Machtästhetik in Molières Ballettkomödien

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Machtästhetik in Molières Ballettkomödien
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Stefan Wasserbäch

Machtästhetik in Moilères Ballettkomödien

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0016-8


Inhalt

  Widmung

  Motto

  Einleitung

 1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung1.2 Antike und frühneuzeitliche Quellen der Gattung1.3 Vorklassische und klassische Einflüsse auf die Gattung1.3.1 Das Französische Ballett1.3.2 Ballettmusik1.3.3 Barocke Dramentypen1.4 Die Herausbildung einer neuen Intermedialität – der nouveau langage théâtral1.5 Zeitgenössische Reaktionen auf und poetologische Reflexionen über die Ballettkomödie1.6 Ein Schauspiel als politischer art de plaire1.7 Ein Multimediaspektakel und seine Verortung in der Gattungslandschaft

 2 Ein Strukturmodell zum komischen Agon in der Ballettkomödie2.1 Dramenstruktur2.1.1 Die dramatische Kommunikationsebene – die figurale Interaktion2.1.2 Die theatralische Kommunikationsebene – die Interdependenz von Spielen und Schauen2.1.3 Die lebensweltliche Kommunikationsebene – die gesellschaftliche Kommunikation über das Fiktionale2.1.4 Die metadramatische Kommunikationsebene – die intermediale figurale InteraktionFazit2.2 Sujetstruktur2.2.1 Handlungsaspekte und Sujetstruktur2.2.2 Raison und déraison2.2.3 Ruse und bêtise2.2.4 Réalité und fictionFazit

 3 Agonale Strukturen in den Ballettkomödien3.1 Die moralische Weltanschauung der wahren Helden3.1.1 Le Bourgeois gentilhomme3.1.2 Les Fâcheux3.1.3 Les Amants magnifiquesFazit3.2 Die unmoralische Weltanschauung der Narren und Schelme3.2.1 … in der Komödie3.2.2 … im IntermezzoFazit3.3 Die amoralische Weltanschauung der komischen Helden und Harlekin-Figuren3.3.1 Le Mariage forcé3.3.2 Le Bourgeois gentilhomme3.3.3 Le Malade imaginaire3.3.4 La Princesse d’ÉlideFazit3.4 Komische Agonik und Zuschauerlachen

 4 Der komische Charakter oder die idée fixe als intérêt des amour-propre4.1 La Rochefoucauld und Molière – eine Annäherung4.2 La Rochefoucauld – Anthropologie und Gesellschaft4.2.1 La Rochefoucaulds anthropologisches Verständnis4.2.2 La Rochefoucaulds gesellschaftliches Verständnis4.3 Amour-propre und Individuum – Querschnitt einer Charakterstudie der komischen Helden4.3.1 La folie, c’est moi4.3.2 Moi, je m’aime infiniment4.3.3 Je suis un autre que moi4.3.4 Je ne t’aime que pour m’aimerFazit4.4 Amour-propre und Kollektiv – Intriganten, Helden, Nutznießer und Betrüger4.4.1 Affirmierende Intrigen4.4.2 Negierende Intrigen4.4.3 Überzeugende Heldentaten4.4.4 Nutznießer und BetrügerFazit4.5 Molières Anthropologie im Spiegel von Fiktion und Realität4.6 Anthropologie und Dramenstruktur – eine Zusammenführung

 5 Ästhetik und Ethos in den Ballettkomödien5.1 Freie Komik – Artistik5.1.1 Performance und performative Ästhetik in der Ballettkomödie5.1.2 Freie Performance des sprechenden Mimen5.1.3 Freie Performance des tanzenden Mimen5.1.4 Freie Performance des singenden MimenFazit5.2 Sozialkritische Komik – Satire5.2.1 Die Aristokraten5.2.2 Die Bourgeoisen5.2.3 Die FremdenFazit5.3 Moralistische Komik – Anthropologie5.3.1 Dorimènes makabres Spiel5.3.2 Die Doppelzüngigkeiten der Angélique5.3.3 Argans fausse mortFazit5.4 Zur Ästhetik multidimensionaler Komik der Repräsentation

