Schutzengelstreik 2

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Schutzengelstreik 2
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Schutzengelstreik 2 - Spurensuche im Herzen

1  Impressum

2  Widmung

3  Familienglück mit Hindernissen

4  Verenas neues Leben

5  Auf der Suche nach Kasi

6  Tal der Angst

7  Meer der Tränen

8  Gebirge der Altlasten

9  Der Absturz

10  Die Befreiung

11  Die Strafe

12  Epilog

13  Danksagung

14  Weitere Veröffentlichungen:

Impressum

Texte: © Stefanie Kothe

Umschlaggestaltung: © Stefanie Kothe

1. Auflage 2020

Schutzengelstreik 2 – Spurensuche im Herzen

Verlag:

Stefanie Kothe

Postfach 110229

06016 Halle/S.

stefaniekothe@email.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.

https://www.facebook.com/Schutzengelstreik/

Widmung

Für Laska und Marie, die immer für ihre kreativen Dosenöffner da waren. Eines Tages sehen wir euch wieder.

Familienglück mit Hindernissen

„Mami, können wir bitte noch etwas lesen üben?“, fragte die sechsjährige Juno ihre Mama. Maria lächelte ihre älteste Tochter stolz an.

„Schatz, du hast heute schon zwei Stunden fleißig geübt und machst das toll.“

„Ja, aber ich kann noch nicht alle Wörter lesen. Manche sind zu schwer. Schau, dieses hier zum Beispiel.“ Juno deutete auf ein langes Wort. Maria nahm sie auf den Schoss und warf einen Blick darauf. „Knusperhexenhaus“ Sie legte einen Finger auf den zweiten und dritten Teil des Wortes und Juno schaffte es sofort, „Knusper“ zu entziffern. Sie schob sanft die Hand ihrer Mutter weg und versuchte es noch einmal.

„Knusperhexenhaus“, rief sie begeistert. Maria küsste sie auf die Stirn.

„Das hast du klasse gemacht, mein Schatz. Ich bin stolz auf dich. Und bald kommst du in die Schule und lernst noch viel mehr.“

„Ich freue mich schon so darauf. Nur noch vier Wochen und dann geht es endlich los. Ich habe sogar meinen Ranzen schon gepackt.“

„Juno, liest du mir was vor“, hörte sie in dem Moment ihre Schwester rufen. Sie liebte die Kleine, aber manchmal war sie echt anstrengend.

„Kasi, ich möchte lieber mit Wirbelwind ausreiten. Darf ich Mami? Bitte!“

„Nimm mich mit, Juno“, bettelte Kasi. Juno warf ihrer Mutter einen hilfesuchenden Blick zu. Sie wollte etwas Ruhe haben. Ihre Mama verstand sie zum Glück und hatte eine Idee.

„Kasi, wie fändest du es, wenn du selbst ein bisschen lesen lernst? Dann kannst du bald Laura und Lucas etwas vorlesen. Juno, du nimmst bitte mein Handy mit, damit du uns im Notfall erreichst. Und bleib auf den Wegen, die du kennst.“

„Ist gut, mache ich.“ Juno gab ihrer Mama einen Kuss und rannte zum Stall, um ihr Pony für den Ausflug zu satteln. Kasi lief unterdessen ins Haus, um zu sehen, ob ihre beiden kleinen Geschwister aus dem Mittagsschlaf erwacht waren.

„Laura, Lucas, Mami will mir das Lesen beibringen, wollt ihr mit Schule spielen?“

„Schule spielen“, wiederholte ihre kleine Schwester. Kasi half den beiden, aus den Betten zu klettern, und holte Zettel und Stifte. Als Maria das Kinderzimmer ihrer Zwillinge betrat, saßen ihre drei Schüler brav am Basteltisch. Sie lächelte und ging zu der kleinen Tafel.

„Also gut, fangen wir mit dem Alphabet an. Wer von euch kann das schon aufsagen?“ Kasi meldete sich und ihre Augen strahlten.

„Primat“, lobte Maria sie. „Und kannst du auch deinen Namen schreiben?“ Sie schüttelte den Kopf. „In Ordnung, dann üben wir das als Erstes. Welche Buchstaben kommen denn in deinem Namen vor?“

Die Zeit verging wie im Flug. Am Ende der Stunde konnte Kasi nicht nur ihren Namen schreiben, sondern auch die ihrer Geschwister, Eltern und Großeltern.

