Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies ...

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1. Sonntag (Erdenzeit) – Wie in Zeitlupe

2. Dimanco (Sonntag) - wo ist José?

3. Dimanco (Sonntag) - Ankunft

4. Dimanco (Sonntag) - ein überwältigender Empfang

5. Dimanco (Sonntag) - ein Fluss ein Dorf ein Weizenfeld?

6. Dimanco (Sonntag) – Es brodelt

7. Lundo (Montag) – der Kreislauf

8. Maredo (Dienstag) - viele Himmel

9. Maredo (Dienstag) – Unbekannte Wesen

10. Merkredo (Mittwoch) – Merkredo - Beerdigung

11. Jaudo (Donnerstag) – Jaudo - Die erste Idee

12. Vendredo (Freitag) - Ich werde es noch bereuen ...

13. Sabato (Samstag) – Weit nach Mitternacht

14. Sabato (Samstag) – Warten auf den Erlöser

15. Epilog

16. Anhang

16.1 Quellen:

16.2 Belletristische Veröffentlichungen des Autoren

Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies

Von Stefan Wichmann

Feldstr 92

16761 Hennigsdorf

Buchcover:

Covergestaltung: (c) Stefan Wichmann

Buchbeschreibung:

Karina und José sind verliebt und werden kurzfristig von der Erde abberufen. Karina wird in der überirdischen Welt von Verwandten und Freunden in Empfang genommen. Einzig: José fehlt. Mit klopfendem Herzen begibt sie sich auf die Suche und entdeckt Erstaunliches.

Über den Autor:

Tja, nun. Einige Worte zu mir… Hm.

Also ich bin glücklich verheiratet, habe drei erwachsene Jungs, einen Teich mit 5 Goldfischen und einen Border Colli. Dazu kommen jede Menge Schnecken, Würmer und Ameisen, von dem anderen Getier mal abgesehen, das da durch meinen Garten kreucht.

Von daher ist mein Hobby …

“Moment, Moment! Hobby heißt laut Wikipedia, ich zitiere: ‘Freizeitbeschäftigung, die der Ausübende freiwillig und regelmäßig betreibt, die dem eigenen Vergnügen oder der Entspannung dient’.”

“Hm, ok. Also. Parasiten den Garaus zu machen und Unkraut zu zerstückeln ist nicht wirklich meine Obsession.

Ehrlich gesagt schreibe ich gerne Bücher und Rezensionen. Dazu gehört auch gern zu lesen, zu beobachten und zuzuhören. Und deshalb freue ich mich, mein neues Buch vorzustellen …”

“Stop. Das kommt später!”

“Ja doch…”

Aber jetzt mal ernsthaft:

Der glücklich verheiratete dreifache Familienvater und Border Collie Leinenhalter veröffentlichte Lyrik, mehrere EDV-Fachbücher und Romane. Seine Zutaten sind: Abenteuer, eine Prise Augenzwinkern und vor allem bei dem biblischen Roman „Jerobeam“ die Recherche. Er liebt Situationskomik in seinen Geschichten.

Fakten recherchiert er und bucht schon mal ein Seminar, beispielsweise bei der Fachhochschule der Polizei. Seine Erkenntnisse hierzu verarbeitete er im Buch „Uccellino, der Forensiker“. Hingegen reichten als Recherche zu seinem Slapstickwerk „Rainer Unsinn“ das tägliche Leben und auf die Spitze getriebene und zu Ende gedachte Handlungen. Für das Kochbuch warf er auch schon mal den Wasserkocher oder den Fön an ... :-)

Neben dem Abenteuerroman „Dorin der Erdwichtel“ erschien von ihm die Jugenderzählung „Wer nicht wagt, verliert“.

Privat engagierte er sich als Bezirkselternvertreter, im Kirchenchor und als ehrenamtlicher Prüfer bei der IHK und war in seinem Berufsleben häufig Ansprechpartner für Auszubildende und Praktikanten.

Anders als gedacht: Auf dem Weg ins Paradies

Von Stefan Wichmann

Feldstr 92

16761 Hennigsdorf

Buchcover:

Covergestaltung: (c) Stefan Wichmann

Autor:

Stefan Wichmann

Feldstr 92

16761 Hennigsdorf

-

info@Autor-Stefan.de

www.Autor-Stefan.de

1. Auflage, 2019

© 1.1.2019 Stefan Wichmann

Feldstr 92

16761 Hennigsdorf

Buchcover:

Covergestaltung: (c) Stefan Wichmann – alle Rechte vorbehalten.