 6 Absolutistische Kulturpolitik – zwischen puissance und plaisir6.1 Machtostentation – zur Politisierung der absolutistischen Festkultur6.2 Agenda-Setting – des Sonnenkönigs Wunschkonzert6.2.1 Die Grands Divertissements von Versailles und die comédies-ballets6.2.2 Enge Zeitraster6.2.3 Geschickte Themenwahl6.2.4 Tanzender KönigFazit6.3 Prologe und Finale6.3.1 Prologe6.3.2 FinaleFazit6.4 Die Ballettkomödie als ‚Schule der Schicklichkeit‘ im Spiegel des absolutistischen Machtdiskurses6.5 Machtästhetik

  Ausleitung

  Literaturverzeichnis Primärliteratur Sekundärliteratur Partituren

  Abbildungsverzeichnis

Nach vielen Jahren intensiver Forschung liegt sie nun vor: meine Dissertation. Damit ist es an der Zeit, mich bei all denjenigen zu bedanken, die mich in dieser Phase begleiteten.

Zu besonderem Dank bin ich meinen Bertreuerinnen verpflichtet. Ulrike Sprenger weckte in mir das Interesse an der französischen Klassik und unterstützte mich stets in vielerlei Hinsicht auf höchst konstruktive Art und Weise. Juliane Vogel möchte ich herzlich für ihre äußerst hilfreichen Anmerkungen und nicht zuletzt die anregenden Gespräche danken.

Ebenso geht mein Dank an Miriam Lay Brander, die mich mit bereichernden Ratschlägen in meinem Vorhaben unterstützte. Carmen Heck und Marlene Teetz danke ich für ihre wertvolle Hilfe bei der Literaturverwaltung. Eine weitere große Hilfe war Rainer Rutz, der mein Manuskript lektorierte. Für das originelle Cover danke ich herzlich Yury Vorobyev.

Bedanken möchte ich mich bei meiner Familie und Freunden, die mich auf meinem akademischen Weg begleiteten und unterstützten.

Ihnen allen gilt mein besonderer Dank.

„Quels Spectacles charmants, quels plaisirs goûtons-nous,

Les Dieux mêmes, les Dieux, n’en ont point de plus doux.“

Molière

Einleitung

Die Blütezeit der Ballettkomödie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich erklärt sich durch die kulturelle und politische Funktion, die diesem Unterhaltungsmedium zuteilwird. Die Ballettkomödie entspricht dem Wunsch der Zeit nach einem Universaltheater, das heißt nach einer Theatergattung, die sowohl tänzerische als auch musikalische Elemente in den Rahmen einer Komödie integriert und alle drei Kunstarten zu einem Gesamtkunstwerk vereinheitlicht: „Comme nous sommes dans un siécle“, so Donneau de Vizé, „où la Musique & les Balets ont des charmes pour tout le monde, & que les spectacles qui en sont remplis sont beaucoup plus suivis que les autres“1. Diesem Verlangen kommt Molière mit seinen Ballettkomödien nach, die einen Großteil (ca. 40 Prozent) am Gesamtwerk des Dramatikers ausmachen.2 Das Innovative an diesem hybriden Genre ist, dass Molière gewillt ist „de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie“ (LF3, 150), wie er im Vorwort zu Les Fâcheux, seiner ersten comédie-ballet, programmatisch erläutert. Er verwirklicht damit das antike Ideal der Künstefusion in seinem klassischen Gesamtkunstwerk. Es ist letztlich der multimediale Charakter, der maßgeblich zur Lebhaftigkeit der Ballettkomödie beiträgt und für einen hohen Unterhaltungswert am königlichen Hof sorgt.