„Mami, kannst du mir bitte helfen, einen Brief an Juno zu schreiben? Ich möchte ihr zeigen, was ich alles kann und ihr sagen, dass ich sie lieb habe.“

„Gerne mein Schatz, aber Papa kommt bald von der Arbeit und ich möchte vorher das Abendessen vorbereiten. Hast du Lust, mir zu helfen?“ Ohne zu antworten, sprang Kasi auf und folgte ihrer Mutter in die Küche.

„Wie kann ich dir helfen, Mami? Soll ich die Tomaten für den Salat schneiden?“

„Gerne, aber bitte nur das Gemüse, nicht die Finger.“

„Ach Maria, sie schafft das schon. Zum Glück hat sie nicht dein Tollpatschgen geerbt.“

„Tante Kassandra“, schrie Kasi und sprang ihr in die Arme. „Wie schön, dass du da bist.“

„Hallo Kassandra.“ Maria ging zu ihr und umarmte sie. „Wie geht es dir?“

„Mir geht es gut, ich bin froh, dass ich für heute Feierabend habe.“ In dem Moment zischte es auf dem Herd. Das Wasser, das ihr Schützling aufgesetzt hatte, kochte über.

„Mist, wenn man ein paar Sekunden nicht hinschaut“, schimpfte Maria. Als sie den Topf vom Herd nahm, bekam sie heißes Wasser auf ihre Hand. Sie zuckte zusammen, sagte aber nichts. Kassandra verdrehte die Augen. Das war typisch.

„Siehst du Kasi, das meinte ich. Deine Mama schafft es immer wieder sich zu verletzen.“

„Mama, tut es sehr weh?“ Maria hörte an der Stimme ihrer Tochter, dass dieser die Tränen in den Augen standen.

„Nein, mein Schatz, es ist alles in Ordnung. Tante Kassandra will mich nur ein bisschen necken. Mach dir bitte keine Sorgen. Hast du nicht Lust, mit ihr den Tisch zu decken?“

„Ist gut, mache ich. Wo bleibt Juno denn eigentlich? Sie wäre heute dran.“

„Deine Schwester kommt sicher gleich. Sie war noch nie zu spät zum Abendessen. Sie hat sicher die Zeit vergessen.“

„Wo wollte Juno hin?“, fragte Kassandra. Als Junos Patentante lag ihr die Kleine besonders am Herzen.

„Sie ist mit Wirbelwind unterwegs. Wenn etwas nicht stimmen würde, hätte sie mich angerufen.“

„Maria, ich würde gerne nachsehen, ob alles ok ist. Hast du was dagegen?“

„Nein, mach das. Aber bitte unauffällig. Ich möchte nicht, dass sie vor Schreck vom Pony fällt.“ Der Schutzengel lachte und verschwand. Als Kasi wieder rein kam, war sie verwirrt.

„Mami, wo ist denn Tante Kassandra plötzlich hin? Sie wollte mir helfen.“ Maria überlegte kurz. Wie sollte sie das erklären? Sie hatte ihren Kindern nichts von den Fähigkeiten ihrer Tante erzählt und sie hatte beschlossen, dass das so bleibt.

„Sie ist kurz nach oben ins Bad gegangen. Sie kommt gleich wieder. Fang bitte schon alleine an.“ Kasi hatte keine Lust, das sah Maria sofort, aber ihrer Mama zuliebe machte sie sich trotzdem an die Arbeit.

„Maria, du musst sofort den Notarzt rufen. Schnapp dir Kasi und dann schnell ins Auto.“ Maria zuckte zusammen. Kassandra war aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht.

„Was um Gottes willen ist denn passiert? So aufgewühlt habe ich dich ja noch nie erlebt.“

„Juno ist vom Pferd gefallen. Sie ist bewusstlos. Wir müssen sofort zu ihr.“ Maria wurde blass.

„Juno? Vom Pferd gefallen? Bist du sicher? Sie ist eine gute Reiterin. Wie konnte das passieren?“

„Maria, ich weiß es nicht. Das können wir später klären. Du schnappst dir die Zwerge und ich rufe den Krankenwagen. Los!“ Maria rannte zur Tür, da hörte sie, dass jemand die Haustür aufschloss.

„Johannes“, schrie sie. Sie merkte, wie schrill ihre Stimme klang. „Bitte pass auf die Kinder auf, Juno hatte einen Unfall. Kassandra und ich müssen sofort zu ihr.“

„Natürlich, mein Schatz, ich kümmere mich hier um alles. Nehmt den schnellsten Weg zu ihr und sagt Bescheid, wenn du was weißt.“ Sie nickte geistesabwesend. Als Kassandra angelaufen kam, zog Maria sie am Arm nach draußen.

