Fischer 2009, 250). Aufgrund der unterschiedlichen Praxiserfordernisse sowie der unterschiedlichen psychomotorischen Perspektiven (Kap. 1.2), werden in der psychomotorischen Praxis oft Mischformen genutzt. Je nach Institution und (Förder-)Auftrag gilt dann eines der in diesem Kapitel vorgestellten Paradigmen als Hauptmodus und ein anderes wird als Hilfsmodus hinzugezogen.


1. Begründen Sie, warum sich die Psychomotorik weder dem pädagogischen noch dem therapeutischen Paradigma zuordnen lässt.

2. Welche Argumente sprechen für das Paradigma der Entwicklungsförderung in der Psychomotorik? Welche für das Gesundheitsparadigma?

3. Beschreiben Sie, wie sich die Begründung für psychomotorische Angebote im Kontext des Gesundheitsparadigmas verändert.

1.4 Ziele und Inhalte der Psychomotorik

Anhand der psychomotorischen Perspektiven (Kap. 1.2) und paradigmatischen Modellen (Kap. 1.3) wird bereits deutlich, dass psychomotorische Angebote hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und der zu Erreichung dieser Ziele eingesetzten Inhalte sowie deren Begründung vielfältig sind. Eine Darstellung von Zielen kann daher nur sehr allgemein erfolgen und geschieht immer aus einer der in vorgestellten Perspektiven sowie unter Bezug auf ein paradigmatisches Modell. Dies verdeutlicht Abbildung 3.

Abb. 3: Zielsetzungen psychomotorischen Arbeitens in Abhängigkeit von Paradigma und psychomotorischer Perspektive

Die psychomotorische Fachkraft muss unter anderem auf der Basis der eigenen Ausbildung und Haltung, der aktuellen Rahmenbedingungen etc. für ihre AdressatInnen und Handlungsfelder Ziele und Inhalte jeweils spezifizieren und individualisieren.

übergreifendes Ziel Persönlichkeitsentwicklung Allgemein, alters- und perspektivenübergreifend kann das Ziel psychomotorischen Arbeitens formuliert werden als

„Ingangsetzen und Unterstützen der Persönlichkeitsentwicklung durch Bewegung, Wahrnehmung und Handlung in sozialen Bezügen“ (Leyendecker 2006, 237).

Um diese Ziele zu erreichen, werden im Rahmen der kompetenztheoretischen Perspektive (Kap. 1.2.2) Teilziele formuliert, die stark vereinfacht mit den in der Psychomotorik etablierten Oberbegriffen Material-, Sozial- und Ich-Kompetenz zusammengefasst werden können.

Handlungskompetenz Diese sollen das Individuum befähigen, zielgerichtet, sinnvoll, an seinen Bedürfnissen orientiert, auf seine Umwelt wirken zu können. Dies wird mit dem Begriff der Handlungskompetenz bezeichnet (Abb. 4).


Abb. 4: Kompetenzerwerb in der Psychomotorik (Schilling 1978)

Die Aneignung der beschriebenen Kompetenzen wird durch Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen in ganzheitlichen (spielerischen) Handlungssituationen ermöglicht (Fischer 2009, 23).

Im-Körper-Sein/Außerhalb-desKörpers-Sein Dabei können der Körper und seine Bewegungserfahrungen grob in zwei Formen kategorisiert werden: Im-Körper-Sein (Körpererfahrung) und Außerhalb-des-Körpers-Sein (Sozial- und Materialerfahrung; Fischer 1996, 79).

Im-Körper-Sein:

Körper-/Selbst-Erfahrungen Der Körper stellt den Ausgangspunkt aller Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse dar. Über den Körper kann auf die Umwelt eingewirkt werden. Körper- / Selbsterfahrungen gehen einher mit dem Wahrnehmen und Erleben des eigenen Körpers. Sie vermitteln Informationen über sich selbst und über die soziale und materielle Umwelt. Der Körper dient mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten auch als Spiegel intrapsychischen Erlebens, führt zu einer Akzeptanz der eigenen Person und zur Stärkung der Ich-Kompetenz (Fischer 2009, 24; Zimmer 2012, 23).

