Der rote Elvis

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Invasion vom Mars

1960 begann sich die schwarze Musik in Richtung Soul zu entwickeln. Im schwarzen Amerika war ein neues Selbstbewußtsein erwacht und manifestierte sich sowohl in bürgerlichen Protestmärschen als auch in einem radikalen Spektrum.

Mit den Labels Motown, Stax und Atlantic Records etablierte sich erstmals ein schwarzer Sound, der auch von Weißen akzeptiert werden konnte und gleichzeitig den Black Panthers als Soundtrack diente. Die Musik brachte den Stein ins Rollen. Ende der Sechziger entlud sich der über Jahre angestaute Druck. Erst als aus der ursprünglich von der schwarzen Bevölkerung getragenen Free-Speech-Bewegung ein breiter Protest gegen den Krieg in Vietnam wurde, zogen Schwarz und Weiß an einem Strang.

Diese Gesamtentwicklung der Sechziger, die einen massiven Umschwung für die Gesellschaft bedeutete, hatte Dean Reed nur von außen wahrgenommen. Man könnte ihm vorwerfen, daß er sein Land verlassen hatte, als man dort engagierte, kritische Köpfe am dringendsten brauchte. Aber zu dieser Zeit wollte Dean Reed in erster Linie berühmt werden, und er schien sich auf dem besten Wege zu befinden. Für seine persönliche Geschichte ist es jedoch wichtig festzuhalten, daß er in gewisser Weise nicht nur musikalisch im Jahre 1960 stehenblieb. Mochte er sich auch weiterhin als Amerikaner fühlen, lebte er dennoch schon bald nicht mehr in diesem Land, sprach immer seltener Englisch und erfuhr von den Rassenunruhen in den USA später nur noch aus den Medien.

»Our Summer Romance« entwickelte sich im Laufe des Jahres in Südamerika zum Superhit. Südlich der USA war Dean Reed plötzlich populärer als Elvis, Frank Sinatra und Ray Charles zusammen, zumindest wenn man den Aussagen von Reed persönlich Glauben schenken möchte. Während man in Amerika kaum Notiz vom One-Hit-Wonder Dean Reed nahm, schien man ihn in anderen Teilen der Welt plötzlich zu schätzen. Immerhin bemühte sich Capitol Records bis 1961 vor allem intensiv um die Single-Veröffentlichungen in Chile. Für Capitol sollten sich die Investitionen endlich rentieren. Ein neuer Weg schien sich dem jungen Mann aus Colorado zu öffnen. Es gab noch andere Länder auf der Erde, und er war dort plötzlich populärer als daheim.

Als man ihm eine Tour durch Chile, Argentinien, Brasilien und Peru anbot, sagte er sofort zu. Das Ausland wartete auf ihn. Was für ein Abenteuer! Er erzählte keinem seiner Freunde oder Mitbewohner von der Tour und kaufte sich auf eigene Faust ein Ticket nach Südamerika. Im Februar 1960 hatte er dafür extra seinen Paß verlängern lassen und die amerikanischen Behörden von seinem Reiseziel unterrichtet. Er gab seine Größe mit sechs Fuß und einem Zoll an. Bei seiner nächsten Ausweisverlängerung erhöhte er um drei Zoll. Mit der Wahrheit nahm er es offenbar nicht ganz so genau.

2. Kapitel:
Unbarmherzig wie die Sonne

»It’s not the way it was, it’s the way it ought to be.

Es ist nicht so, wie es war, sondern so, wie es hätte sein sollen.«

(John Ford)

Am 9. März 1961 verließ Dean Reed den Flughafen von New York, um erstmals ins Ausland zu reisen und dort ein paar Konzerte zu geben. Er ließ Hollywood hinter sich, wo er sich erfolglos um Engagements bemüht hatte.

Als er in Santiago de Chile landete, zierte sein Gesicht bereits die Cover der Teenie-Gazetten. Bei der Zollkontrolle erfuhr er eine bevorzugte Behandlung, die sonst nur hochrangigen Persönlichkeiten zuteil wurde, und sein Aufenthalt glich beinahe einem Staatsbesuch.

Tausende seiner Fans warteten in der Ankunftshalle. Motorisierte Polizeieskorten mußten den Star vor dem Tumult schützen. Der Rundfunkwagen eines chilenischen Radiosenders verfolgte seine Limousine und verkündete live die aktuelle Position im Verkehrschaos. An den Fenstern winkten ihm die Menschen zu, und auch in seinem Hotel gegenüber dem Präsidentenpalast wurde er von einer tobenden Menge erwartet.

