Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1-7

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Kapitel 2.7

Ich folge, so schnell ich kann, dem geschwungenen Korridor, der aus purem Licht zu bestehen scheint und öffne die zweite Tür links, genauso wie Kristen es gesagt hat. Ich wäre gerne schneller gegangen, aber mein Körper lässt schnelle Bewegungen tatsächlich nicht zu. Da hat sie Recht. Alles fühlt sich an wie…

Leider finde ich keine Erinnerung, mit der ich es vergleichen könnte.

Das Bad ist umwerfend schön. Ein Pool lädt mich zum Schwimmen ein, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Eine durchgehende Fensterfront eröffnet mir eine atemberaubende Aussicht auf schneebedeckte Berge. Ich bleibe für einen Moment wie hypnotisiert stehen.

Die Anziehsachen, die Kristen für mich vorgesehen hat, liegen auf einer weißen Holzbank, dahinter sehe ich die Dusche. Voller Vorfreude ziehe ich mich aus, lasse Nachthemd und Baumwollhose auf meinem Weg einfach liegen und öffne die undurchsichtige Glastür. Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, wie man das Wasser anstellt. Es ist sofort warm. Ich schmuggle mich darunter, schließe die Tür, schließe die Augen und stehe einfach nur da. Mir kommen zwei Worte in den Sinn. Eine Erinnerung kann es ja unmöglich sein. Warmer Sommerregen. Einfach unbeschreiblich - einfach schön.

Ich bleibe eine halbe Ewigkeit so stehen, aber irgendwann ist es unausweichlich, dass ich weiter muss. Ich stelle das Wasser ab und als die letzten warmen Tropfen in der Wanne aufschlagen und in tausend Stücke zerspringen, wickle ich mich bereits ein, in ein riesiges, weißes, unendlich weiches Handtuch.

Ich gebe der Duschtür einen Schubser und schau mir die Sachen an, die mir Kristen bereitgelegt hat. Ich kann mich nicht spontan entscheiden und ziehe mir erst einmal einen schwarzen BH und den passenden Slip dazu an und verkrümle mich nochmals. Dieses Mal in den flauschigen Bademantel, den ich neben der Dusche entdeckt habe.

Ich habe keine Lust, mich anzuziehen für eine Welt, die ich nicht kenne. Keine Ahnung, was man trägt, wem man begegnet? Spielt das überhaupt eine Rolle? Mit angezogenen Knien, das Kinn darauf gestützt, kauere ich mich am Beckenrand nieder. Mein Blick schweift über den Pool, auf die sich in der Ferne auftürmenden Berge.

Hier sitze ich, weiß nicht, woher ich komme, weiß nicht, wohin mein Weg führt. Einen Neuanfang? So hat es Kristen genannt.

Ich lasse meine Füße ins Wasser gleiten. Es ist angenehm warm. Was bin ich ohne persönliche Erinnerungen? Was ohne ein persönliches Ziel? Was erwartet mich? Mir gehen so viele Fragen durch den Kopf. Ich habe jetzt Platz ohne Ende in meinem Kopf.

Ich frage mich, ob ich mir hilflos vorkommen sollte, obwohl ich mich stark fühle?

Ob ich mich alleine fühlen sollte, wenn ich mit mir selbst, für den Moment, genug beschäftigt bin?

Sollte ich mir Sorgen machen, wenn ich mich frei fühle? Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich, aber besser lasse ich es bleiben.

Etwas, das sich anfühlt wie ein kühler Regentropfen, perlt von meinem Bauch, meiner Hüfte und meinem linken Bein hinab. Es kitzelt mich und fühlt sich nass an. Erschrocken öffne ich den Bademantel und sehe nach. Eines meiner Tattoos hat sich selbständig gemacht, wickelt sich um meinen Fuß, bewegt sich wie flüssige Tinte auf meiner Haut. Blitzschnell ziehe ich die Füße aus dem Wasser. Das Tattoo huscht an seinen Platz zurück und auf seinem Weg hinterlässt es eine eiskristallknisternde Spur auf meiner nackten Haut. Dann liegt es wieder vollkommen regungslos da.

Himmel, was war denn das? Ich stehe auf und berühre die Stellen, über die es geflossen ist, mit meinen Händen. Eiskalte, geschmolzene Luftfeuchtigkeit. Meine Haut darunter ist wie gefroren. Ich reibe daran, um mich zu wärmen. Habe ich mir das nur eingebildet? Vielleicht eine Halluzination? Keine Ahnung.