Autor:

Stefan Wichmann

Feldstr 92

16761 Hennigsdorf

info@Autor-Stefan.de

www.Autor-Stefan.de

eBook im Format mobi über Amazon - KDP

Print über epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1. Sonntag (Erdenzeit) – Wie in Zeitlupe

Sonntag, 09 Uhr Weltenzeit.

Ich fasste mir auf den Bauch: „Boah, bin ich satt! Drei Brötchen zum Frühstück waren wohl doch etwas übertrieben. Dazu sind wir auch noch ganz schön spät dran!“

José lächelte mir zu: „Na, wir sind ja nicht im Kirchenchor. Da ist es egal, wenn wir etwas zu spät kommen.“ Trotzdem setzte er zum Überholen an. „Drei Brötchen?“ Er beschleunigte weiter, die Tachonadel erreichte langsam den roten Bereich. Endlich schaltete er. Wir flogen förmlich um die Kurve. Das machte am meisten Spaß, wenn wir in die Sitze gedrückt wurden und die Gurte uns hielten. Das gab uns einen Kick. Jedes Mal. Wir gingen in eine Linkskurve und überholten den blankpolierten Wagen vor uns. Ich sah kurz hinüber zu diesem hirnlosen ‚Sonntagsfahrer‘, wie ich diese trödelnden Wagen immer nannte, die mit lediglich 45 Stundenkilometern die Fahrbahn blockierten. José scherte vor der Kurve wieder ein. „Weißt Du das die Zahl drei eine göttliche Zahl …„

Ein Krachen und Bersten übertönte seine Worte. Die frontale Gewalt eines entgegenkommenden LKW drang in unseren Wagen, zersplitterte die Scheinwerfer, schob unseren Motor zu einem Blechhäufchen zusammen und zerfetzte in einem Sekundenbruchteil unseren Fahrgastraum. Das letzte was ich sah, war meine Brille, die mir vom Gesicht entfleuchte, als mich der Körpergurt zurückriss, sich der Airback aufbauschte und mir die Brille in`s Gesicht zurück schleuderte. Geile Technik!

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Es ging so schnell. So unheimlich schnell. Was mich betraf, spürte ich nicht einmal einen Schreck oder Schmerz im Gegenteil: Meine üblichen Kopfschmerzen waren weg, mein Körper nicht mehr so vollgefressen schwer wie eben noch. Vielmehr war ich in einer aufgeregten Neugier gefangen.

So schwebte ich durch den Raum und hielt Ausschau nach José, der ebenfalls aus dem Auto geschleudert worden sein musste.

So wie ich ihn kannte, grübelte er gerade darüber nach, wie viel PS der LKW wohl hatte. Aber wohin ich mich auch schaute: Er war nicht da!

„José!“ Hektisch schaute ich mich erneut nach allen Richtungen um. „Nein! Nein, nein, nein, nein!“ Erst realisiert ich, dass ich nicht schwebte oder noch immer flog, sondern, dass mein Körper, da unten im Autowrack eingeklemmt war. Neben mir saß José. Blutüberströmt klemmte er zwischen Sitz und Lenkstange. Etwas fehlte. Mr wurde schlecht vor Erschrecken, als ich realisierte, dass das Lenkrad nicht mehr da war. Das konnte doch nicht in José stecken? Er war gefangen im Metall unseres Wagens. So wie ich. Eine Hand war durch das Metall fixiert und ließ ihn sie ihn in unnatürlich verrenkter Position wie zum Gruß erheben. Wahrscheinlich hatte er die Hände noch abwehrend vom Steuerknüppel hochgerissen. Sein Körper war durch den Steuerknüppel auf dem Fahrersitz fixiert. Der Anblick war grausig. Und noch etwas stimmte hier nicht: Ich hörte jemanden schreien!

José konnte es ja nicht sein! Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass die Stimme aus dem LKW kam.

Durchdringend. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte in den LKW zu schauen. Schrie der Fahrer? Wo war er überhaupt? Mein Blick wanderte zum Fahrerhaus. Jaaa, richtig. Dort saß er. Der Träumer, der Blödmann, der Mörder! Unwillkürlich kniff ich die Augen zusammen, aber hassen konnte ich ihn nicht. So sehr ich es mir in diesem Moment auch wollte. Es klappte nicht. Sein LKW klebte rechtsseitig an unserem zerborstenen Wagen. Aussteigen konnte er also nicht.