„Bitte, den schnellsten Weg zu Juno. Du weißt, was ich meine.“ Der Schutzengel nahm wortlos ihre Hand und schon waren die beiden Frauen verschwunden, um Sekunden später bei dem verletzten Kind aufzutauchen.

„Juno! Juno, was ist passiert? Hörst du mich? Juno?“ Vorsichtig strich Maria ihrer Tochter mit zitternder Hand eine Strähne aus der Stirn. Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie bekam keine Luft mehr. Ihr Herz raste und die Welt schien still zu stehen. Maria hatte das Gefühl, dass Stunden vergingen, bevor sie die Sirenen des Krankenwagens hörte.

„Was ist passiert“, fragte der Notarzt. Maria hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie konnte nicht sprechen.

 

„Das ist Juno, sie ist sechs Jahre alt und sie ist von ihrem Pony gefallen. Seit dem ist sie bewusstlos. Ich bin ihre Patentante und das ist ihre Mutter.“ Sie deutete auf Maria. Der Notarzt fing an, das Mädchen zu untersuchen.

„Sie hat sich das linke Handgelenk gebrochen und eine Gehirnerschütterung, ansonsten kann ich keine Verletzungen feststellen. Wir nehmen sie mit ins Krankenhaus und röntgen sie, danach wissen wir mehr. Möchten sie mitfahren?“ Maria nickte wie in Trance.

„Ich gehe zu dir nach Hause und übernehme die Kinder, dann kann Johannes gleich nachkommen.“ Maria stieg in den Rettungswagen. Wenig später kam ihr Mann aufgeregt in die Klinik gerannt.

„Konntest du schon mit einem Arzt sprechen?“ Maria schüttelte den Kopf und er nahm sie in den Arm. In dem Moment kam der Doktor auf sie zu.

„Sind Sie Herr und Frau Keller?“

„Ja, das sind wir. Wie geht es unserer Tochter? Können wir zu ihr?“, fragte Johannes.

„Ihre Tochter hatte Glück. Ein gebrochenes Handgelenk und leichte Kopfschmerzen, ansonsten geht es ihr gut. Sie ist inzwischen auch wieder wach. Ich würde Juno gerne über Nacht zur Beobachtung hierbehalten. Morgen früh darf sie dann nach Hause. Sie können gerne bei ihr bleiben.“ Als Maria und Johannes das Krankenhauszimmer ihrer Tochter betraten, fiel ihnen ein Stein vom Herzen. Juno saß in ihrem Bett und lächelte ihre Eltern vorsichtig an.

„Es tut mir leid, dass ihr euch Sorgen um mich gemacht habt. Wirbelwind konnte ehrlich nichts dafür. Da war ein lauter Knall und wir haben uns beide erschrocken. Bitte seid uns nicht böse.“ Maria und Johannes nahmen ihre Tochter in die Arme.

„Mein Engelchen, Papa und ich sind euch nicht böse. Wir machen uns aber Sorgen. Der Sturz hätte viel schlimmer enden können. Und was meinst du mit Knall? Wo kam er denn her und was war es?“

„Keine Ahnung, Mami. Es kam aus dem Wald und klang wie ein Schuss. Aber das kann ja nicht sein, oder dürfen neuerdings Leute in unserem Wald Tiere ermorden?“

„Nein, natürlich nicht. Wir haben den Wald gekauft, damit dort Tiere in Ruhe leben können und ihr Kinder sicher spielen. Deswegen ja der Zaun. Johannes wir müssen uns das morgen unbedingt ansehen.“ Er nickte.

„Darf ich mitkommen, Papa? Vier Augen sehen mehr als zwei.“ Maria verdrehte die Augen. Ihre Tochter war unmöglich.

„Darfst du, wenn du dich jetzt hinlegst und schläfst. Der Tag war anstrengend. Hast du mich verstanden?“

„Ja Papa. Ich bin brav.“ Juno legte sich hin, kniff die Augen zusammen und tat so, als ob sie schlief. Maria lachte.

„Schatz, fahr bitte nach Hause und löse Kassandra bei den Kleinen ab. Ich komme morgen früh mit Juno nach, sobald der Arzt es erlaubt.“

„Papa, wie geht es Juno, wird sie wieder gesund“, rief Kasi ihm von weiten entgegen.

„Lass uns rein gehen, Schatz. Dann erzähle ich es dir und Kassandra.“ Sie liefen ins Wohnzimmer und Kassandra brachte ihm einen Kaffee.