Körperschema Körpererfahrung besteht in der menschlichen Entwicklung zunächst aus einfachen vorreflexiven Bewegungshandlungen, die sich weiter ausdifferenzieren und an Komplexität zunehmen. Sie vermitteln dem Individuum Informationen über sich selbst und über seine personale und materielle Umwelt und führen zur Herausbildung des Körperschemas.

Körperbild Aus der Summe der Bewegungserlebnisse bildet sich das Körperbild als emotionales Selbstbewertungssystem. Dabei entwickelt sich das Körperbild in einem engen Zusammenhang zur eigenen Gefühlswelt und zur Umwelt.

Körperkonzept Gemeinsam bilden Körperschema und Körperbild das Körperkonzept, das Teil des Selbstkonzepts ist (Fischer 1996, 88ff.).

Selbstkonzept Die kindlichen Körpererfahrungen tragen also maßgeblich zur Selbstkonzeptentwicklung bei (Zimmer 2012, 51) (Kap. 1.6.5).

Der Körper und seine Möglichkeiten bilden in der Psychomotorik den Ausgangspunkt für die Vermittlung angemessener, selbstgestalteter Erfolgserlebnisse (Abb. 5). Bewegungssituationen sind besonders dazu geeignet, Erfolg unmittelbar als selbst bewirkt und nicht als zufallsbedingt zu erleben, was sich persönlichkeitsstabilisierend auswirken kann.


Abb. 5: Körper-/Selbst-Erfahrungen

Außerhalb-des-Körpers-Sein:

Materialerfahrung Materialerfahrung umfasst das Wahrnehmen und Begreifen von Material sowie das Einordnen der aktuellen Eindrücke und Erfahrungen in die bisherigen Erfahrungen (Köckenberger 2012, 13). In der Bewegung werden Erfahrungen über die dingliche Umwelt gesammelt, die über die Sinne und durch Tätigkeit körperlich wahrgenommen wird.

Verbinden von Innenwelt und Außenwelt Dadurch wird über Bewegung die Innenwelt mit der Außenwelt verbunden. Durch Selbsttätigkeit, Experimentieren und Ausprobieren besteht in der Psychomotorik die Möglichkeit, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen und unmittelbare Lernerfahrungen zu machen. In der Psychomotorik fordert das Material zum kreativen Umgang und zum Handeln auf. Durch Selbsttätigkeit, Experimentieren und Ausprobieren kann sich mit der Umwelt auseinandergesetzt werden und können unmittelbare Lernerfahrungen („Erfahrung aus erster Hand“) gesammelt werden (Abb. 6). Im Handeln können Ursachen und Wirkungszusammenhänge erfahren werden, denn über das Material erfährt das Individuum etwas über die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der dinglichen Umwelt (Fischer 2009, 24; Zimmer 2012, 24f.). Um dem Bewegungsdrang nachzukommen, muss ausreichend Raum geboten werden. Das Material besteht aus den „typischen“ psychomotorischen Geräten wie zum Beispiel dem Rollbrett, aber auch aus Alltagsmaterialien und Material aus dem Sportgerätefundus. Dieses Material kann immer wieder neu zusammengestellt und miteinander kombiniert werden.


Abb. 6: Materialerfahrung

Sozialerfahrung Sozialerfahrung als ein Aspekt des Außerhalb-des-Körpers-Seins, entsteht im gemeinsamen Bewegen mit anderen. Durch soziale Vergleichsprozesse, in der Interaktion mit relevanten Vergleichspersonen, können selbstbezogene Erfahrungen gesammelt werden. Ein Miteinanderbewegen erfordert Kooperation, ermöglicht Leistungsvergleiche und auch Konkurrenz. Hierdurch kann das Selbstkonzept realistisch modifiziert werden (Fischer 1996, 93).

Bewegung kann der Kontaktaufnahme dienen und auf diese Weise soziale Erfahrungen vermitteln (Abb. 7). In der Kommunikation über und in Bewegung werden darüber hinaus Nähe und Distanz geregelt (Zimmer 2012, 24). Bewegungssituationen in der Psychomotorik können somit auch soziale Lernprozesse provozieren. Dem Gruppensetting kommt hierbei eine wichtige Rolle zu, da es unter anderem vielfältige Kontaktmöglichkeiten und -erfahrungen bietet.