Was mir auffiel war, dass ich immer weniger menschliche Gefühle spürte, sondern verstärkt so etwas wie verzeihende Liebe.

Unvorstellbar. Ich weiß noch genau, wie mir dieser Zwiespalt meiner Gefühle durchs Hirn schoss. Da ich diesen fetten, blöden, LKW fahrenden Klops in seinem gepolsterten Autosessel in diesem Moment nicht hassen konnte, schaute ich ihn mir wenigstens einmal an. Wie es aussah, war auch er völlig überrascht.

Zumindest riss er seine Augen vor Schreck und Grauen weit auf. Ein Mund, eine Nase, zwei Augen und komische dünne Strähnen auf dem Kopf. Unwillkürlich fuhr ich mir mit meiner Hand über meinen Kopf. Er war glatt und Höher geformt als der Kopf von diesem Blödmann. Und er hatte Angst. Das war ja schon mal etwas. Er starrte aus seiner Kabine herunter. Starrte durch seine Scheibe. Starrte auf unsere Leichen. An meiner linken Hand krabbelte etwas. Ich zog sie weg und schaute nach links. „Haaa“, machte ich vor Schreck als José vor mir stand. Verwirrt schaute ich zum Auto. Da hingen unsere Körper. Erst jetzt realisierte ich, dass ich nicht mehr in meinem Körper war. Wer war ich? Ein Geist? Eine Seele? Der LKW-Fahrer starrte noch immer auf die fleischlichen Körper, auf Karina und José. Ein junges Paar. 21 und 22 Jahre alt, verheiratet, ein Goldfisch, kein Kind. Gestorben eine Woche vor Totensonntag. Mit schossen komische Gedanken durch den Kopf: Sie würden immer eine Woche zu spät für uns beten; die Gläubigen aus unserer Kirchengemeinde. Wirklich komische Gedanken, die mir da durchs Hirn fleuchten.

 

Mir fielen Banalitäten auf: Die Scheibe des LKW spiegelte nicht, ich konnte alles superscharf erkennen. Das Gesicht des Blödmanns war aschfahl, die Augen panisch und sein Mund geschlossen. Dann konnte er aber nicht geschrien haben! Erst jetzt realisierte er wohl wirklich, was geschehen war. Wie in Zeitlupe erhoben sich seine Hände, verließen das Lenkrad, während sich sein Mund zu einer runden verzerrten Öffnung verzog und sein Gesicht zur Fratze werden ließ. Jetzt gesellte sich sein Schrei dumpf abgeschwächt durch seine metallene Fahrzeugkabine zu dem Schrei, der mir schon die ganze Zeit in den Ohren klang. Sie überlagerten sich, wurden eins. Aufmoduliert, hätte mein früherer Musiklehrer jetzt gesagt und ich hätte wie immer genörgelt, dass dies ja eher eine physikalische Sache wäre, das mit den sich überlagernden Frequenzen.

Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich bereits seinen Schrei gehört hatte, als er noch Gedanke gewesen, noch unausgesprochen war. Ich konnte also in die Zukunft hören! Es erstaunte mich nicht, ich nahm es einfach hin, überwältigt von der ganzen absurden Situation, dass ich überhaupt noch denken, beobachten, Nicht-Hassen konnte. Diese Genauigkeit all der Bewegungen, mit denen er seinen breiten Hintern schwerfällig zur Seite drehte, aus der Kabine wuchtete und seinen Körper hinterherzog, überraschte mich und schien mir gleichzeitig vollkommen logisch. Hinaus ins Freie! Klar, dass bei seinem Gewicht die ganze Fahrgastkabine ins Schaukeln geriet. Dies führte wiederum dazu, dass ein weiterer Splitter seines Scheinwerfers absprang und seinerseits fast wie in Zeitlupe einen kleinen Bogen beschreibend auf die Straße hüpfte, zweimal aufschlug und leise klirrend liegen blieb. Auch dies erfasste ich ruhig, ja, gelassen. Fast war ich enttäuscht, als das Dopamin in meinem Hirn die Botschaften wieder in Realzeit abspulte und weitere Splitter gewohnt schnell zur Erde purzelten.

Moment mal! Ich stand hier und beobachtete mich selbst? Meinen Körper?

Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wie konnte ein Botenstoff wie Dopamin noch auf mein Gehirn wirken, wenn ich bereits tot, nein, Geist war? Wie konnte ich einen Schrei hören, der sich erst noch durch das Vibrieren der Stimmbänder zu dem Laut formen würde, der schließlich durch die Bewegung von Gasmolekühlen den Druckunterschied bewirken konnte, auf den ein Ohr reagiert, in dem es den Schall einfängt und in die Gehörschnecke leitet? Hatte ich überhaupt noch eine Schnecke, wenn ich doch jetzt tot war? Warum spiegelte die Windschutzscheibe nicht, sodass ich sogar das Gesicht des Truckfahrers so genau hatte erkennen können? Mein Blick ging genau dorthin: zur Windschutzscheibe. Jetzt spiegelten sich die Schatten darin und verhüllten den Blick in das Fahrerhaus. War da noch eine zweite Person drin, fragte ich mich und war umso erstaunter, dass sich der Blick in das Innere sofort wieder freigab.

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich kam nicht in Hektik, ich bemerkte lediglich die Vielfalt, die mich mit einem Male zu vollständig umgab, dass ich den Eindruck erlangte, einen neuen Körper und viel mehr Aufnahmekraft, ja fast schon mystische Fähigkeiten entwickelt zu haben. Wahnsinn!

Hier stand ich nun und ließ mich gefangen nehmen von neuen Eindrücken. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich noch viel mehr als José von dem „Leben danach" gehört und gelesen hatte. Doch wo war das letzte Ereignis, das einen am Ende des Lebens bevorstand? Eigentlich erwartete ich jetzt einen Tunnel, in den ich gehen sollte und in dem mir mein Leben in Farbe mit meinen Taten vorgeführt würde. Und natürlich mit meinen Verfehlungen, um mich noch einmal so richtig schämen zu können für üble Nachrede und für dies und das. Einzig: Er kam nicht. Weder Tunnel noch Film.

Auch das Licht, in das ich eintreten sollte, erschien mir nicht. Während der Blödian fleißig schrie, drückte José meine Hand. Gemeinsam standen wir einfach neben den verunfallten Wagen und sahen zu, was passierte.

„Schau mal“, raunte er. Sein Finger zitterte leicht, als er auf ein kleines Wesen zeigte, das sich am Rande des Geschehens an den Metallsplittern ergötzte. Zärtlich strich es über die Oberfläche, doch das war es nicht, was uns so erstaunte. Denn es war kein Mensch. Durchsichtige Flügel hielten es in der Luft, der Körper war schlank und anmutig, die langen blonden Haare flatterten im Wind, wie auch das angegraute Gewand, das es trug.

„Eine Fee, glaube ich“, flüsterte ich. „Wir sind gestorben. Wir bewegen uns im übernatürlichen Raum.“

„Was ... Wo?“, flüsterte José zurück.

Sie sprang auf eines der verbogenen Enden, bis dieses abbrach und scheppernd zu Boden fiel.

Gefasst schauten wir uns an. Unsere Hände tasteten zueinander und wir hielten uns so, wie wir uns die ganzen Jahre über festgehalten hatten.

Wann immer möglich, durchlebten wir alles gemeinsam, sofern die Arbeitszeit uns nicht trennte. Ansonsten aber genossen wir das Leben, die Sonne, die Natur! Jetzt sogar dies, den Übergang in die neue Welt, ins Totenreich, ins Paradies.

„Das im heiligen Buch beschriebene tausendjährige Friedensreich ist längst vorbei und erscheint vielen wie ein Mythos. Viele hatten sich wieder abgewandt von der Lehre der Priester. Viele, das hieß nach Hochrechnungen etwas die Hälfte der Menschen, die dem Glauben nach nicht in eine glückliche Ewigkeit ziehen würden. Aber ehe du in das Paradies oder in die Hölle kommst, bist du wie auf einem Zwischenbahnhof“, erklärte ich José.