„Danke, dass ist lieb von dir. Schlafen die Kleinen schon?“

„Ja, Kasi hat den ganzen Nachmittag „Schule“ mit ihnen gespielt. Sie sind sofort eingeschlafen. Der Unterricht war scheinbar etwas zu anstrengend.“ Johannes lachte.

„Gut gemacht, Kasi. Juno hat sich den Arm gebrochen und eine leichte Gehirnerschütterung, aber sie darf morgen früh wieder nach Hause.“

„Hurra“, jubelte Kasi. „Das ist toll, sie wird also bald wieder gesund?“

„Ja, mein Schatz, bald ist sie wieder ganz die Alte, bitte mach dich schon mal fertig fürs Bett, es ist spät. Ich muss noch kurz etwas mit Tante Kassandra besprechen.“ Nachdem Kasi nach oben gegangen war, wandte er sich mit einer Bitte an den Schutzengel seiner Frau.

„Kassandra, Juno hat einen Knall gehört, bevor sie vom Pony gefallen ist. Kannst du bitte mit Aurora sprechen, ob sie was mitbekommen hat? Juno und ich werden morgen die Zäune kontrollieren. Der Gedanke, dass da jemand rumballert, gefällt mir nicht.“ Kassandra nickte. Eine Gänsehaut jagte ihr über den Rücken.

„Natürlich. Ich mache mich sofort auf den Weg. Gib Kasi einen Kuss von mir.“

„Aurora? Aurora, bist du da?“ Kassandra sah sich suchend um.

„Ich bin hier. Was kann ich für dich tun? Geht es um Juno? Ich konnte den Sturz leider nicht verhindern, es tut mir leid.“

„Ist schon in Ordnung. Zum Glück ist ja nichts Schlimmeres passiert. Der Arm wird heilen. Sie hat erzählt, dass sie eine Art Schuss gehört hat und Wirbelwind darum durchgegangen ist. Hast du davon was mitbekommen?“

„Nein, tut mir leid, leider nicht. Ich wurde erst alarmiert, als sie fiel, und da habe ich mich darauf konzentriert, sie aufzufangen, so dass sie sich nicht das Genick bricht.“

„Ich verstehe, du hast genau richtig gehandelt. Hauptsache ihr ist nicht mehr passiert, aber ich möchte trotzdem wissen, wie es dazu kommen konnte. Ich werde mit dem Chef reden. Kommst du mit?“ Aurora nickte.

„Chef, dürfen wir kurz stören? Wir haben ein paar Fragen an dich und hoffen, dass du uns weiterhelfen kannst.“

„Ihr stört mich doch nicht. Geht es um Junos Unfall? Sie wird wieder gesund, wenn ich mich nicht täusche.“

„Ja, das wird sie. Aber sie hat etwas erzählt, was mich beunruhigt. Weißt du etwas über Jäger, die in dem Wald ihr Unwesen treiben?“

„Jäger? Nein, das Gebiet ist eingezäunt, oder nicht? Da kommt niemand rein. Aber Juno und Johannes wollen sich das morgen ja ansehen und werden es merken, wenn was nicht stimmt. Sag ihnen bitte, dass sie vorsichtig sein sollen. Ich sehe keine akute Gefahr, aber sicher ist sicher.“ Beide Schutzengel bedankten sich für die Auskunft. Sie gingen zurück in die Bibliothek.

„Ist es nicht seltsam? Juno hat sich das doch nicht eingebildet. Ich bin mir sicher, dass sie was gehört hat.“

„Der Meinung bin ich auch, Aurora. Und ich glaube, dass der Chef uns nicht alles gesagt hat, oder es selbst nicht weiß. Kann das sein?“

„Ich habe es noch nie erlebt, dass er etwas nicht wusste, aber möglich ist es. Wie dem auch sei, wir müssen herausfinden, was passiert ist. Die Sicherheit unserer Schützlinge steht auf dem Spiel und die der Familie.“ Kassandra sah es genau so und begab sich auf den Weg zu Juno. Als sie das Krankenhauszimmer betrat, schlief sie in den Armen ihrer Mutter.

„Engelchen, wach auf. Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.“

„Tante Kassandra, was machst du denn hier? Ist was passiert?“ Kassandra gab ihr ein Zeichen still zu sein und ihr zu folgen.

„Juno, dein Papa hat erzählt, dass du einen Schuss gehört hast, bevor Wirbelwind durchging. Hast du etwas gesehen?“ Das Mädchen nickte.