 

Abb. 7: Sozialerfahrung

Die Erfahrungsbereiche verdeutlichen, dass Menschen über Bewegung etwas über ihren Körper erfahren und gleichzeitig Erfahrungen mit ihrem Körper sammeln. Menschen teilen sich über ihren Körper mit und erhalten über ihren Körper Mitteilungen.

Mit Dietrich Eggert werden abschließend die Ziele der Psychomotorik aus einer öko-systemischen Perspektive beschrieben. Diese bietet eine Erweiterung, da sie als Ziele, neben den individuellen Kompetenzen, den Lebenskontext der Person (in diesem Fall Kinder) einbezieht.

„Psychomotorische Förderung kann dem Kind zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugung verhelfen, ihm Erfolge vermitteln, Kompetenzen verleihen und damit das Selbstkonzept stärken. Zugleich wird das Kind sensibel für den Dialog mit einer bedeutsamen Bezugsperson (dem Pädagogen oder Therapeuten), mit dem es in der Therapie / Förderung kooperiert und für die Arbeit in einer Gruppe, die ihm hilft und es unterstützt. Psychomotorische Förderung beeinflusst auch positiv den Lebenskontext, d. h., sie kann den Kontakt zu den Eltern verbessern und die Akzeptanz des Kindes durch die Eltern erhöhen“ (Eggert 2015, 82).

Zusammenfassung

In der Psychomotorik werden Menschen dazu angeregt, sich handelnd mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Sie sollen sich diese in Bewegung erschließen und erfahren bzw. lernen, ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechend auf ihre Umwelt einzuwirken (Handlungskompetenz). Als allgemeine und übergeordnete Zielsetzung kann in der Psychomotorik die Persönlichkeitsentwicklung betrachtet werden. Um diese Ziele zu erreichen, werden, abhängig von der eingenommenen psychomotorischen Perspektive und der paradigmatischen Orientierung, unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte psychomotorischen Arbeitens gesetzt. Ein allgemeingültiges Ziel-Inhalts-Schema kann daher nicht formuliert werden. Im Mittelpunkt steht jedoch immer die Vermittlung von Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen in sozialen (spielerischen) Handlungssituationen. Diese Bewegungserfahrungen können unterteilt werden in Erfahrungen des Im-Körper-Seins (= Körpererfahrung) und in Erfahrungen des Außerhalb-des-Körpers-Seins (= Sozial- und Materialerfahrung).


1. Für die kompetenz- bzw. selbstkonzeptorientierte Perspektive der Psychomotorik wurden in diesem Kapitel Ziele ausdifferenziert. Formulieren Sie differenzierte Ziele für die weiteren Perspektiven (Kap.1.2.1, 1.2.3, 1.2.4).

2. Diskutieren Sie, ob die Inhaltsbereiche Material-, Sozial,- und Körper- / Selbsterfahrung eine Relevanz für alle psychomotorischen Perspektiven aufweisen.

3. Entwickeln Sie Ideen dazu, wie Sie mit einem Stapel Zeitung Material-, Sozial,- und Körper- / Selbsterfahrung ermöglichen können.

1.5 Psychomotorische Bezugsdisziplinen

Die historische Entwicklung der deutschen Psychomotorik (Kap. 1) hat gezeigt, dass sich die Psychomotorik auf der Basis zahlreicher Theorien und Konzepte u. a aus den pädagogischen, psychologischen, medizinischen Disziplinen entwickelt hat und sich auch permanent weiterentwickelt, auch durch die Integration von Erkenntnissen angrenzender Disziplinen in ihr Theoriegebäude. So hat sich beispielsweise die ökologisch-systemische Perspektive auf der Basis entwicklungspsychologischer Theorien entwickelt, die systemisch-konstruktivistische Perspektive durch die konstruktivistische Erkenntnistheorie. Dies hat unter anderem dazu geführt, Lebens- und Entwicklungskontext stärker in die psychomotorische Arbeit einzubeziehen. Durch die Gesundheitswissenschaften haben sich Salutogenese und Resilienz als Modelle in der Psychomotorik etablieren können, durch die Neurowissenschaften die exekutiven Funktionen etc. Die Psychomotorik wirkt aber auch auf andere Disziplinen. So hat sich beispielsweise durch ihren Einfluss der Sportunterricht, vor allem in der Grundschule, von einer Erziehung zur Bewegung zu einer Erziehung durch Bewegung entwickelt.