Bei diesem Gedanken tat sich etwas. Wir entschwanden. Ich sah, wie José sich in einem Nebel langsam auflöste. Sicher tat ich es ihm gerade nach. Wir wurden in eine Ewigkeit gezogen, daran glaubte ich fest. Fast schade, dass ich nicht mehr erfahren würde, wie es mit dem LKW-Fahrer weitergehen würde. Und doch fühlte ich, das etwas nicht stimmte. José’s Neugier hielt ihn gefangen. Ich fühlte gleichzeitig, dass mich dieses Geschehen binden würde. Binden an die Normalität. Binden an dieses Leben. Ich würde nicht eintreten können in das Ziel, das meinen Glauben ausmachte, weil wir etwas Neuem begegnet waren und José seine Neugier befriedigen musste. José blickte sich noch einmal zu mir um. „Lass los“, sagte ich sanft, doch ich wusste, er konnte nicht anders. So blieb ich auch, als Geist zwischen den Welten und wusste noch nicht, welche Rolle wir spielen würden.

2. Dimanco (Sonntag) - wo ist José?

Der harte Untergrund wich einem sandigen Boden! Erstaunt schaute ich nach unten. Ja, dort war jetzt warmer, sandiger Boden. „Das passt", dachte ich, „weil wir ja jetzt in das Paradies kommen!" Wieso ich gerade auf das Paradies kam, vermochte ich nicht zu sagen. Ich fühlte Glück und Frieden, als sich um mich herum die Welt änderte. Mit einer unvorstellbaren Behaglichkeit schaute ich zu José, dessen Gesicht sich zu einer Fratze verzog. Er reckte seine Hand zu seinem Körper, als wolle er wieder in ihn hinein. „José, lass los. Du must das alte Leben loslassen“, sagte ich sanft. Ich spürte die Kraft, die an mir, an meiner Seele zog, um mich endgültig vom Fleisch zu trennen. Ich musste hierbleiben und José helfen! Es begann wehzutun, als ich mich gegen diese Kraft stemmte, die mich mitnehmen wollte, in die Ewigkeit an die ich zeitlebens geglaubt hatte. Mir wurde bewusst, dass mein wohliges Lächeln erstarb. Es rauschte um uns herum und gleichzeitig blieben die Blätter auf dem Boden der Erde reglos liegen. Ich kann es nicht anders beschreiben, als Sturm in einem Wasserglas. Wir waren drinnen gefangen und außerhalb war das bisherige Leben. Ich musste eine Entscheidung treffen. Jetzt!

3. Dimanco (Sonntag) - Ankunft

Die Sonne warf ihre Strahlen auf dieses Fleckchen, an dem ich stand. Aus Gewohnheit grub ich meine Zehen tief in den feinen Sand hinein. Mein Herz pumpte vor Freude, mein Blut puckerte, ich spürte es überall, so kribbelte es in mir. Ich konnte nicht erwarten, was jetzt wohl geschehen würde. Und jetzt, jetzt endlich wurde es hell um mich herum. Meinen Körper spürte ich nicht mehr. Er wurde leicht. Die Berührung mit José war verloren. Ich aber genoss diesen Augenblick, diesen herrlichen Moment des Lebens.

Vor mir öffnete sich eine neue Welt. Ich fühlte den Sand in einer Feinheit durch meine Zehen rieseln, die unbeschreiblich war. Völlig verwundert beobachtete ich das Schauspiel. Sandkorn für Sandkorn schlängelte sich durch meine Zehen und ließ diese noch tiefer in den warmen Boden hinein. Als ich einatmete, durchströmte mich eine Freiheit und Leichtigkeit, wie ich sie noch nie erfahren hatte. Tief zog ich die Luft in meine Lungen und genoss diese Frische. Langsam hob ich den Kopf und wagte einen Blick in mein neues Umfeld. Der Blick war weitläufig. Mich umgab pure Natur. Bunt, schillernd. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Ein Glücksgefühl durchströmte mich in einer warmen Welle.

Ich stand auf einer großen Lichtung. Vor mir lag ein Tal mit tiefgrünen Wiesen, die bis an den Horizont reichten. Links und rechts waren sie von blühenden Sträuchern und dahinterliegend von reichhaltigen Wäldern in den tollsten Grüntönen begrenzt. Über der Wiese lag ein feiner Nebel, der schnell in einen strahlend blauen Himmel überging.

Das alles nahm mich sofort gefangen. Dieser Ausblick mit all den warmen, fröhlichen und satten Farben war unbeschreiblich! Egal wohin ich schaute, zum Himmel, zum Boden oder in die Natur: Alles erstrahlte in einem so ausgefüllten Farbton, dass ich mich gar nicht sattsehen konnte! Dabei blendete weder die Sonne, noch die Vielfalt um mich herum. Ich konnte genießen. Einfach nur genießen!