 

Ferner ist im Zuge der Etablierung des absolutistischen Staates eine zunehmende Monopolisierung der Kultur zu konstatieren, infolgedessen den eingesetzten Künsten eine unmissverständliche politische Funktion zugesprochen wird. Vor dem Hintergrund dieser, bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Kardinal Richelieu etablierten Kulturpolitik repräsentiert die Geschlossenheit der Ballettkomödie die absolutistische Herrschaftsform und verhilft ihr zu einem national-einheitlichen Kulturbild Frankreichs. Molières Ballettkomödien sind nunmehr Teil der absolutistischen Machtostentation und tragen zur Kulturpolitik Ludwigs XIV. bei. Die Korrelation von Staatsführung und Kunst soll als Leitgedanke der vorliegenden Studie dienen und unter dem Begriff der ‚Machtästhetik‘ zusammengefasst werden. Dieses duale Konzept subsumiert die machtverklärenden wie auch ästhetischen Ansprüche der Ballettkomödie; es ermöglicht eine interdisziplinär ausgerichtete, dem Untersuchungsgegenstand angemessene Betrachtung mithilfe literatur-, theater- wie auch kulturwissenschaftlicher Methoden: Die Studie beleuchtet im Kontext absolutistischer Kulturpolitik eingehend die politischen Machtdiskurse und gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie deren artistische Repräsentation und Funktion in Molières Ballettkomödien. Sie ist gewillt, ein neues Verständnis von Molières Kunst unter der Prämisse eines aktiven Beitrags zum System der absolutistischen Repräsentation Ludwigs XIV. – einer Ästhetisierung der Macht – aufzuzeigen. Obschon des Öfteren in der traditionsreichen Molière-Forschung versucht wurde, die klassische Gesellschaft mithilfe von Molières Komödien zu rekonstruieren, wurde lediglich bei gelungenen Interpretationen der Hintergrund der klassischen Kultur respektive Politik miteinbezogen. Jedoch wurde bislang eine soziokulturelle Lesart speziell der Ballettkomödie, ihre genrebedingte Performance wie auch ihr politisches Wirkungsspektrum im Sinne einer auf dem Phänomen der Komik sich konstituierenden Machtästhetik nicht ins Zentrum der Analysen gerückt. Diese Desiderate sollen mit vorliegender Studie erschlossen werden.

Molières hybrides Genre fordert seit jeher – und bis heute – Philologen heraus, wenn es darum geht, dieses zu definieren beziehungsweise eine Gattungspoetik für dieses zu verfassen. Der Grund hierfür ist im Mangel einer Poetik zu finden; es existiert kein von Molière geschaffenes literaturtheoretisches Regelwerk, sodass sich die Poetik der Ballettkomödie aus der Gesamtheit aller aus dem Dramentext selbst und aus dessen Paratexten erschließbaren Spezifika herleiten muss. In der aktuellen Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie Française von 2005 erscheint die comédie-ballet als Untereintrag zu comédie mit einer ungenauen Definition und einem falschen Beispiel: „Comédie-ballet, comédie entremêlée de danses. Psyché est une comédie-ballet.“4 Die Ballettkomödie ist weit mehr als eine Komödie mit Tanzeinlagen und Psyché ist eine tragédie-ballet. Diese stiefmütterliche Betrachtung der Ballettkomödie schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass erst in jüngster Zeit5 die umfangreichen Texte der Tanz- und Musikeinlagen in den Molière-Editionen erscheinen. Trotz einiger Schriften zur Gattung der Ballettkomödie – hierzu zählen insbesondere diverse Publikationen von Maurice Pellison6, Charles Mazouer7 und Stephen H. Fleck8 – liegt eine umfassende Gattungspoetik bis heute nicht vor. Hinsichtlich dieses Desideratums schickt sich die vorliegende Studie an, eine Gattungspoetik der molièreschen Ballettkomödie zum ersten Mal in umfassender Weise zu erstellen, mit dem Ziel einer Präzisierung der Definition wie auch einer Verortung des Genres in der aktuellen Gattungslandschaft. Dabei wird ein Hauptaugenmerk auf der Verzahnung der diversen Kunstsprachen liegen, die in ihrem Zusammenwirken zu einem facettenreichen Darstellungsrepertoire führen und eine neue Theatersprache im klassischen Theater herausbilden. Zudem interessiert in diesem Kontext die Intermedialität, der Homogenisierungsprozess von Komödie und Intermedium, die Dramatisierung und Theatralisierung von Musik- und Tanzeinlagen.