Dietrich Eggert hat zum Verhältnis der Psychomotorik und ihrer Bezugsdisziplinen drei Modelle skizziert, die nachstehend beschrieben werden.

Psychomotorik als Schnittmengenkonzept Unter dem Schnittmengenkonzept (Abb. 8) versteht Eggert Psychomotorik als ein interdisziplinäres Konzept. „Das Eigenständige der Psychomotorik wird dargestellt als Überschneidungsbereich zum Beispiel von Entwicklungspsychologie, Grundschul- und Sonderpädagogik und Psychotherapie“ (Eggert 1994, 53).


Abb. 8: Psychomotorik als interdisziplinäres Schnittmengenkonzept exemplarischer Bezugsdisziplinen (modifiziert nach Eggert 1994, 54)

Als problematisch beschreibt Eggert dabei die Vermengung von Begriffen der einzelnen Disziplinen, die möglicherweise nebeneinander, jedoch nicht synonym benutzt würden.

Psychomotorik als Brückenkonzept Psychomotorik als Brückenkonzept (Abb. 9) thematisiert auf zweierlei Arten die Möglichkeit eines Brückenschlages: Psychomotorik dient einerseits als Brücke / Weg zwischen psychomotorischer Fachkraft und Teilnehmenden. Andererseits bildet sie aufgrund ihrer Interdisziplinarität und ihres ganzheitlichen Anspruchs eine Brücke zwischen den einzelnen Disziplinen und Bereichen, die ihre theoretische Basis bilden (Eggert 1994, 52). So kann zum Beispiel Psychomotorik in einer psychomotorischen Sprachförderung eine Brücke bilden zwischen Entwicklungspsychologie, Gruppendynamik, Motorik und Sprache / Kommunikation.

Abb. 9: Psychomotorik als Brückenkonzept (modifiziert nach Eggert 1994, 55)

Psychomotorik als Lückenkonzept „[Das Lückenkonzept] spricht die Tatsache an, daß der Spielraum für psychomotorische Förderung da am größten ist, wo die Konzepte der an der Psychomotorik beteiligten Theorien und ihrer Praxis basale Entwicklungsprozesse ganzheitlicher Art nicht oder zu wenig berücksichtigen“ (Eggert 1994, 52). So stellt auch Hölter (1995, 192) fest: „Die Entstehung und Verbreitung der Motopädagogik und Psychomotorik war eine konsequente Folge von Versorgungs- und Wahrnehmungslücken in bestehenden Therapie- und Erziehungssystemen.“ Wenn sich beispielsweise der Sport überwiegend der Förderung sportlich leistungsfähiger Menschen widmet, besteht möglicherweise eine Nachfrage nach psychomotorischen Angeboten für Menschen, die noch nicht und nicht mehr sportlich leistungsfähig sind. Eine neue Sportdidaktik, die sich verstärkt mit leistungsschwächeren Kindern auseinandersetzt, würde hingegen die Lücke für psychomotorische Angebote verkleinern. Je mehr Gedankengut der Psychomotorik Einzug in ihre Bezugsdisziplinen hält, desto geringer würde möglicherweise die Nachfrage nach explizit psychomotorischen Angeboten ausfallen.


Abb. 10: Psychomotorik als Lückenkonzept (modifiziert nach Eggert 1994, 52)

Problem der eigenen Identität Die skizzierten Modelle verdeutlichen, dass Psychomotorik sich immer im Austausch mit weiteren Disziplinen befindet, und sich dabei der permanenten Aufgabe stellen muss, ihre eigene Identität zu bewahren bzw. weiterzuentwickeln.

transdisziplinäres Denken Deutlich wird aber im weiteren Verlauf des Lehrbuchs, auch, dass Begründungszusammenhänge, Wirkungen, Interpretationen der menschlichen Leiblichkeit und Bewegung, die Komplexität der menschlichen Entwicklung, usw. ein transdisziplinäres Denken erfordern, das disziplinübergreifend wissenschaftliches Wissen und praktisches Wissen verbindet und eine Pluralität von Positionen und Zugangsweisen anerkennt. Nur aus einer Disziplin wie der Medizin oder Psychologie heraus auf den Menschen, seinen Leib / seine Körperlichkeit, seine Bewegung, seine Entwicklung zu blicken, würde zu einer reduktionistischen Arbeitsweise führen (Berger et al. 2014, 17).