„Ja, das habe ich, aber du wirst es mir sicher nicht glauben. Bestimmt habe ich es mir eingebildet.“

Verenas neues Leben

„Verena, verdammt noch mal. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du im Unterricht aufpassen sollst? Hör auf, mit deinen Haaren zu spielen, wir sind hier nicht beim Friseur.“ Der kleine Schutzengel schluckte.

„Entschuldigung Kassandra, ich wollte nicht,...!“

„Hier geht es nicht darum, was du willst oder nicht, sondern darum, was du machst. Du bist hier, um ein guter Schutzengel zu werden, damit sich die Fehler vom letzten mal nicht wiederholen. Aber scheinbar hast du noch immer nichts dazu gelernt.“ Verena fing an zu weinen. Warum war ihre Lehrerin so hart zu ihr. Was hatte sie Schreckliches angestellt? Egal, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht daran erinnern. In dem Moment erklang ein leises Glöckchen und Kassandra beendete den Schultag.

„Verena, was meinte unsere Lehrerin damit, dass du nichts gelernt hast?“, fragte Nora ihre Freundin.

„Ich habe keine Ahnung. Schon seit dem ersten Tag in der Schule hasst sie mich. Ich möchte es auch gerne erfahren.“

„Dann lass es uns doch herausfinden. Am besten beginnen wir in der Bibliothek. Da sind unsere ganzen Unterlagen.“ Verena nickte. Schweigend betraten sie den riesigen Lesesaal. Ehrfürchtig sahen sie an den großen Regalen empor.

„Wie sollen wir hier meine Unterlagen finden, Nora? Hier sind so viele Bücher und Ordner. Da wird es ewig dauern, bis wir das entdecken, wonach wir suchen.“

„Hallo, ich bin Aurora und zuständig für die Bibliothek. Was sucht ihr denn? Ich kann euch sicher helfen.“ Nora nahm all ihren Mut zusammen.

„Das wäre super. Wir sind auf der Suche nach den Unterlagen von meiner Freundin hier.“ Aurora sah den kleinen Engel an. An wen erinnerte dir das Mädchen?

„Wie heißt du denn und wie alt bist du?“ Eingeschüchtert sah das Engelchen sie an.

„Ich heiße Verena. Verena Darling und ich werde bald zehn Jahre alt.“ Aurora schluckte, als sie begriff, wer da vor ihr stand.

„Es tut mir leid, Verena, aber deine Unterlagen sind nicht hier, sondern beim Chef. Er möchte, dass du dein Geheimnis selbst löst und daraus lernst. Oh, es tut mir leid, ich muss los. Der Chef wartet auf mich.“ Verena und Nora sahen sich überrascht an. Was war das für ein Geheimnis? Wie sollten sie es lösen? Sie waren doch Kinder.

„Meinst du, wir können beim Chef vorbeischauen und ihn fragen?“, überlegte Nora laut, als sie mit Verena in ihr gemeinsames Zimmer lief.

„Ich glaube nicht, dass wir da einfach so hinkönnen. Das dürfen nur die Erwachsenen. Leider habe ich auch keine bessere Idee.“

„Aber ich. Ich frage einfach meine große Schwester, was passiert ist. Sie war damals so alt wie wir jetzt und wird es bestimmt wissen. Dein Name scheint ja bekannt genug zu sein, so wie Aurora darauf reagiert hat.“ Verena überlegte. Wollte sie es tatsächlich erfahren?

„Versprich mir bitte, dass wir Freunde bleiben, egal was damals passiert ist. Ich würde es ohne dich hier nicht aushalten.“

„Versprochen. Du bist meine beste Freundin und so schlimm wird es schon nicht sein. Du könntest doch nie jemandem wehtun. Lass mich nur machen.“ Verena nickte, aber ein blödes Gefühl in ihrem Magen blieb. Was wenn es doch schrecklich war?

„Verena, was träumst du denn vor dich hin?“ Die Kleine schreckte hoch. Kassandra hatte sie erneut ertappt. Verzweifelt beschloss sie, die Wahrheit zu sagen.

„Es tut mir leid. Ich habe nachgedacht. Sie deuten immer wieder an, dass ich was Schreckliches getan habe, aber niemand sagt mir was das war. Wie soll ich einen Fehler in Zukunft verhindern, wenn ich keine Ahnung habe, was damals passiert ist.“ Kassandra kämpfte mit sich, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Raus“, sagte sie. „Der Unterricht ist heute für dich beendet.“ Verena wurde blass.