Es gab keinen Gedanken an dies oder das. Kein Bangen um irgendwas.

Erneut sog ich die Luft ein. Sie fühlte sich an wie nach einem warmen Sommerregen. Sie war so rein, ja schien tatsächlich unberührt, dass ich nicht anders konnte, als einen Augenblick innezuhalten, die Augen zu schließen und zu staunen.

„Aaaah, tut das gut", seufzte ich endlich.

Im tiefsten Innern glücklich, öffnete ich die Augen. Um mich herum nahm ich schemenhaft Gestalten wahr. Sie drängten sich nicht auf, sondern warteten. Erst als ich innerlich bereit war sie in mein Leben zu lassen, näherten sie sich und wurden mit jedem Schritt, den sie näherkamen farbenfroher.

Es waren viele, die mich in Empfang nahmen. Eine große Anzahl kannte ich nicht einmal. Vermutlich waren wir uns im Erdenleben begegnet und hatten einander geholfen, so wie man sich halt mal hilft oder im Vorbeigehen grüßt. In diesem ersten Augenblick hatte ich nur Augen für meine Eltern, für Oma, Opa, Freunde und Freundinnen. Fröhlich umarmten wir einander. Alle hatten ein nettes Wort für mich oder stellten sich vor: „Hallo! Wie schön dich zu sehen!" – „Wie lange ist das her!" – „Ich habe immer auf dich aufgepasst, für dich gehofft und gebetet!" – „Einfach nur schön, dass du jetzt auch da bist."

Die freudigen Bekundungen stürmten auf mich ein, so dass ich gar nicht antworten konnte. Sie alle nahmen mich in den Arm, drückten mich und schauten mir durchdringend in die Augen. Mein Gott, selbst diese Blickkontakte waren viel intensiver als alles mir bisher bekannten. Vereinzelt klopften mir mittlerweile manche nur noch auf die Schulter oder gaben mir die Hand. Wir fanden lediglich für kurze Gesprächshäppchen Zeit.

„Sie sind damals für mich eingetreten, wissen sie noch?"

„Nein, ehrlich gesagt, … oh warten sie …, doch. Doch ich erinnere mich!" Verwundert erkannte ich, dass ein kurzes Innehalten und mich Besinnen mir auch die Erinnerung an längst vergessene Kleinigkeiten lieferte. Dies also war es für mich: mein eigener schwarz-weißer Film mit realen Personen. An manchen Stellen mit einem Glücksgefühl, an anderen Momenten mit dem schmerzenden Erkennen, was ich einem Mitmenschen oder Lebewesen angetan hatte. Besonders dann tat mir das Schulterklopfen wohl, denn ich fühlte: Ich hatte längst Vergebung erfahren.

 

„Mir hast du deinen Lebtag nicht verziehen", ertönte eine tiefe Stimme. Sie war mir bekannt. Zu bekannt, als dass ich wirkliche Freude empfinden konnte. Wohl auch aus diesem Grund fühlte ich, dass ich eher ein Bild des Schreckens abgeben musste. Erstarrt, ja verstört stand ich vor meinem ehemaligen Lehrer, der mich seinerzeit mit schnell hintereinander folgenden Fragen durch meine Abschlussprüfung in die Fünf gepeitscht hatte. Sofort kam die Erinnerung wieder hoch, wie ich gedemütigt vor dem Prüfungskomitee stand.

„Sie wussten genau, wo meine Schwächen lagen!"

„Ja."

„Das Referat, das ich gehalten hatte, haben sie einfach nicht bewertet. Sie sagten: Würden sie eine Note geben, wäre es für die Ausarbeitung eine Eins! Wie sagten Sie noch?", aufbrausend äffte ich ihn nach: „Aber ich gebe diesmal keine Note."

Meiner Kehle entrann sich ein Schluchzer, über seine Gemeinheit: „Wissen sie noch?"

„Ja."

„Sie haben sogar die Nachprüfung verhindert!"

„Ja."

Beide starrten wir uns an. Ich spürte, wie er mit sich rang, aber er war überzeugt, damals das Richtige getan zu haben. Mein Leben hatte eine andere Wendung genommen. Die Wendung, das wurde mir jetzt klar, die mein Schöpfer mir als Drehbuch vorgegeben hatte. Mit Inhalt und mit Leben hatte ich das Buch gefüllt, das war klar. War er nur Mittel zum Zweck gewesen? Ich spürte sein Dilemma und er spürte meines. Wir umarmten uns. Es war gut. Mit einem mal war alles gut.