Nach Bestimmung des Forschungsgegenstandes wird zu klären sein, was die Machtästhetik konstituiert und wie sie sich auszeichnet. Hinsichtlich des eben Erwähnten spielt das der Komödie inhärente komische Moment eine Schlüsselrolle, wenn ich davon ausgehe, dass Komik als eine Schnittstelle zwischen Macht und Ästhetik fungiert. Ein fundamentaler Gedanke zu dieser These, der die Komikforschung von der Antike bis in die Neuzeit trotz sämtlicher Differenziertheit der Ansätze leitmotivartig durchdringt, lässt sich als ‚Theorie einer Normabweichung, des Fehlerhaften‘ im Sinne von etwas in verschiedengestaltiger Art und Weise ‚Atypischem‘ resümieren.9 Sonach ist das Komische Ausdruck einer Normabweichung, die sich in den Ballettkomödien im nichtkonformen Betragen einiger Figuren manifestiert. Diese opponieren mit den gültigen bienséance-Vorstellungen des Hofes und liefern sich untereinander wie auch mit den Vertretern der sozialen Schicklichkeit komische Agone. In einem der Gattungstypologie Rechnung tragenden Strukturmodell, bei dem die Assoziation von Sprache, Gesang und Tanz als Grundlage dient, werden die agonalen Strukturen hinsichtlich der Dramen- respektive Sujetstruktur aufgezeigt und das Möglichkeitsspektrum des komischen Agons festgelegt. Zudem soll das Wesen der klassischen Komik anhand dieses theoretischen Konzepts bestimmt und die lebensweltliche Reaktion des Lachens im funktionsgeschichtlichen Kontext von la cour et la ville eruiert werden. Diese strukturalistische Herangehensweise wird sodann mit einer anthropologischen Perspektivierung vertieft und komplettiert. Hierzu bedarf es einer detaillierten Analyse der komischen Helden mittels der Ideen zeitgenössischer französischer Moralisten, da ich davon ausgehe, dass der entfesselte amour-propre dieser Protagonisten als Urheber der konfliktreichen Intrigen bestimmt werden kann, ergo das zentrale komische Moment generiert, das sich in Form einer Normdivergenz in der Handlungswelt manifestiert. Das Etappenziel dieser Studie ist schließlich die Bestimmung der Komik in den Ballettkomödien anhand sozialanthropologischer Hintergründe und deren Verquickung mit der generischen Struktur der Ballettkomödie. Diese Ausführungen fügen sich unter nachstehender Prämisse in den Leitgedanken der Studie ein: Wenn die comédie-ballet für ideologische Zwecke eingesetzt wurde, dann müssen im Dramentext gewisse Strukturen insbesondere in der Konstitution der Komik – dem zentralen Phänomen dieser Ballettkomödien – auffindbar sein, welche die Instrumentalisierung der Ballettkomödien zur Machtostentation und -konsolidierung sicherstellen.

Auf diesen gewonnenen Erkenntnissen aufbauend wird eine gattungsspezifische Komikästhetik anhand des Dualismus von Ästhetik und Ethos unter Berücksichtigung artistisch-performativer, satirischer als auch anthropologischer Aspekte herausgearbeitet, womit die Überlegungen zur Machtästhetik fortgesetzt werden. Funktion und Wirkungsweise der Komik werden unter der Hypothese betrachtet, dass Molières Komik ein ästhetisches Konstrukt klassischer Ganzheit im Spannungsverhältnis von niederer und hoher Kunst widerspiegelt, von reinem Divertissement und tiefsinniger Belehrung – wie die divergenten Haltungen in der Molière-Forschung immer wieder erkennen lassen.

Zum Schluss der Studie werden die Überlegungen zur Komikästhetik in den Ballettkomödien fortgeführt, indem sie in den Kontext absolutistischer Kulturpolitik gesetzt werden. Die Ausführungen orientieren sich hierbei an Michel Foucaults Analytik der Macht10 wie auch an den Forschungsarbeiten zu den absolutistischen Repräsentationstechniken von Jean-Marie Apostolidès11, Peter Burke12 und Louis Marin13 und eruieren die machtpolitische Bedeutung im gattungspoetologischen Spektrum der Ballettkomödien. Diese Abschlussbetrachtung liefert letztlich ein Verständnis zur Machtästhetik in den Ballettkomödien.