Ich treffe jetzt erst einmal eine einfachere Entscheidung.

Ich lege den Bademantel ab und ziehe das ärmellose Top an. Es sitzt eng, aber die schwarze Farbe steht mir gut. Passt gut zu meinen blonden Haaren, die mir frech auf die Schultern fallen. Ich schnappe mir die Jeans und die bequemen Turnschuhe und ziehe alles an.

Das Duschen und Anziehen und Nachdenken und das komische Erlebnis mit dem Tattoo machen mich ganz schön fertig. Ich fühle mich schlapp, gehe aber trotzdem los, zurück zu Kristen. Ich kann mich nur wackelig auf den Beinen halten, weil meine Knie mit jedem Schritt mehr zittern.

Trotzdem wanke ich in den Korridor hinaus. Es ist mir schleierhaft, dass ich mich an nichts erinnern kann und trotzdem? Alles was ich sehe und fühle, kommt mir so bekannt vor.

Ich muss unbedingt Kristen finden. Will mehr von ihr über diese Erinnerungslöschsache erfahren.

Wie eine Betrunkene schwanke ich zurück in mein Zimmer, wo ich sie zuletzt gesehen habe. Sie ist nicht da. Aber der Spiegel ist noch da und ich trete wieder davor. Frisch geduscht, angezogen. Irgendwie bereit.

Die Augen der jungen Frau im Spiegel scheinen sich in mein Inneres zu bohren. Wollen mir etwas verraten, aber ich kann sie nicht verstehen. Wie eine Stahlbetonwand, die sich quer durch mein Gehirn zieht, bin ich von ihr abgeschottet. Mein Magen knurrt wie eine hungrige Bestie. Bestie? Ich denke an das Tattoo, das sich bewegt hat, oder habe ich mir das doch nur eingebildet? Ich brauche dringend etwas für meinen leeren Magen und ich will Antworten.

Irgendwie armselig folge ich dem gewundenen Gang, der mich immer wieder an das Innere eines bizarren Schneckenhauses erinnert. Ich bin mir sicher, ich war noch nie in einem Schneckenhaus. Der Boden unter mir schwankt hin und her, aber ich weiß, dass ich es bin, die schwankt und nicht der Boden.

Immer wieder halte ich an den komischen, asymmetrischen Türen an und lausche. Nichts.

Klopfe an. Nichts.

Öffne die Tür. Verschlossen.

Gehe weiter.

Spätestens nach der siebten Tür bin ich mir sicher, dass ich den Weg zurück nicht mehr alleine finden werde. Ich bin schon zu tief in dem Schneckenhaus, bin schon zu oft abgebogen und alles sieht so ähnlich aus. Ich bin mir sicher, dass ich es nicht bemerken würde, wenn ich im Kreis laufen würde. Ich habe mich tatsächlich verlaufen. Na super!

Ich fasse den Entschluss, mich hier auf den weißen, sterilen Boden zu setzen und einfach zu warten, bis jemand vorbeikommt und mich aufsammelt. Den Kopf zwischen den Knien, die Beine angezogen. Ich muss wirklich kläglich aussehen. Nach einer halben Ewigkeit - ich glaube, ich habe sogar etwas geschlafen - höre ich Stimmen. Kristen und ein Mann.

Sie sind nah, entfernen sich aber schon wieder. Ich stehe auf. Uff, meine Beine sind wie betäubt. Die beiden müssen hier in dem Wirrwarr der Gänge sein.

»Sie kann sich an nichts erinnern«, sagt Kristen.

»Du hast ihre Erinnerungen gelöscht? Das war so nicht abgemacht«, sagt er zornig.

»Sie ist am Leben, so wie du es wolltest. Du kannst sie mitnehmen. Die Amnesie war nicht rückgängig zu machen. Tut mir leid, Adam. Ich habe alles Erdenkliche versucht, aber es war definitiv zu spät.« Die Stimmen werden leiser. Ich kann sie kaum noch hören. Seine Stimme ist tief, männlich. Ist mir sympathisch, trotz des Zorns, den sie versprüht. Kristen ist sachlich und kalt und sie sprechen von einem Patienten, von mir, da bin ich mir sicher. Soll ich nach ihnen rufen und mich zu erkennen geben? Nein, ich versuche, ihnen zu folgen und will mehr hören.

Wieder stellt sich mir eine Gabelung in den Weg. Verflucht, dieses irre Schneckenhaus treibt mich noch in den Wahnsinn. Kein Weg führt in die Richtung, in der das Gespräch langsam verstummt.