Mehrperspektivität Dies bedingt eine generelle Mehrperspektivität in der Psychomotorik.

Zusammenfassung

Die Psychomotorik entwickelt sich durch die Öffnung zu verschiedenen Disziplinen sowie die Integration neuer Theorien und Modelle permanent weiter. Das Verhältnis der Psychomotorik zu ihren Bezugsdisziplinen hat Eggert mit den Modellen Psychomotorik als Schnittmengenkonzept, Psychomotorik als Brückenkonzept und Psychomotorik als Lückenkonzept skizziert.


1. Argumentieren Sie anhand der Motogeragogik (Kap. 7.4), welche Lücke(n) die Psychomotorik mit diesem Ansatz besetzt.

2. Diskutieren Sie folgende These: Je mehr Gedankengut der Psychomotorik Einzug in ihre Bezugswissenschaften (zum Beispiel Sport) hält, desto geringer wird möglicherweise die Nachfrage nach explizit psychomotorischen Angeboten.

3. Begründen Sie die Bedeutung transdisziplinären Denkens und einer Mehrperspektivität für die Psychomotorik.

1.6 Zentrale Begriffe und Konzepte der Psychomotorik

In den vorhergehenden Kapiteln haben sich bereits einige Begriffe herauskristallisiert, die von zentraler Bedeutung für die psychomotorische Theoriebildung und Praxis sind. Sie werden nachstehend aufgegriffen und ausführlicher erläutert.

1.6.1 Humanistisches Menschenbild

Anhand der Definitionen von Psychomotorik (Kap. 1.1) wird deutlich, dass die Arbeitsprinzipien der Psychomotorik auf einem humanistischen Menschenbild beruhen. Dieses ist zentral für die professionelle Haltung (Kap. 4.1) und die damit verbundenen Handlungen der psychomotorischen Fachkräfte.


Definition MenschenbildMenschenbilder sind allgemeine Vorstellungen / Ideale darüber, was das Wesen des Menschen ausmacht und was ihn von anderen nicht menschlichen Dingen unterscheidet. Sie beschäftigen sich mit den Vorstellungen vom Sinn des menschlichen Daseins und dessen Wert (Süer 2013, 10f.).

Da Menschenbilder von Menschen gemacht werden, spiegeln sich in ihnen unter anderem weltanschauliche Orientierungen, gesellschaftliche und historische Kontexte. Somit sind sie auch einem Wandel unterworfen (Süer 2013, 10f.). Sie bilden also nicht nur bloße Annahmen darüber, wie der Mensch ist, sondern auch wie er sein sollte (Gröschke 2009, 24).

Menschenbilder als Idealvorstellungen Zur Verdeutlichung: Als Idealvorstellungen wirken Menschenbilder zum Beispiel auf die Art und Weise, wie Kinder erzogen werden. Damit verbunden sind die Fragen: Wie wird das Kind gesehen und woraufhin / mit welchem Ziel (Ideal) soll es erzogen werden? Diese Vorstellungen sind zum einen einem steten (historischen) Wandel unterworfen. Zum anderen existieren auch gleichzeitig miteinander konkurrierende Menschenbilder. So bestehen beispielsweise zu ein und derselben Zeit verschiedene Vorstellungen darüber, wie und mit welchem Ziel Kinder erzogen werden sollen.

 

Grundorientierung Menschenbilder stellen in professionellen pädagogischen und therapeutischen Kontexten eine Grundorientierung dar, anhand derer Ziele, Inhalte und Methoden ausgewählt, begründet und reflektiert werden, wie das folgende Beispiel veranschaulicht:

„Werden Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes zum Beispiel als Wahrnehmungsstörung betrachtet, so liegt dieser Auffassung ein Menschenbild zugrunde, nach dem das kindliche Verhalten als das Produkt einer intakten Verarbeitung (Integration) von Sinnesreizen verstanden wird. Es liegt auf der Hand, dass in einem solchen Fall auch die praktischen Konsequenzen für eine Fördermaßnahme anders aussehen, als wenn die Verhaltensprobleme des Kindes als Ausdruck einer gestörten Beziehung des Kindes zu seiner Umwelt oder einer tief greifenden Selbstwertproblematik angesehen werden“ (Zimmer 2012, 25f.).