1 Elemente einer Gattungspoetik der Ballettkomödie
1.1 Auftakt und Selbstverständnis einer neuen Gattung

Das 17. Jahrhundert gilt als das goldene Zeitalter des Theaters und des Balletts in Frankreich. Diese Blütezeit erklärt sich mit der gesellschaftlichen und politischen Funktion, die diesen Unterhaltungsmedien zuteilwird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass mit dem Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV. im Jahre 1661 nicht nur ein politischer, sondern auch ein gattungstypologischer Umbruch zu verzeichnen ist. Molière läutet am 17. August desselben Jahres im Park des Château de Vaux-le-Vicomte mit Les Fâcheux die Geburtsstunde einer neuen Theaterära ein. Paul Pellissons Prolog zu besagter Ballettkomödie apostrophiert in panegyrischem Gestus die Exklusivität dieser Komposition „[pour] le plus grand Roi du Monde“ (LF, 151):

Faut-il en sa faveur, que la Terre ou que l’Eau

Produisent à vos yeux un spectacle nouveau?

Qu’il parle, ou qu’il souhaite: Il n’est rien d’impossible:

Lui-même n’est-il pas un miracle visible?

[…]

Je vous montre l’exemple, il s’agit de lui plaire,

Quittez pour quelque temps votre forme ordinaire,

Et paraissons ensemble aux yeux des spectateurs,

Pour ce nouveau Théâtre, autant de vrais Acteurs.1

(LF, 151f.)

Diese programmatische Ouvertüre seiner neuen Kulturschöpfung inszeniert Molière archetypisch sowohl mit der Figur des Satyrn, der literaturgeschichtlich als Kulturbringer und Erfinder der Musik gilt, als auch mit der Figur der Najade, die nicht nur als Fruchtbarkeitsgöttin, sondern vor allem aufgrund ihrer prophetischen Kräfte geschätzt wird. Molière sollte diese prophetische Gabe im Sinne seiner artistischen Ausrichtung ebenfalls vergönnt sein. Er wird mit der prunkvollen Inszenierung seiner Ballettkomödie dem Zeitgeist des plaire wie auch dem königlichen Anspruch eines exklusiven Grand Divertissement gerecht, denn bis zu seinem Tode im Jahr 1673 sollte dieser spectacle nouveau zu den beliebtesten Kulturereignissen am französischen Hof werden und maßgeblich die absolutistische Kulturpolitik prägen.2

Doch worin besteht die poetologische und gattungstypologische Neuheit dieser inszenierten Kunstform? Einen zunächst pragmatischen Hinweis scheint der Avertissement zu Les Fâcheux zu geben, in welchem Molière erläutert, wie aus einer Not heraus, die Idee einer Kombination von Komödie und Ballett entstand:

Le dessein était de donner un Ballet aussi; et comme il n’y avait qu’un petit nombre choisi de Danseurs excellents, on fut contraint de séparer les Entrées de ce Ballet, et l’avis fut de les jeter dans les Entractes de la Comédie, afin que ces intervalles donnassent temps aux mêmes Baladins de revenir sous d’autres habits. (LF, 150)

Das schlichte Dazwischenreihen des Balletts stellt den Künstler nicht zufrieden; er erkennt schon frühzeitig, dass die Zusammenfügung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen nur gelingen kann, wenn der Verlauf der Komödie nicht gestört wird und Ballett und Komödie miteinander verschmelzen: „De sorte que pour ne point rompre aussi le fil de la Pièce, par ces manières d’intermèdes, on s’avisa de les coudre au sujet du mieux que l’on put, et de ne faire qu’une seule chose du Ballet, et de la Comédie.“ (LF, 150)

Die Herausforderung dieses Arrangements besteht darin, sowohl die Dramen- als auch die Sujetstruktur so anzulegen, dass die zwischen den Akten sich ereignenden Intermezzi oder ornements – wie sie Molière zunächst nennt –3 möglichst eng mit der Komödie verbunden werden können, womit ihnen selbst ein Aktionsmoment zugesprochen wird. Obschon die Intermedien für die dramatischen Vorgänge nicht immer zwingend von Belang sind, sind sie dramaturgisch dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Komödienhandlung wirkungsvoll vertiefen und akzentuieren.