Als Dean Reed am nächsten Tag zu einem Radiointerview fahren wollte, blieb er mit dem Auto in der Masse seiner Fans stecken. Der Fahrer, ein rücksichtsloser Mann namens Zamora, bahnte sich mit dem Kühler den Weg durch die Menschenmenge. Dean Reed war empört und weigerte sich, mit dem Chauffeur weiter zu fahren. Ein paar Jahre später geriet Zamora mit Paul Anka in eine ähnliche Situation. Wieder gab der Fahrer einfach Gas und tötete einen der Fans.

Fortan ging der frischgebackene Superstar in Chile zu Fuß, und seine unbekümmerte Art verschaffte ihm zusätzliche Popularität. Sein Name leuchtete in großen Lettern von den Konzerthallen herunter, und er wurde von einer Party zur nächsten gereicht.


4. Dean Reed nach seiner Landung in Santiago de Chile, 1961

Dean Reed fand sich in der täglichen Routine eines Popstars wieder. Ununterbrochen gab er Autogramme, und sein Leben bestand aus einem steten Wechsel von Hotelzimmern, die er nur für ein paar Stunden Schlaf zu sehen bekam, und dem endlosen Akkord des Tourlebens. Morgens brauchte er einen Moment, um sich zu erinnern, wo er gelandet war und unter welcher Zimmernummer sein Tourmanager für die Nacht abgestiegen war. Chile liebte den Yankee mit dem Superhit. »Our Summer Romance« hielt sich in Südamerika angeblich das ganze Jahr in den Charts. In den alten Ausgaben der Zeitschrift »Billboard«, wo man auch die Hitparaden aus dem Ausland listete, lässt sich dafür allerdings kein Beleg finden. Alte Ausgaben chilenischer Teeniemagazine der 1960er belegen aber durchaus seine anhaltende Populaität zu dieser Zeit.

Dean Reed hatte zu diesem Zeitpunkt bereits drei Singles in Chile veröffentlicht und vier weitere sollten über den chilenischen Vertrieb von Capitol Records im Laufe des Jahres 1961 folgen. Das Label schien Dean Reed in Chile mit aller Gewalt etablieren zu wollen und veröffentlichte einige seiner Singles parallel auch in Spanien, Peru, oder Argentinien. 1961 erschien der Song »La Novia« z.B. auch bei Capitol Japan und vermutlich tauchen im Laufe der Jahre noch weitere Pressungen auf, aber lediglich in Chile galt Dean Reed plötzlich als Superstar.

Dean Reed tourte weiter und weiter durch ganz Südamerika. Er sah die Welt in neuem Licht. Für den rastlosen Cowboy in ihm schien es keine Grenzen zu geben. Jeder Tag war voll mit neuen Abenteuern und das ständige Unterwegs des Tourlebens war bei allen Strapazen um vieles aufregender als der Alltag im Hollywoodsumpf, der dem Jungen vom Lande nie wirklich gefallen hatte. Irgendwann kam Dean Reed dabei erstmals der Gedanke, dass er nicht nach Los Angeles zurück musste und er genausogut nach Südamerika umziehen könnte. Hier wollte man ihn sehen, ihn, den smarten Gringo mit dem großen Herzen, der so gut reiten und singen konnte. In Chile war er sogar so berühmt, dass er als ausländischer Unterhaltungskünstler einen Einfluss auf die öffentliche Meinung ausübte.

Präsident Superstar

Im November 1960 war John F. Kennedy zum Präsidenten der USA gewählt geworden und verhieß ein Ende der miefigen fünfziger Jahre. Kennedy hatte bereits 1957 den Pulitzerpreis erhalten, umgab sich mit Hollywood- und Mafia-Celebrities in gleichem Maße und war nicht nur optisch der völlige Gegensatz zu Nikita Chruschtschow, der im Vormonat seinen Forderungen in der UN-Vollversammlung Nachdruck verliehen hatte, indem er mit seinem Schuh auf das Rednerpult einhämmerte.

Richard Schickel schrieb in »Intimate Strangers: The Culture of Celebrity« (New York, 1985) mit Bezug auf das wahlentscheidende TV-Duell zwischen Richard Nixon und Kennedy: »Was wir hier haben, ist die Erkenntnis des Kandidaten und seiner Berater, daß traditionelle Verpflichtungen und Verbindungen innerhalb der Partei und unter den verschiedenen Interessengruppen im Zeitalter des Fernsehens für einen Wahlsieg und für eine Regierung im allgemeinen weniger wichtig waren als die Schaffung eines Bildes, das die Illusion von Männlichkeit und Dynamik vermittelte, ohne auf feste Sympathien verzichten zu müssen. Und genau das ist es doch, worin ein erfolgreicher männlicher Filmstar seine Aufgabe sieht.«

In den USA hatte man sich an die Unterhaltungsoffensive der Spektakel-Gesellschaft gewöhnt, bei jeder Gelegenheit wurde die Jugend des Präsidenten gepriesen, dem man sogar zutraute, daß er privat womöglich den Twist tanzte und »Negermusik« hörte. Während die konservativen Kräfte erörterten, ob der Twist überhaupt als Tanz gelten könne – immerhin wurde nicht paarweise agiert –, machte sich eine neue Lässigkeit breit, und der totale Jugendkult setzte ein. Jung zu sein war alles.