Ich gehe nach rechts, intuitiv und mache, so schnell ich kann. Aber jeder Schritt quält meine Oberschenkel und mein Herz pocht vor Anstrengung. Jetzt stehe ich vor einer Tür, die nicht eine gerade Linie hat. Kristen und den Mann kann ich nicht mehr hören. Ich lausche nicht, klopfe nicht, mache die Tür ohne zu zögern auf. Sie geht auf?! Ein Wunder?

Eisige Kälte schlägt mir gegen die Brust. Ein Labor, wie in einem Buch, an das ich mich nicht erinnern kann, aber dessen Bilder mir vor das innere Auge kommen. Frankensteins Labor. Reagenzgläser so breit wie tragende Säulen in einer Kathedrale. Schläuche, Apparate so fremdartig und chaotisch, ja fast schon kitschig. Lampen, Lichter, Generatoren. Ich kann fast alles beim Namen nennen, nur das nicht, was in der Reagenzsäule, keine fünfzehn Meter von mir entfernt, schwebt. Es ist die Quelle der eisigen Kälte. Ganz sicher, ich kann es spüren.

Es ist ein Lebewesen hundertprozentig, aber so eines habe ich noch nie gesehen. Nein, STOP! Stimmt nicht. Es sieht aus wie meine Tattoos. Aber mein Gehirn liefert keine Wörter für dieses Etwas, das Sinn machen würde.

Es sieht mich an mit seinen abnormalen Augen, die voller Hass sind und dann spuckt mein Gehirn doch noch ein Wort aus.

Eine Bestie?

Ein Schmerz durchzuckt meine Schulter. Ich mach mir vor Schreck fast in die Hose und werde herumgerissen und die Tür hinter mir fällt zurück ins Schloss. Ein Riese hält mich an der Schulter fest. Der größte Teil seines Gesichtes besteht aus Kinn. Der Körper aus Fleisch und aus Muskeln, die deutlich unter der roten Lederuniform hervortreten. Der erste Mann, dem ich begegne, ist ein Muskelfreak in rotem Superheldenaufzug Größe XXXL. Irgendwie steht ihm das Monsterkinn sogar ganz gut, wenn er nur nicht so böse schauen würde.

»Du tust mir weh!«, sage ich mickrig. Er mustert mich, schätzt wohl ab, ob ich eine Gefahr für ihn darstelle. Was für ein Witz. Ich müsste hüpfen, um ihm eine aufs Kinn zu hauen, das zugegebenermaßen, wenn ich es erreiche, nur schwer zu verfehlen wäre.

»Ich muss das melden!«, sagt er und so wie er das ausspricht, hört es sich für mich echt bedrohlich an. Melden in der Form, ob ich hingerichtet werde oder so ähnlich. Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken. Was für wirre Gedanken! Wo kommen die nur her? Hinrichten, weil ich eine verbotene Tür aufgemacht habe, die lieber geschlossen bleiben soll. Das Bild der Bestie erscheint vor meinem inneren Auge. Was ist das für eine Welt, in der es Bestien gibt, die wie Tattoos aussehen?

 

»Musst du das wirklich? Ich muss doch nur mal für kleine Mädchen und habe mich verlaufen«, sage ich und es klingt nicht halb so überzeugend, wie ich es wollte. Er legt den Kopf schief, schaut an mir hinab und ich nehme Notiz davon, wo seine Blicke haften bleiben. Jetzt wünsche ich mir, dass mein Top sich nicht so eng um meine Kurven spannen würde.

»Ok, ich hab geschwindelt. Ich muss gar nicht aufs Klo. Ich suche Kristen und habe mich einfach verlaufen. Das ist jetzt aber wirklich die Wahrheit.« Hört sich schon glaubwürdiger an, finde ich. Er schaut mir in die Augen.

»Mitkommen!«, befiehlt er und dann schiebt er mich grob vor sich her. Besonders gesprächig ist der Junge ja nicht gerade, aber offensichtlich kennt er den Weg durch das Schneckenlabyrinth.

Kapitel 2.8

Er stupst mich wie ein kleines Kind vor sich her, kommuniziert nicht.