Eine weitere ästhetische Anforderung resultiert aus dem inhärenten Anspruch, die drei Künste sowie deren Sprachen im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu harmonisieren. Es handelt sich hierbei nicht nur um die Synchronisierung der Dialogsprache der gespielten Komödie mit der Sprache des Tanzes, sondern auch um die Integration musikalischer Ausdrucksweisen, die häufig Teile der Komödie samt Intermezzi instrumentell unterlegen. Die hohe Einbettung künstlerischer Darstellungen in Form von Gedichtrezitativen, von Gesang- und Tanzepisoden sowie lazzi in die Mikrodramenstruktur4 der Komödie hebt die Ballettkomödie zusätzlich von herkömmlichen Komödien ab. Dieser Sachverhalt lässt erkennen, dass die Mikrostruktur die Makrostruktur des Genres widerspiegelt. Es ist von einer mise-en-abyme-Struktur der Ballettkomödie zu sprechen: Die comédie-ballet definiert sich durch sich selbst.

 

Die Heterogenität dieser Kunstwerke zeigt sich ebenso in der Problematik ihrer Bezeichnung, in ihrer Klassifikation, die schon zu Molières Zeiten Schwierigkeiten bereitete. So sind zunächst folgende Werkbetitelungen gewählt worden: comédie, comédie mêlée de danses et de musique, comédie mêlée avec une espèce de comédie en musique et ballet, comédie mêlée de musique et d’entrées de ballet, comédie galante mêlée de musique et d’entrées de ballet, ballet et comédie. Unter dem Terminus comédie-ballet lässt Molière nur das Lustspiel Le Bourgeois gentilhomme erscheinen, das in den Literaturkritiken als die Vollendung dieses Komödientypus Beifall findet und dessen Namenskompositum die Einheit der beiden Kunstformen zu erkennen gibt. Der Begriff sollte jedoch erst im frühen 18. Jahrhundert in der von Marc-Antoine Jolly zusammengestellten Werkedition adaptiert und definitiv für diesen Komödientypus festgelegt werden.5 Es dauert ein weiteres Jahrhundert bis der Begriff in den Dictionnaire de l’Académie française Eingang findet. Die Ballettkomödie wird 1832–1835 in der sechsten Edition des Nachschlagewerkes als Untereintrag zur Komödie angeführt und äußerst rudimentär, ohne Nennung eines repräsentativen Beispiels und Genrevertreters, definiert: „[C]omédie-ballet, se disait autrefois de Certaines comédies dont chaque acte se terminait par un divertissement de danse.“6 Anhand der Vielfältigkeit der ursprünglichen Komödienuntertitel, die unbestritten einen ersichtlicheren Hinweis auf die Spezifität des Genres geben als der Eintrag des Akademiediktionärs, lässt sich die von Molière intendierte Wesensart dieser Kunstwerke herauslesen: Sind es doch Musik, Tanz und Komödie, die das Genre bestimmen und es zugleich als solches definieren – drei Kunstarten verschmolzen zu einer. Hierbei gibt sich das absolutistische Prinzip der discordia concors der Zeit zu erkennen, welches sowohl auf das politische als auch das künstlerische Feld einwirkt.