1961 gewann der Kalte Krieg eine neue Schärfe: der erste Mensch im Weltraum, ein 27jähriger Russe namens Juri Gargarin … die Invasion in der Schweinebucht auf Kuba … der Bau einer Mauer, die Deutschland in zwei Teile trennte … Die Nachkriegsgeneration warf ihre Fesseln ab. Das Fernsehen setzte sich durch. Erstmals erfuhr eine globale Generation die Gleichschaltung einer Bewußtseinsprägung durch die Medien. Rock ’n’ Roll wurde zur Revolte.

Der Einfluß von Celebrities auf die öffentliche Meinung wurde spürbarer. Selbst das Bürgertum hörte nun zu, was der Herr Popstar sagte. Berühmte Menschen waren der neue Adel, Hollywood der Olymp. Man bekam Politik in unterhaltsamer Form präsentiert, und nach Warhol drehte sich die Presselandschaft vor allem um Inszenierungen im Theater des Lebens und rückte die Superstars ins rechte Licht. Die Trennung von wirklichem und von den Medien künstlich erschaffenem Leben wurde immer schwieriger. Der perfekte Zeitpunkt für Dean Reeds Vision von einer besseren Welt.

 

Das Geheimnis des Erfolges

Der Mythos Dean Reed im Ostblock beruhte unter anderem darauf, daß er in den USA einst ein großer Star gewesen war. Diese Version wurde von den Medien verbreitet, seit Dean Reed 1965 erstmals in die Sowjetunion reiste. Immer wieder war die Rede von einer Nr. 2 in den US-Charts. Auch in der in der DDR erschienenen und von Hans-Dieter Bräuer aufgezeichneten Autobiographie »Dean Reed erzählt aus seinem Leben« hielt der Autor fest, daß der Song in Amerika ein großer Hit war: »Überall in den USA klingt das schlichte Lied aus den Lautsprechern«, hieß es da. Als Beleg dafür ist eine Playlist des Radiosenders KIMN abgedruckt. Dort stand »Our Summer Romance« am 4. Oktober 1959 tatsächlich auf Platz 2. Es handelte sich dabei aber lediglich um die Top 50 eines Senders aus Denver, Colorado. Die Playlist ist unterschrieben mit »Amerikanische Hitparade 1961: Der erste große Erfolg«.

Es dürfte nicht verwundern, daß der Mann aus Colorado zumindest in seiner Heimatstadt im lokalen Radiosender gespielt wurde, aber ein Beleg für den großen All-American-Hit ist dies nicht. Im Gegenteil. Mit dem Allerweltsbegriff »Hitparade« gaben Reed/Bräuer die Hitliste des Lokalsenders KIMN als nationale US-Charts aus. Auch wenn man Bräuer zugesteht, nicht im Detail mit der US-Radio-Kultur vertraut gewesen zu sein, Reed hätte dies wissen müssen – oder log vorsätzlich. Im Capitol-Newsletter vom 13. Januar 1959 hatte Dean Reed überdies einen gewissen Gene Price von KIMN als seinen Lieblingsmoderator genannt. Es scheint durchaus möglich, daß dieser sich für die gute Werbung revanchierte und Reed bei KIMN mit ›Airplay‹ in Denver unterstützte.

Es muß also festgehalten werden, daß lediglich die erste Single von Dean Reed, »The Search«, eine Woche lang einen Eintrag auf Platz 96 in den amerikanischen Billboard-Charts zu verzeichnen hatte. Unterste Top 100 aber war nun nicht ganz dasselbe wie oberste Top 10.