„Ja aber, warum denn? Ich verstehe es nicht.“ Weinend rannte sie aus der Klasse in ihr Zimmer. Nora sprang auf, um ihr zu folgen, doch Kassandra hielt sie zurück.

„Nein, lass sie bitte in Ruhe. Das muss sie mit sich alleine ausmachen.“ Nora setzte sich wieder und hoffte, dass die Stunde bald endete, um mit ihrer Schwester zu reden. Als das Glöckchen ertönte, rannte sie raus. Sie fand sie im Speisesaal der Schule.

„Rhea, endlich habe ich dich gefunden, ich muss dich sprechen, sofort.“ Rhea sah ihre kleine Schwester an.

„Was ist denn los? Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss mich auf meine Abschlussprüfungen vorbereiten, also komm auf den Punkt.“

„Du kennst doch meine Mitbewohnerin Verena. Weißt du, warum Kassandra so streng zu ihr ist? Sie soll etwas bestimmtes lernen, aber keiner will uns sagen, was das ist.“ Rhea runzelte die Stirn.

„Wie sagtest du heißt sie? Verena? Du meinst aber nicht Verena Darling, oder?“

„Doch, genau die meine ich. Du weißt also, was es damit auf sich hat?“ Noras Herz raste. Da fiel ihr auf, dass es im Saal still geworden war und alle sie ansahen. Rhea war das ebenfalls aufgefallen. Sie nahm ihre Schwester am Arm und zog sie nach draußen.

„Ich will, dass du mir genau zuhörst, verstanden? Dieses Mädchen ist kein Umgang für dich. Sie sollte vor einigen Jahren einen Schützling betreuen und dieser wäre fast gestorben, nur weil sie eingeschnappt war. Daraufhin hat der Chef sie zurückgestuft.“ Nora wich die Farbe aus dem Gesicht. Das konnte nicht sein. So was hätte Verena niemals getan. Oder?

„Bist du dir sicher? Ich meine, ich kenne sie schon lange und sie ist meine beste Freundin. Wenn es wirklich so war, dann verstehe ich, warum Kassandra so streng zu ihr ist.“

„Nichts verstehst du. Kassandra war damals noch der Schutzengel von Maria und ist es auch wieder. Sie kann es ihr nicht verzeihen, was damals passiert ist, und ich kann sie verstehen. Ich will, dass du dich von dieser Verena fernhältst. Verstanden?“ Nora nickte.

„Ja, aber ich wohne mit ihr zusammen. Wie soll das gehen? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.“

„Lies doch das Buch, das Maria geschrieben hat. Es heißt „Schutzengelstreik“. Du findest es sicher in der Bibliothek.“ Rhea ließ ihre Schwester stehen. Nora konnte es nicht fassen. Ihre Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Schweigend machte sie sich auf den Weg.

 

„Aurora“, rief sie, als sie die Bibliothek betrat. Langsam schwebte diese herab.

„Was kann ich für dich tun, Nora?“

„Ich bin auf der Suche nach dem Buch „Schutzengelstreik“ von einer Maria. Hast du das?“ Aurora nickte.

„Ja, das habe ich da, warte einen Moment, ich hole es dir.“ Sie schwebte zu einem der hinteren Regale und kam einen Augenblick später zurück.

„Hier ist es. Ich bin sicher, dass es all eure Fragen beantworten wird.“ Nora nahm es entgegen und sah es sich an. Das Cover war schlicht gestaltet, doch der Klapptext klang interessant.

„Stimmt die Geschichte, wie sie in dem Buch steht“, fragte Nora.

„Ja, das Ganze ist genau so passiert. Ich muss es wissen, denn ich war dabei.“

Nora machte sich auf den Weg in ihr Zimmer und las schon beim Laufen. Aufgeregt verschlang sie die Seiten, bis sie zum Kapitel von Verena kam. Als sie ihr den Raum betrat, lag ihre Freundin auf ihrem Bett und in dem Moment, in dem diese aufsah, fiel Nora sofort das verweinte Gesicht auf.

„Ich habe die Antwort auf unsere Fragen gefunden. Diese Maria hat ein Buch darüber geschrieben, was damals passiert ist. Ich habe schon angefangen, es zu lesen, und bin bis zu dem Kapitel über dich gekommen. Wollen wir gemeinsam weiterlesen?“ Verena stand auf und setzte sich neben ihrer Freundin auf das Sofa. Zusammen verschlangen sie die dreißig Seiten. Als sie fertig waren, schluckte Verena.