Strukturell gesehen besteht die Ballettkomödie aus einer binären Anordnung von Komödie und Intermezzo. Alle Einlagen werden in die Komödienhandlung miteinbezogen, worin sich die Ballettkomödie vom einfachen Zwischenspiel unterscheidet.7 Während die Komödie das Ballett integriert, kann die Ballettkomödie als Ganzes selbst im Rahmen der absolutistischen Divertissements überdies in den ballet de cour integriert sein, wie zum Beispiel der Ballet des Muses belegt. Die Intermezzi reichen in der Ballettkomödie von kleinen Sketch-Einlagen, einfachen Tänzen, Pantomimen, Chören, Musikstücken und Rezitationen über Singspiele mythologischen und surrealistischen Charakters, pompös ausgestattete Balletttänze, burleske Typenstücke, fantasievolle und exotische Aufzüge sowie Pastoralen bis hin zu den großen karnevalesken Zeremonien der letzten beiden Werke dieses Genres, Le Bourgeois gentilhomme und Le Malade imaginaire. Die Tänzer der Hofballette sind in diesen Zwischenspielen allegorische und mythische Figuren, Schäfer in den Pastoralen, Menschen aus dem täglichen Leben und Leute aus den Provinzen oder gar aus exotischem Raum. Das Herausstreichen dieser Episoden – aufgrund aufführungstechnischer Engpässe des Theaters in Paris –8 führte zu einer Deformierung der gesamten Ästhetik und entsprach keineswegs der Absicht des Erfinders: „Ce que je vous dirai, c’est qu’il serait à souhaiter que ces sortes d’ouvrages pussent toujours se montrer à vous [les spectateurs, Anm. S.W.] avec les ornements qui les accompagnent chez le Roi“ (AM, 603), wie Molière im Vorwort zu L’Amour médecin für seine Reprisen ausdrücklich wünscht. Die verkürzten Versionen der comédies-ballets wurden von den Theatergängern nicht immer so euphorisch rezipiert wie die Uraufführungen, da die für den spektakulären Charakter der Ballettkomödien sorgenden Intermezzi fehlten. Zudem widersprechen die modifizierten Komödien ob ihrer defizitären Gestaltung dem Zeitgeist der Klassik, der Unterordnung der Teile unter ein harmonisches Ganzes.9 Anhand der negativen Publikumsreaktionen zu den prunklosen Ersatzvarianten lässt sich der kulturell datierte goût mondain10 rekonstruieren. Jenen trifft Molière nicht nur durch das harmonische Arrangement von Dramen- und Sujetstruktur beider Teile, sondern auch durch die Reichhaltigkeit der szenischen Gesamtrepräsentation, die sich am aufwendigen Bühnenbild, an der opulenten Kostümierung und der hohen Anzahl an Schauspielern, Tänzern und Musikern ablesen lässt. Zudem liegt das Novum des spectacle gerade in der selektiven Rollenbesetzung. Den im Eingangszitat erwähnten „vrais Acteurs“ ist eine doppelte Bedeutung zuzusprechen: Mit der Attribuierung „vrais“ wird nicht nur auf die Professionalität der Berufsschauspieler des Illustre Théâtre angespielt, sondern auch auf den Auftritt einer Gesellschaftselite, die sich in den Ballettkomödien lebensecht als Tänzer und Sänger in Szene setzt. Die großzügige Ausstattung für einen einzigen Festtag steigert neben der Tatsache, dass der König sowie ranghohe Adelige bei der Aufführung als Tänzer mitwirken, den Exklusivitätswert der Uraufführungen ins Unermessliche.11

Diese voropernhafte Inszenierung bedarf zur professionellen Umsetzung eines Expertenteams, das sich aus Jean-Baptiste Lully für die Musik, Pierre Beauchamp für das Ballett, Carlo Vigarani für die Bühnentechnik und Molière als Dramaturg, Regisseur, Schauspieler und Hauptkoordinator zusammensetzt.12 Dieses Künstlerquartett arbeitet in den 1660er Jahren Hand in Hand.13 Molières Dramentexte bilden die Grundlage der Spektakel und bestimmen die thematische Realisierung wie auch den Charakter der Veranstaltungen. Die Beiträge der anderen Künstler komplettieren, bereichern und nuancieren die Theaterstücke mit ihrem jeweiligen Kunsthandwerk. Lullys und Beauchamps künstlerische Individualität und Kreativität beeinflussen die musikalischen und choreografischen Stilmittel – den Einsatz von Ton- und Bewegungssemantik – und prägen in signifikanter Weise die Ästhetik der Zwischenspiele. Ihre Beiträge werden indes in die allgemeine Ökonomie des Schauspiels eingeschrieben und tragen zur Konstruktion der Gesamtbedeutung bei, deren Direktive das Privileg des Bühnenautors ist: Molière erdenkt sich die Totalität des Spektakels und die Integration der Ornamentik entsprechend der dramatischen Progression. Er war bei alldem nicht nur Initiator und Urheber der Ballettkomödie, sein Ableben besiegelt zudem das fast gänzliche Ende der Gattung.14 In diesem Sinne gehört die comédie-ballet zuerst und von Grund auf Molière.15