War also Reeds Erfolg in den USA eher mäßig, sah es in Südamerika ganz anders aus. Bei einer Wahl zum beliebtesten Popstar verwies Dean Reed 1961 den King of Rock ’n’ Roll in Südamerika mit 29.330 zu 20.805 Stimmen auf den zweiten Platz. Paul Anka schaffte es mit 17.548 Stimmen auf Platz 3, und Ray Charles führte mit 7.260 Stimmen auf Platz 4 die hinteren Ränge an. Von dieser Wahl blieb nur ein vergilbter Zeitungsausschnitt erhalten, den Reed bis 1984 bei Interviews vorzeigte, ohne daß je der Titel der Zeitschrift überliefert wurde. In seiner Biographie ist der Ausschnitt, untertitelt mit »Platz 1 für Dean: Südamerikanische Hitparade 1961«, ohne Quellenangabe dokumentiert. Neben dem angeblichen Platz 2 von »Our Summer Romance« in den US-Charts gehörte dies zu den wichtigsten Indizien, um später den frühen Erfolg von Dean Reed zu belegen. Dean Reeds Jahre in Südamerika wurden durch diesen Sieg über Elvis immer wieder mystifiziert, auch wenn die Quellenlage dazu äußerst dürftig war. Auch in den Listen südamerikanischer Hitparaden des Branchenmagazins »Billboard« tauchte Reed fast gar nicht auf. Er war in Südamerika zweifellos populär, aber ein kommerzieller Erfolg schien eher bescheiden. Mochte er 1961 auch einen Preis von einem Jugendmagazin in Südamerika bekommen haben, so war nie die Rede von Folgehits oder konkreten Erfolgen. »Er hat mal davon gesprochen, daß er beispielsweise in Argentinien noch vor Elvis Presley auf der Hitliste stand«, erinnert sich Egon Krenz, letzter Staatsratsvorsitzender der DDR, im Interview. Krenz war mit Dean Reed befreundet, dessen USA-Karriere hat er nie hinterfragt: »Ich glaube schon, man kann sagen, er war ein Hollywoodstar. Also, ich habe es so empfunden. Er hat es auch immer so gesagt, und ich glaube, es entspricht auch den Tatsachen.« Egon Krenz war nun aber nicht unbedingt ein Experte in solchen Sachen und man mag lange diskutieren, wer nun Prädikat Star oder Superstar für was genau verdient hat, aber Reeds Karriere in den USA verlief eher unspektakulär. Wiebke Reed erinnert sich gar an einen »arbeitslosen Sänger«, der 1971 in die DDR kam. Kurze Zeit später hatte ihn die Propaganda der SED zu einem Weltstar hochgeschrieben, und immer wieder tauchte die Geschichte von seinem großen Hit in den USA auf. So entstand das neue Image von Dean Reed. Man dachte sich eine spektakuläre Vorgeschichte für die Medien aus, denn die Größe der sozialistischen Idee nahm zu mit der Größe derer, die sich zu ihr bekannten, auch wenn sie den Tatsachen so nicht entsprach – ihre propagandistische Wirkung ging vor.

Wäre Reeds Erfolg in Südamerika konstant geblieben, hätte ihn sicher einer der Studiobosse zurück in die amerikanischen Studios gejagt. Statt dessen veröffentlichte Capitol Records im Jahre 1961 nur noch die Single »Female Hercules/La Novia«, die ein weiterer Flop wurde. Wieder überzeugte eher die B-Seite, eine lupenreine Elvis-Ballade, die auch mit dem Timbre des Kings eingesungen wurde. Capitol schien keine weiteren Pläne mit Dean Reed zu haben. Nach sechs Singles ohne nennenswerte Reaktionen in den USA hatte man den störrischen Sänger ohne Manager offenbar abgeschrieben.

Im selben Jahr erschien bei Imperial Records aber noch die Single: »I Forgot More Than You’ll Ever Know/Once Again«. Imperial Records war 1958 das erste Label, das Platten im Stereo-Sound veröffentlichte. Der Besitzer Lew Chudd war besessen von dieser Idee und numerierte seinen Katalog mit einem komplizierten System, um Mono- von Stereo-Aufnahmen zu unterscheiden. Noch heute tüfteln Plattensammler an der chronologischen Reihenfolge. Chudd hatte die Firma 1946 gegründet und war vor allem durch die Entdeckung von Fats Domino bekannt geworden. Star des Labels war das Teenager-Idol Ricky Nelson. Lew Chudd galt als aggressiver Talentsucher und guter Geschäftsmann, doch auch Reeds letzte US-Single war ein Flop. Weder der versprochene Film noch eine weitere Platte oder andere Marketingmaßnahmen fanden statt und kein Management kümmerte sich um Dean Reed. In den USA war er damit zu einer Art von Karteileiche der Musikindustrie geworden.