Mensch und seine Würde im Mittelpunkt Im humanistischen Menschenbild stehen, wie der Begriff schon besagt, der Mensch und seine Würde im Mittelpunkt. Es wird davon ausgegangen, dass der Mensch im Grunde gut ist, fähig und bestrebt ist, sein Leben selbst zu bestimmen (Autonomie) und seinem Leben / Handeln Sinn und Ziel zu geben. Der Mensch wird als Körper-Seele-Geist-Einheit betrachtet (Ganzheitlichkeit). Dabei ist der Mensch sozial und gesellschaftlich bezogen (Interdependenz).

Bedeutung der Bewegung Der Mensch ist aus humanistischer Perspektive ein psychisches, biologisches sowie soziales Wesen, dessen Köper- und Bewegungserfahrungen als fundamental für die gesamte Entwicklung betrachtet werden. Dabei ist Bewegung einerseits Mittler von Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung und ermöglicht Erfahrungen sinnvollen Handelns. Andererseits ist sie auch Ausdruck der Gesamtbefindlichkeit von Menschen. Daher kann sie nicht isoliert beispielsweise nur unter biomechanischen Aspekten betrachtet werden (Zimmer 2014, 26ff.).

Der Mensch wird in der Psychomotorik als einzigartiges Subjekt betrachtet und nicht als bloßes Objekt, das es durch ExpertInnen zu behandeln gilt. Vielmehr stehen Dialog und Verstehen im Mittelpunkt der Arbeit. In der Psychomotorik gehen wir also von einem „ganzheitlichen Menschenbild [aus], das geprägt ist durch das Recht jedes Menschen auf seine eigene Entwicklung und den Respekt jeder PsychomotorikerIn vor diesem Recht“ (Seewald 1997a, 8).

Zusammenfassung

Die Psychomotorik beruht auf dem humanistischen Menschenbild mit folgenden Annahmen über den Menschen:

■ Streben nach Autonomie, Selbstverwirklichung, Wachstum und sozialer Interdependenz

■ Ziel- und Sinnorientierung im menschlichen Handeln

■ Ganzheit (emotional-kognitiv-sozial-motorisch)


1. Beschreiben Sie, warum es einen Unterschied für die psychomotorische Praxis macht, ob die psychomotorische Fachkraft davon ausgeht, dass menschliches Handeln durch eine Ziel- und Sinnorientierung geprägt ist oder ob sie davon ausgeht, dass gezeigtes Verhalten auf Defizite in der motorischen Entwicklung zurückzuführen ist.

2. Erläutern Sie „das Recht jedes Menschen auf seine eigene Entwicklung und den Respekt jeder PsychomotorikerIn vor diesem Recht“ (Seewald 1997a, 8).

3. Für LeserInnen mit Praxiszugang: Woran können Sie in konkreten Situationen beobachten, dass eine psychomotorische Fachkraft auf der Basis eines humanistischen Menschenbildes handelt?

1.6.2 Körper – Leib, Bewegung – Motorik

Während im Alltagssprachgebrauch der Begriff Körper dominiert und der Begriff Leib kaum noch verwendet wird, wird er in der psychomotorischen Theoriebildung genutzt, um ein besonderes Verständnis (ein leibphänomenologisches) des Menschen zu beschreiben. Um die mit diesen Begriffen verbundenen spezifischen Denkweisen über den menschlichen Körper / Leib, die sowohl für den psychomotorischen Fachdiskurs als auch für die psychomotorische Praxis relevant sind, herauszuarbeiten, werden sie in diesem Kapitel näher betrachtet. Herausgearbeitet wird auch der Unterschied zwischen Bewegung und Motorik. Diese Begriffe werden umgangssprachlich oft synonym benutzt, bedeuten aber nicht das Gleiche. Der Bewegungsbegriff wird darüber hinaus in der Psychomotorik mit zwei Bedeutungen verwendet.