Die anderen gaben uns Zeit, auch wenn wir nichts weiter aussprachen und doch wollte keiner von uns beiden die Anderen warten lassen. Er nickte mir zu und ich puffte ihn aus einer Eingebung heraus fast freundschaftlich in die Seite, bevor ich weitere Hände schüttelte oder wieder liebevoll auf viele Schultern klopfte, so wie sie auf meine klopften. Zu überwältigt war das Wiedersehen und doch, etwas fehlte! Ich sah mich suchend um.

„Wo ist José?", entfuhr es mir.

„Dein Freund?", flüsterte eine Stimme hinter mir.

„Ja! Wo ist José?" Meine Stimme überschlug sich leicht.

Etwas stimmte nicht.

„Nun komm doch erst einmal an."

Ich drehte mich um.

Aus dem bärtigen Gesicht meines alten Schulfreundes strahlten mir seine blauen Augen entgegen.

„Frank!"

Seine Lachfalten um die Augen verstärkten sich noch. Wir umarmten uns. Es war wie damals, als er in mich verschossen war. Ich löste die Umarmung vorsichtig, aber bestimmt. Wir standen uns gegenüber. Er hielt mich mit seinen fleischigen Händen an den Schultern.

„Karina, wie lange ist das her!"

Mir fiel auf, dass sich seine Lachfalten im Laufe der Zeit tief eingegraben hatten.

„Mensch Frank. Was bist Du braungebrannt. Was ist nur aus dem alten Stubenhocker geworden?"

„Stubenhocker?", gluckste er. „Wir waren doch ständig unterwegs! Wir haben doch das Leben genossen und alle Fünfe gerade sein lassen!"

Ich nickte. „War ja auch ironisch gemeint", murmelte ich und dachte: „Etwas immer noch der Alte?"

Insgeheim befürchtete ich in diesem Augenblick, in der Hölle gelandet zu sein. Frank hatte immer Dummheiten im Kopf gehabt. In einer Clique gibt es immer einen Clown und einen Blödmann. Frank war zumindest damals der Blödmann. Er war der, der ohne nachzudenken überhastete Aktionen einläutete und einen in eine missliche Lage brachte, ehe man erfassen konnte, was geschah.

Er drückte noch einmal meine Schultern, sah mir ins Gesicht und ließ mich zögernd los. Mit einem Mal war er sehr ernst.

„Du vermisst José. Du vermisst schon jetzt deine große Liebe, kaum dass du drei Minuten hier bist."

Seine Stimmlage verriet ihn. Ja, trotz allem mochte ich Frank irgendwie, aber José liebte ich. Schwerfällig nickte ich: „Woher weißt Du das?"

Die folgende Frage kam mir schwer über die Lippen: „Frank, Du bist gestorben, ehe du ihn kennenlernen konntest!"

„Ja, Scheißmutprobe damals."

Jetzt verrieten nur noch die fest eingekerbten Lachfalten, dass er immer seinen Spaß gesucht hatte. ‚Seinen Spaß‘, wiederholte ich in Gedanken. Aber er konnte auch ernst sein. Das wusste ich noch und es machte mir Angst, wenn er so war wie jetzt. Das verhieß schon damals nichts Gutes, wenn er so war.

„José ist nicht hier."

„Was heißt, er ist nicht hier!"

Meine Stimme klang etwas schrill.

Frank senkte den Kopf. Mit klopfendem Herzen schaute ich in die Gesichter aller Umstehenden. Ich schaute in die Augen meiner Familie, bis hin zu meiner Oma und meinem Opa. Erst jetzt entdeckte ich meine Tante, die sich schon seit jeher zurückgehalten hatte. Doch in diesem Moment hatte ich keinen Nerv sie zu begrüßen. Meine Gedanken waren auf José fixiert. Ich sah in den vielfältigen Gesichtern, dass sie mit mir fühlten. Offensichtlich kannten sie mich alle durch und durch. Vermutlich waren es viele meiner Vorfahren. Wegbegleiter, die wie ich und José selbst, sich zu Gott gehalten hatten. Ja, wir hatten an ein Leben nach dem Tod geglaubt und an ein ewiges Leben. Schneller als gedacht, hatte José und mich das Schicksal ereilt und unserem Glauben zum Schauen verholfen. Nur das jetzt José fehlte!