In the Ghetto

Während Dean Reed durch Südamerika tourte, entwickelte sich in den USA die Poplandschaft mit neuer Rasanz. Nach dem Twist wurden Rock und Pop gesellschaftsfähig, und einer der größten Hypes aller Zeiten begann. Man produzierte Twist-Merchandising-Artikel vom Regenschirm bis zum Kopfkissen und akzeptierte erstmals die Tanzwut der Jugend, die vorher stets als sicheres Zeichen des sittlichen Verfalls gegolten hatte. Die Musikindustrie entwickelte einen Tanz nach dem anderen, jeweils mit dem dazugehörigen Star. Die konsumfreudige Jugend nahm es damals ebenso wie heute sportiv. Man tanzte in schneller Folge den Mashed Potatoe, den Madison, den Fly, den Pony, den Popeye, den Frug, den Jerk, den Funky Broadway, den Philly Skate, den Boogaloo, den Hully-Gully, den Dog, den Monkey und noch einige Dutzend Tänze mehr. Man konnte kaum Schritt halten.

Die oberflächlichen Scheinwelten des Pop wurden als tatsächliche Wirklichkeit verkauft. In New York machte sich Andy Warhol über diese Entwicklungen seine eigenen Gedanken. Er beschloß, sich selbst mit simplen Tricks in eine Berühmtheit zu verwandeln, um die Mechanismen der Popindustrie zu entlarven, und er war damit außerordentlich erfolgreich. Warhols Welt der Superprominenten war unwirklich gegen die Bilder, die Dean Reed das Jahr über in Südamerika zu sehen bekam. Für ihn war das eigene Superstar-Image längst zu einer höchst seltsamen Erfahrung geworden. Langsam begriff er, was er täglich sah, daß viele Menschen im Rest der Welt große Not litten.

Das Elend der Menschen in den Slums von Santiago paßte nicht zu den seichten Liedern über Liebe und Glück, die Reed auf der Bühne zum besten gab. In Chile sah er zum ersten mal die Ghettos. Kinder, die ihn mit großen Augen ansahen, deren Spielzeug aus Scherben, Autowracks und toten Hunden bestand. Ihre Not konnte nicht dadurch gelindert werden, daß ein Superstar mit seinen Bodyguards und einer Traube von Medienvertretern vorbeischaute, um etwas für sein Image zu tun.

Dean Reed hatte geglaubt, daß er innerhalb der Musikbranche nur seine Autonomie bewahren mußte, um integer und authentisch zu bleiben, wie Paton Price es ihn gelehrt hatte. Er wollte sich nicht prostituieren und die Mätzchen der Marketingabteilungen mitmachen. Nun erkannte er, daß sein bisheriges Koordinatensystem im Ausland keine Bedeutung hatte.

In seiner Autobiographie schrieb er: »Ich war sehr naiv und dachte reinen Herzens, daß eigentlich alle Leute nett zueinander seien. Ich jedenfalls hatte bis dahin wenig böse Menschen kennengelernt. […] Die Welt sah für mich rosig aus, und ich glaubte, mein ganzes Leben würde immer so sein.«

Seine Reisen durch Chile und das restliche Südamerika führten ihm vor Augen, daß es Menschen gab, die in bitterster Armut lebten, während in Kalifornien jedes Haus eine Klimaanlage betreiben konnte und jede Familie im Durchschnitt drei Autos ihr eigen nannte. Er ahnte, daß die Unterdrückung der amerikanischen Urbevölkerung weiterging und Amerikas Vergangenheit nicht von singenden Cowboys, sondern von Mord und Unterdrückung bestimmt wurde.

Und er begriff, daß er selbst auch nur ein Interpret seichter Songs war, die einen amerikanischen Traum glorifizierten, der immer mehr nach einer Lüge zu klingen begann. In seiner Autobiographie beschrieb Dean Reed diesen Erkenntnisprozeß folgendermaßen: »Da war eines Tages plötzlich eine kleine Meldung in der Zeitung, daß chilenische Arbeiter einen Landsmann von mir, Manager einer Filiale eines US-Unternehmens, verprügelt hatten. Und sie hatten ein böses Wort gerufen: ›Yankee, go home!‹ Yankee, go home! Amerikaner raus! – das war ein Wort, das mich zutiefst traf. Irgend etwas schien in der freundlichen Welt, wie ich sie kannte, doch nicht in Ordnung zu sein. Ich wurde gefeiert, stieß auf Sympathie, und zur gleichen Zeit wurden Landsleute von mir beschimpft und bedroht. Warum das? Welche Gründe gab es dafür? Ich wußte es noch nicht. […] Aber mehr und mehr bohrten Fragen in mir. Und ich dachte immer häufiger an meinen Lehrer Paton Price, der mich aufgefordert hatte, die Wahrheit zu suchen. Was war wahr in dieser Welt und was nicht? Noch wußte ich es nicht.«