Phänomenologie Die Unterscheidung von Körper und Leib ist Gegenstand der Phänomenologie, einer philosophischen Denkschule. Vertreter sind unter anderem Edmund Husserl (der als Begründer der modernen Phänomenologie gilt), Maurice Merleau-Ponty (Phänomenologie der Wahrnehmung) und Bernhard Waldenfels (Phänomenologie des Fremden). Die Phänomenologie kann hier nicht ansatzweise in ihrer Komplexität und Bandbreite dargestellt werden, vielmehr werden nur einige ihrer Annahmen zum Körper-Leib-Phänomen grob vereinfacht skizziert. Grundsätzlich beschäftigt sich die Leibphänomenologie mit der Wechselwirkung von Körper / Leib und Bewusstsein und der Bezogenheit des Individuums zu anderen Individuen (dialogisches Individuum). Sie überwindet die Trennung bzw. Gegenüberstellung (Dichotomie) von Körper und Geist.

Diese Dichotomie spiegelt sich übrigens auch im Begriff der Psychomotorik, da hier das Geistige / Seelische (Psycho) und das Körperliche (motorik) getrennt gedacht werden, auch wenn sie in einem Begriff zusammengebracht werden.


Körperbegriff Als Körper wird die Gesamtheit aller naturwissenschaftlich / medizinisch messbaren, objektiv erfass- und beschreibbaren organischen Strukturen sowie physiologischen Prozesse eines Menschen beschrieben (Fuchs 2015, 145). Also der „Körper betrachtet als Materie, als Gegenstand, […] der zerlegt und wieder zusammengesetzt werden kann“ (Hölter 2011, 5). Der Körper ist ein Instrument, das vom Individuum besessen und benutzt wird. Er ist die materielle Wirklichkeit (Leitner / Ludwig 2016, 39).

Leibbegriff Der Begriff Leib umfasst hingegen den „belebten und sozialen Leib, mit individuellem Ausdruck, mit Emotionalität und als Ergebnis komplexer sozialer Einflüsse“ (Hölter 2011, 5). Der Leib geht also über die materielle Wirklichkeit des Körpers hinaus und umfasst die subjektiven Erlebnisinhalte, die transmaterielle Wirklichkeit (Leitner / Ludwig 2016, 39). Dabei wirkt die Lebenswelt einerseits auf den Menschen, anderseits wirkt der Mensch auf seine Welt.

Körper-Seele-Geist-Einheit Der Begriff Leib beschreibt die Körper-Seele-Geist-Einheit. Der erlebte und gespürte Leib gilt

„zunächst als der Ort des allgemeinen Befindens, Behagens oder Unbehagens, der Vitalität, Frische oder Müdigkeit, sodann der Anspannung und Entspannung, des Hungers und Durstes und anderer Leibempfindungen; schließlich auch der Leib als der Resonanzraum aller Stimmungen und Gefühle, die uns ergreifen, die uns weit oder eng, gehoben oder gedrückt machen, uns vor Wut beben, vor Heiterkeit lachen oder vor Schmerz weinen lassen. Bei all dem ist die Leiblichkeit etwas, was einem widerfährt, was man an sich selbst spürt und wovon man betroffen ist“ (Fuchs 2015, 145).

Der Leib ist der Mittler zwischen der Welt und dem Individuum, das sich in seinen Lebenskontexten bewegt. Das Selbst ist an die Leiblichkeit gebunden, es kann sich aktiv oder passiv zur Welt verhalten (Staemmler 2015, 8f.).

Medium des Lebensvollzugs Der Leib ist somit das Medium des Lebensvollzugs. Der Leib ist dabei unwillkürlich, vor- oder unbewusst, der Körper hingegen liegt dem bewussten Ich näher (Fuchs 2015, 144). Der Leib ist das Lebendige des Menschen, der erst im Tod zum Körper als rein materielles Ding wird (Fuchs 2015, 144).

Zwischenleiblichkeit Die menschliche Entwicklung geschieht in diesem Verständnis immer über Erfahrungen in der Zwischenleiblichkeit, der sozialen Interaktion mit anderen Menschen (Bezogenheit). Der Körper bildet das biologische Fundament der Zwischenleiblichkeit (Leitner / Ludwig 2016, 34).