„Ich, ich war ein Monster. Ich wäre fast zur Mörderin geworden. Was habe ich getan. Kein Wunder, dass Kassandra mich hasst. Und du jetzt sicher auch, oder?“ Ängstlich sah sie Nora an, doch die schüttelte den Kopf.

„Nein, ich hasse dich nicht. Es ist schrecklich, was damals geschehen ist, aber das warst nicht du. Es war eine frühere Version von dir. Du hast dafür deine Strafe bekommen und damit ist das für mich erledigt. Du hast dich positiv verändert und es ist nicht fair, dass du heute noch dafür büßen musst. Wir sollten mit Kassandra reden. Los, komm!“ Nora sprang auf und rannte zur Tür, aber Verena blieb schweigend sitzen.

„Was ist? Du willst doch, dass es für dich besser wird, oder?“

„Ja, einerseits schon, aber ich habe es verdient. Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Warum sollte sie mir noch eine Chance geben?“

„Warum sollte sie nicht? Der Chef hat dir eine gegeben und das nicht ohne Grund. Er scheint sicher zu sein, dass was Gutes in dir steckt und das denke ich auch.“ Verena lächelte zaghaft und stand auf. Ihre Freundin hatte recht. Sie wollte es zumindest versuchen.

„Kassandra, können wir kurz mit dir sprechen“, fragte Nora, nachdem sie diese im Klassenzimmer gefunden hatten.

„Sicher, was kann ich für euch tun?“ Ihr Blick fiel auf das Buch, das Nora in der Hand hielt. Ihre Augen verdüsterten sich.

„Wir wissen, was damals mit Maria passiert ist und was Verena getan hat. Aber das war eine Andere, sie hat sich seit dem verändert und gebessert. Sie ist meine Freundin und es geht ihr nicht gut, weil du ständig auf ihr rumhackst.“ Kassandra traute ihren Ohren nicht. Nora sah, wie ihre Lehrerin innerlich kochte.

„Ich mache bitte was? Es ist eine Frechheit, dass du mir das unterstellst. Es ist meine Aufgabe, euch auszubilden und gute Schutzengel aus euch zu machen. Wenn ihr nicht aufpasst, oder euch daneben benehmt, ist es meine Aufgabe, euch darauf hinzuweisen. Geht jetzt. Ich habe zu tun.“ Kassandra wandte sich ab und schrieb weiter an die Tafel. Aber es arbeitete an ihr. War sie zu streng gewesen? War sie immer noch wütend auf Verena?

Als Nora und und ihre Freundin wieder auf dem Flur standen, überlegten sie, wie es weitergehen sollte.

„Was machen wir jetzt?“ Verena zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Ich würde gerne das Buch komplett lesen, um zu erfahren, was aus Maria geworden ist.“ Sie gingen zurück in ihr Zimmer und lasen die Geschichte weiter, bis es Zeit zum Abendessen war. Als sie kurz darauf den Speisesaal betraten, wurde es still im Raum. Alle sahen zu den beiden kleinen Engeln herüber. Verena wurde rot. Am liebsten wäre sie weggelaufen.

„Nora, warum starren die uns alle an? Ich komme mir wie ein Alien vor.“

„Hole uns doch schon unser Essen, Verena. Ich kläre das.“ Sie ging entschlossenen Schrittes zu ihrer Schwester.

„Rhea, was soll das? Was ist hier los? Warum starren uns alle an?“

„Mach hier nicht so einen Wind, du Zwerg. Was interessiert dich das?“ Nora kochte vor Wut und brüllte ihre Antwort heraus.

„Weil du die Einzige bist, mit der ich darüber gesprochen habe. Gib es zu. Hast du es verraten?“

„Verraten? Nein! Aber ich habe die anderen gewarnt. Schließlich sollen alle erfahren, mit wem sie hier in der Ausbildung sind.“

„Du bist gemein. Ich hasse dich. Du bist hier der wahre Feind. Wegen Engeln wie dir geht es ihr schlecht. Du bist kein bisschen besser als sie früher. Du solltest dich schämen.“ Nora drehte sich um und lief davon. Sie war so sauer wie nie zuvor. Wie konnte Rhea das tun? Ihre eigene Schwester. Wenig später kam Verena nach.

„Es tut mir leid, dass du dich meinetwegen mit Rhea gestritten hast. Das wollte ich nicht.“

„Es ist nicht deine Schuld, dass sie so bescheuert ist. Mach dir keine Gedanken. Lass uns lieber weiterlesen. Ich möchte wissen, wie die Geschichte ausgeht.“

Beide Mädchen kuschelten sich zusammen auf ihr Sofa und lasen bis tief in die Nacht. Als sie das Buch durchgelesen hatten, sahen sie sich an.