Er führt mich in einen Raum, in dem noch zwei Superheldentypen in scharlachroten, üppigen Mänteln stehen und lässt mich alleine zurück. Sie sind nicht so attraktiv wie der, der mich hergebracht hat. Aber vielleicht tue ich ihnen auch Unrecht. Denn ihre massiven Gesichter sind halb verborgen hinter ledernen Kapuzenkrempen. Ihre ganze Erscheinung wirkt dramatisch, kitschig. Die beiden mustern mich streng und ich fühle mich in ihrer Nähe nicht allzu sehr wohl, wäre doch noch lieber durch die Gänge geschubst worden, als hier zu sein.

Ich will mich von ihnen ablenken, die Zeit nutzen, um mich genauer umzusehen, vielleicht etwas nachzudenken, aber da öffnet sich wieder die Tür und Kristen tritt herein, gefolgt von dem hübschesten männlichen Gesicht, dass ich je gesehen habe. Was nicht allzu schwer ist, denn die zwei Kleiderschränke, die wie angewurzelt auf ihren Positionen verharren, können auf keinen Fall mithalten.

So viele Männer, in so kurzer Zeit? Das wird jetzt echt anstrengend!

Ich warte darauf, dass uns Kristen bekannt macht, aber sie bleibt einfach stehen und macht keinen Mucks. Aber er. Er bewegt sich auf mich zu, selbstbewusst und mit interessanten, oder viel besser gesagt interessierten, dunklen Augen. Ich beobachte, wie sich mein Körper auch einen Schritt auf ihn zubewegt. Als wäre er ein Magnet und ich ein kleiner Eisensplitter. Er ist maximal ein paar Jahre älter als ich, aber seine Körperhaltung, seine Augen wirken auf mich viel reifer, erfahrener. Er kommt mir sehr nahe, fast ein bisschen zu nahe. Er duftet. Er riecht unwahrscheinlich gut, irgendwie nach frischem Schnee und knackendem Eis. Schnee? Eis? Seltsam.

»Du siehst umwerfend aus!«, sagt er mit ruhiger, männlicher Stimme. Er ist es! Der Typ, der mit Kristen in den Gängen unterwegs war. Fast hätte ich du auch gesagt, beiße mir stattdessen aber auf die Unterlippe und strecke ihm meine Hand entgegen.

»Ich heiße Adam«, sagt er.

»Ich bin«, höre ich meine Stimme flüstern und mir wird bewusst, dass ich nicht weiß, wer ich bin.

»Freija«, hilft er mir. »Dein Name ist Freija und ich bin überglücklich, dich endlich wieder auf den Beinen zu sehen«, flüstert er und dann umschließt er meine Hand und nimmt mich mit.

Kapitel 2.9

Auf der Straße außerhalb des Geländes, unter gewaltigen Bäumen wartet Adams Auto. Ein schwarzer Sportwagen. Halbwüchsige haben sich versammelt und beten den Flitzer an. »Verschwindet!«, verscheucht sie Adam und ich werfe einen Blick zurück durch das schmiedeeiserne Tor auf Kristens Haus. Es ist ein Quader, der in einer Grünanlage steht und keine Schnecke. Es ist gar nicht so riesig. Vermutlich liegt ein Großteil des Inneren unter der Erde. Adam hält mir die Beifahrertür auf und ich klettere auf den Sitz, strecke meine Beine aus und schaue ihn an.

»Das ist also dein Auto?«

»Sieht so aus«, sagt Adam, grinst und prescht los. Der Motor röhrt auf wie ein wütender Dämon und Kristens Haus verschwindet in einer Wolke aus Staub im Rückspiegel.

Adam spricht während der Fahrt nicht allzu viel. Das braucht er auch nicht. Ich bin erschlagen von dem Anblick der Stadt, die schemenhaft durch die getönten Scheiben an mir vorbeirauscht. Die Berge, die ich vom Pool aus gesehen habe, waren nicht echt, das wird mir jetzt bewusst. Es muss so etwas wie eine Projektion gewesen sein, denn hier gibt es keine Berge. Hier gibt es nur Stadt.

Sie ist überall, hat jeden Kubikzentimeter unter ihre Kontrolle gebracht, einbetoniert, zugemauert. Sie ist alt und drückend. Sie drückt durch die Fensterscheiben ins Fahrzeuginnere. Auf ihren alten Mauern sind die Spuren von vielen Generationen zu lesen, aber in ihren Gassen sehe ich kaum Menschen. Ich verkrümle mich im Schalensitz und werde ganz klein. Nur ab und zu blitzt ein futuristischer Turm zwischen tausenden bröckeligen Fassaden und heruntergekommenen Wolkenkratzern empor. Kristens Quader, ihr Haus, kommt mir in dieser Stadt völlig deplatziert vor. Es passt zu den futuristischen Türmen. Aber zum Rest? Die Stadt wirkt verlassen, genauso wie die Straße, auf der wir dahinfliegen. Die futuristischen Gebäude sind wie bewohnte Inseln in einer sonst unbeseelten Stadt, die wie ein Friedhof daliegt.