Bewegung Bewegung kann physikalisch-mechanistisch als von außen beobachtbare körperliche Betätigung verstanden werden. Sie ist in diesem Fall „die äußere, umweltbezogene Komponente der menschlichen Tätigkeit, die in Ortsveränderungen des menschlichen Körpers beziehungsweise seiner Teile und der Wechselwirkung mechanischer Kräfte zwischen Organismus und Umwelt zum Ausdruck kommt“ (Meinel 2007, 28)..

Aus einer phänomenologisch-geisteswissenschaftlichen Perspektive wird Bewegung verstanden „als anthropologische Grundkategorie […] die es dem Individuum ermöglicht, sich handelnd seine materielle und soziale Umwelt zu erschließen, sie wahrzunehmen, zu interagieren und auf sie einzuwirken“ (Krus 2015b, 40).

Bewegung als Grundphänomen menschlichen Lebens Das Lebendige des Menschen drückt sich in Bewegung aus. Sie „ist ein Grundphänomen menschlichen Lebens, der Mensch ist von seinem Wesen her darauf angewiesen. Die Bewegungsentwicklung beginnt bereits im Mutterleib, und erst mit dem Tod hört jede Bewegung auf“ (Zimmer 2014, 19).

Über Bewegung und Erfahrung vergewissert sich der Mensch seiner selbst und seiner Umwelt. Um die Welt zu bewältigen, muss der Mensch tätig werden und handeln. Handeln umfasst wiederum Bewegung, die immer eine bestimmte Bedeutung für den Sich-Bewegenden aufweist (Kap. 2.1).

Die Bewegung als sinngeleitete Handlung des Menschen gilt als Medium zur Überwindung der Trennung von Körper und Geist (Hölter 2011, 21).

äußere Bewegung – innere Bewegung Bewegung kann auch als nicht von außen beobachtbare innere Bewegung in Form von Emotionen betrachtet werden. Geäußert wird dies im Alltag in Aussagen wie: „Mich bewegt etwas.“

leibliche Resonanz Emotionen werden dabei immer in leiblicher Resonanz erlebt (beispielsweise leibliche Resonanz in Haltung, Empfindungen, Bewegungstendenzen; Fuchs 2014, 18).


Motorik Mit dem Begriff Motorik werden alle Verhaltensweisen, beschrieben, die eine aufeinander abgestimmte Koordination bestimmter Muskeln bzw. Muskelgruppen erfordern (zum Beispiel Greifen, Laufen, Grobmotorik, Feinmotorik).

Das Verhältnis von Motorik und Bewegung beschreibt Kurt Meinel wie folgt: „Motorik umfasst die Gesamtheit der Vorgänge und Funktionen des Organismus und der psychischen Regulation (‚Psychomotorik‘), die die menschliche Bewegung hervorbringt“ (Meinel 2007, 28). Die Motorik bildet also die Voraussetzung für die Bewegung.

Verdinglichung des Menschen Thomas Fuchs (2015) weist darauf hin, dass das Verschwinden des Leibbegriffs und die Dominanz des Körperbegriffs die Verdinglichung des Menschen sowie die Hinwendung zum materiellen, objektivierbaren Körper als Instrument widerspiegelt. Medial vermittelte Körperideale, messbar in Körperfettanteil, (sportlicher) Leistungsfähigkeit etc. führen zu einem Verlust der Leiblichkeit, des Kontakts zu sich selbst.

„Es ist der instrumentalisierte, der technisierte und als Kapital verwertbare Körper, mit dem wir heute leben. Darum ist das Leibsein in unserer Kultur auch längst keine Selbstverständlichkeit mehr, auf die wir uns nur zurückfallen lassen bräuchten. […] Wir müssen, so paradox es klingt, das Selbstverständliche wieder einüben“ (Fuchs 2015, 149).

Die Psychomotorik kann hierzu einen Beitrag leisten, indem sie der Instrumentalisierung des Körpers einen leiblichen Zugang entgegensetzt, indem sie Sinn und Ausdruck, Achtsamkeit, Kontakt zu sich und anderen in den Mittelpunkt stellt. Dabei müssen psychomotorische Fachkräfte ihre eigenen leiblichen Resonanzen auf das psychomotorische Geschehen reflektieren, denn es besteht eine permanente wechselseitige leibliche Beeinflussung, der sich nicht entzogen werden kann, da die Leiblichkeit des Menschen als fundamental auf die des anderen Menschen ausgerichtet betrachtet wird.