Bereits vor der Zusammenarbeit mit den genannten Künstlern sammelt Molière in seinem wenig bekanntem Ballett Les Incompatibles16 (1655) erste Erfahrungen in der Koordination von diversen Theatersprachen. Dieses Ballett verfasst und leitet er für den Prince de Conti in Montpellier – noch vor den Aufführungen seiner ersten Komödien in Paris. Das Werk ist in zwei Akte gegliedert, die inhaltlich jeweils mit einer Serie von gegeneinander agierenden Oppositionsfiguren versehen sind; zum Beispiel Un vieillard et deux jeunes hommes im vierten Entree des ersten Aktes oder L’Éloquence et une Harengère im dritten Entree des zweiten Aktes. Die Einheit des Balletts besteht im Sinne der im Titel erwähnten Programmatik im Zusammenbringen von Gegensätzen, um deren Kontrastwirkung theatralisch eindrucksvoll entfalten zu können. Es manifestiert sich schon in diesem simplen Ballett das für Molières Dramaturgie fundamentale Prinzip der komischen Agonik, das er in seinen Ballettkomödien weiter verfeinern und ausbauen wird. Zudem verweist das poetologische Konzept auf die komische Gesinnung seines Tanztheaters: „There are moments of comedy which point to the formidable talent to be displayed in later plays of Molière’s career.“17 Les Incompatibles ist ein experimentierfreudiges Frühwerk des Künstlers, das auf seine weitere Schaffensphase und auf seine späteren Ballettkomödien einen wichtigen Einfluss haben wird.

Aufgrund der von Molière nicht eindeutig mit comédie-ballet etikettierten Theaterstücke ist man sich über die Gesamtzahl der Ballettkomödien bis heute uneinig. In der Regel ergeben sich Probleme bei der Zuordnung der beiden Theaterstücke Mélicerte und Psyché: Es existieren keine genauen Daten hinsichtlich der Uraufführung von Mélicerte, ja es gilt nicht einmal als gesichert, ob dieses Theaterstück überhaupt aufgeführt wurde. Weitere Zweifel ergeben sich dadurch, dass es ein unvollendetes Werk ist, das aus zwei Akten besteht.18 Psyché ist als tragédie-ballet bezeichnet und sollte auch eher als eine Untergattung der Tragödie verstanden werden, weil sich die Balletttragödie sowohl thematisch als auch in ihrer tragischen Ausrichtung strukturell von den anderen Ballettkomödien unterscheidet. Des Weiteren ist anzuführen, dass es sich bei diesem tragédie-ballet um ein dramaturgisches Gemeinschaftswerk von Pierre Corneille, Philippe de Quinault und Molière handelt.19 Demzufolge kann derzeit unter Ausschluss der beiden angeführten Stücke von zwölf molièreschen Ballettkomödien im engeren Sinn ausgegangen werden.

Den zwölf Ballettkomödien entsprechen zwölf Aufführungstage für die jeweiligen Premieren, an denen sie so exklusiv erscheinen, dass ihre Reprisen fast immer Abstriche hinnehmen müssen. Zur Differenzierung werden die Erstaufführungen der zwölf comédies-ballets moliéresques am Hof in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff ‚Dodekameron‘ zusammengefasst. Es handelt sich hierbei um eine Kongruenz von Aufführungstagen und der Anzahl literarischer Werke. Für die anstehende Analyse der Theaterstücke ist es dienlich, sich dem idealen Aufführungsgeschehen weitestgehend anzunähern und dieses erscheint mir in den Aufführungsbedingungen des Dodekamerons am besten verwirklicht zu sein. Schließlich die Ballettkomödien in chronologischer Reihenfolge: Les Fâcheux (1661), Le Mariage forcé (1664), La Princesse d’Élide (1664), L’Amour médecin (1665), La Pastorale Comique (1667), Le Sicilien, ou l’Amour peintre (1667), George Dandin ou le Mari confondu (1668), Monsieur de Pourceaugnac (1669), Les Amants magnifiques (1670), Le Bourgeois gentilhomme (1670), La Comtesse d’Escarbagnas (1671) und Le Malade imaginaire (167420).