„Er war noch überzeugter als ich", hauchte ich tonlos. „Das kann nicht sein, dass er es nicht geschafft haben sollte!"

Jetzt umklammerten meine Hände Franks Schulter. Meine Gedanken formten ein bitterböses: ‚selbst du Frank hast es offensichtlich geschafft‘!

Er wirkte mit einem mal total bestürzt. Für einen Moment fiel er in sich zusammen, als hätte er meine Gedanken gelesen. Kraftlos öffnete er den Mund, schloss ihn wieder, fasste dann aber Mut und sprach es endlich aus: „Er hat es ja geschafft", murmelte er. „Nur nicht hierher …„

„Nicht hierher?", unterbrach ich ihn. Meine Stimme zitterte und er verstummte.

„Yep, Yep", bellte ein Hund. Kaum hatte ich ihn gehört, drückte er schon seine Schnauze an meine Beine. Eine Pfote trampelte mir auf dem rechten Fuß herum und dann warf sich dieser schwarz-weiße Hund gegen meine Beine.

„Flo'chen!", freute ich mich! Fast gleichzeitig schrak ich zurück. „Sie ist doch schon vor Jahren gestorben!"

„So wie Du jetzt gestorben bist", murmelte Frank.

Ich bezwang mich, schluckte schwer und ging in die Knie, um sie zu kraulen.

„Wahnsinn", raunte ich, obwohl meine Gedanken immer noch bei José waren. Trotzdem kraulte ich meinen früheren Hund, hielt ihm wie damals verspielt die Schnauze zu und er hob fast freundschaftlich die Pfote, um meine Hand sanft zurückzudrücken.

„Wahnsinn", wiederholte ich, obwohl ich die Situation nicht so recht genießen konnte. Auch wollte ich keinen Hund mehr, das hatte ich mir schon damals geschworen. Langsam stand ich auf. Flo'chen blickte zu mir auf, dann rannte sie los und entschwand meinen Blicken. „Wo rennt sie hin?"

„Sie wollte dich wohl nur kurz begrüßen", murmelte mein Vater. Meine Mutter stupste ihn wie schon in ihren Erdentagen so heimlich in den Rücken, dass alle es mitkriegten.

„Mam?", fragte ich, aber Frank sprach schon weiter.

„Alles was ich weiß ist, dass José dein Freund ist und ihr seit jeher alles geteilt habt. Keinen Urlaub, ja keine freie Minute, habt ihr voneinander getrennt verbracht, wenn es sich nur hatte vermeiden lassen." Er nickte wissend beim Sprechen. „Was hab ich ihn beneidet."

„Frank!"

Er holte tief Luft. „Jeder hat seinen Entwicklungsstand. Er wird noch etwas brauchen."

„Was wird er brauchen? Frank, rede doch endlich in ganzen Sätzen!"

Er lächelte gezwungen. „Tue ich ja. Du meinst, ich soll hintereinanderweg erzählen."

„Himmel nochmal, ja!"

Er stutzte. „Du wirst doch hier nicht fluchen nach nur fünf Minuten?"

Es war eine rhetorische Frage, aber er brachte mich mit seiner Art zur Weißglut. Ich hatte mir den Himmel immer perfekt vorgestellt. Ohne Ärger, ohne Probleme und ohne Frank. Mit stockte der Atem.

„Ich bin in der Hölle gelandet!", rief ich ernüchtert. „Nur José hat es in den Himmel geschafft!"

Dröhnend prustete Frank los, warf seinen Kopf in den Nacken und lachte so ausgelassen, dass sein gackerndes Glucksen seinen Körper durchrüttelte.

Ich wartete, aber die Zeit zerriss mich förmlich. Endlich schüttelte er verneinend den Kopf und wischte sich eine Träne aus einem Auge. Meine Mama nahm mich in den Arm.

„Kleines. José ist nicht hier", raunte sie behutsam.

Mein Vater mischte sich ein. „Ja, vielleicht ist er ja einen Schritt weiter als wir!"

„Das ist ja wieder typisch! Du betrachtest die tollsten Möglichkeiten. Was soll denn ‚weiter‘ sein oder ‚höher‘, oder ‚schöner‘ als das Paradies?" Meine Mutter betonte die Adjektive schnippisch.

„Ganz wie in alten Zeiten", entfuhr es mir. „Also doch Hölle. Warum seit ihr noch zusammen?"