„Ich bin froh, dass alles gut ausgegangen ist. Vielleicht bringt es was, wenn ich mich bei Maria entschuldige. Wenn sie mir verzeiht, können es die anderen bestimmt auch.“

„Das ist eine gute Idee, aber wie willst du das machen? Wir dürfen noch nicht auf die Erde runter und sie wird nicht hierher kommen können. Wir brauchen auf jeden Fall Hilfe.“

„Wie wäre es, wenn ich Aurora frage? Sie ist ja der Schutzengel von Marias ältester Tochter.“

„Nein, ich glaube, das bringt nichts. Sie wird sich da raushalten. Du wirst mit dem Chef sprechen müssen.“

„Ich kann doch nicht einfach bei ihm auftauchen. Ich bin noch kein fertiger Schutzengel.“

„Lass es uns versuchen. Morgen nach dem Unterricht gehen wir zu ihm. Ich komme mit.“ Verena sah ihre Freundin unsicher an.

Beide konnten es kaum erwarten, dass am nächsten Tag das Glöckchen zum letzten Mal läutete. Als der Unterricht beendet war, standen sie gleichzeitig auf und rannten los. Als sie vor dem Büro des Chefs ankamen, waren sie schrecklich nervös. Nora nahm all ihren Mut zusammen und klopfte an.

„Kommt rein, meine Lieben“, ertönte eine sanfte Stimme. Nora nahm ihre Freundin an die Hand und sie traten ein.

„Bitte entschuldigen Sie die Störung, wir brauchen Ihre Hilfe“, sagte Nora.

„Guten Tag, ihr zwei. Es freut mich dich wiederzusehen Verena und Nora hast du auch mitgebracht. Wie kann ich euch helfen?“ Verena atmete tief durch, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.

„Ich habe das Buch von Maria gelesen und weiß was ich getan habe. Alle anderen wissen es auch und ich will es wieder gut machen. Mich bei ihr entschuldigen, aber ich weiß nicht wie.“

„Was meinst du damit, dass alle es wissen? Woher? Und wie möchtest du dich entschuldigen?“

„Ich fürchte, das ist zum Teil meine Schuld. Ich habe meine Schwester gefragt, was es mit der Geschichte um Verena auf sich hat und sie hat es dann rumerzählt.“

„Ich verstehe. Nora, es ist nicht deine Schuld. Du wolltest helfen und kannst nichts für deine Schwester. Bitte mach dir deswegen keine Vorwürfe. Und Verena, ich verstehe deinen Wunsch und finde die Idee gut, dass du dich entschuldigen möchtest. Bitte gib mir ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken. Kommt morgen nach der Schule wieder her, dann besprechen wir, wie das umgesetzt werden kann.“

„Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen. Damit tun sie mir einen großen Gefallen.“

„Gerne ihr Lieben. Bitte geht auf euer Zimmer und macht eure Hausaufgaben. Vielleicht kannst du Verena etwas helfen Nora, dann bekommt sie weniger Ärger mit Kassandra.“

„Das mache ich gerne. Sie ist meine beste Freundin und ich möchte, dass sie wieder Lachen kann.“

„Du hast mich gerufen Chef?“ Kassandra schwebte in den Raum und sah gespannt auf das Licht.“

„Ja. Ich brauche einen Rat von dir. Verena war vorhin mit Nora bei mir. Sie möchte sich bei Maria entschuldigen und sucht einen Weg, wie sie das umsetzen kann. Hast du eine Idee?“

„Ich? Nein! Ich bin der Meinung, dass wir Verena so weit es geht, von ihr fernhalten sollten. Du weißt doch selbst, wie es das letzte Mal war, als sie aufeinandergetroffen sind. Es hätte Maria fast das Leben gekostet.“

„Du hast ihr also wirklich nicht verziehen. Was ist mit Maria? Ist sie noch böse auf Verena?“

„Keine Ahnung. Darüber reden wir nie. Wozu auch? Es ist vergangen und wir haben damit abgeschlossen. Maria hat vier Kinder und ist glücklich mit Johannes verheiratet. Ich glaube nicht, dass sie darüber noch nachdenkt.“ Das Licht flackerte.

„Ich danke dir für deine Offenheit. Ich werde mir darüber Gedanken machen. Ich hoffe, dass du es Verena nicht spüren lässt, wie wütend du auf sie bist.“

„Nein, natürlich nicht. Ich bin Lehrerin und keine Richterin. Hat sie was anderes behauptet?“