Adam steuert den Wagen nur dann selbst, wenn er die Richtung korrigieren muss. Ansonsten fährt der Wagen mit Autopilot. Adam meint, dass man so viel schneller und sicherer vorankommt. Ich habe kein Gefühl für Geschwindigkeit, bemerke nur, wie ich beim Bremsen und Beschleunigen nach vorne kippe oder nach hinten in den Sitz gepresst werde. Wie ich zwischen Höllenangst und der schieren Ekstase hin und her taumle. Gelegentlich erhasche ich einen Blick auf in der Bewegung erstarrte Passanten. Wir brausen wie auf Schienen aus der Stadt hinaus und dahinter wischt die Welt grün und schemenhaft an mir vorbei.

Kapitel 2.10

Tag 7 nach meiner Wiedergeburt (wie ich es nenne).

Liebes Tagebuch, ich kann verstehen, dass ich alles vergessen wollte. Ich wohne jetzt seit sieben Tagen bei Adam und er hat mir so viel über diese Welt erzählt, dass ich ihn am liebsten bitten würde, mich zurück zu Kristen zu fahren, damit sie mir alles Neue wieder aus meinem Kopf löscht.

Die Welt ist grausam, eine Hölle!

Heute habe ich beschlossen, ein Tagebuch zu schreiben. Nur für den Fall, dass sich Adam doch noch überreden lässt und ich nach der nächsten Gehirnlöschsache wieder neugierig darauf werde, wer ich früher einmal war.

Adam ist sehr nett und ich glaube, wir kennen uns. Ich kann mich nicht an eine gemeinsame Vergangenheit erinnern, aber sein Duft kommt mir so unendlich vertraut vor. Ich glaube ihm jedes Wort, und er sieht einfach so hinreißend schnuckelig aus und ist so lieb zu mir.

Adam hat gesagt, dass er Kristen für das, was sie mit mir gemacht hat, bezahlt hat. Aber Geld ist nicht alles. Zumindest nicht für mich, auch wenn diese Welt um Geld, statt um die Sonne, zu kreisen scheint.

Adam ist in der kurzen Zeit, in der ich in seinem Haus am See leben darf (ich bin froh, dass er nicht in der Stadt wohnt), zu meiner Rettungsboje geworden. Er will mir nicht verraten, was mich am meisten, vor allem anderen, interessiert. Wer ich früher war? Was ich gemacht habe? Ob ich Freunde hatte? Familie? Einen Freund? Er will es mir nicht verraten, weil es schmerzvolle Erinnerungen sind. Es ist besser, ich weiß darüber nichts, meint er. Das hört sich alles verrückt an und ich bin mir nicht sicher, ob er mich in dieser Sache anlügt. Ich habe in Kristens Haus gehört, wie zornig er war, als er erfahren hat, dass meine Erinnerungen gelöscht wurden. Aber irgendwie vertraue ich ihm trotzdem instinktiv.

Adam beantwortet alle meine Fragen zu der Welt, in der ich jetzt lebe, mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, als wäre er mein Lehrer.

Adam hat mir viel über die Evolutionstheorie erklärt.

Er meint, Evolution ist der totale Quatsch!

Adam sagt, die einzige Ausprägung von Evolution ist, dass die Reichen die Armen fressen und das hat absolut nichts mit der Weitervererbung von Genen zu tun. Der große Schwindel der Evolutionstheorie ist Ende des letzten Jahrhunderts, also vor über 70 Jahren, aufgeflogen.

Die Wissenschaftler haben entdeckt (Adam sagt wiederentdeckt), dass der Mensch nicht nur aus sichtbarer Materie besteht. Der wesentlichere Bestandteil ist tatsächlich nicht sichtbar. Für die meisten Menschen auf jeden Fall nicht sichtbar.

Ich soll mir das einfach mal, wie intelligente Energie vorstellen, die in uns steckt.

Diese Energie ist der intelligente Code und nicht die Gene. Sie ist es, die die Entwicklung des Lebens steuert und keine zufälligen Mutationen und weitervererbte DNA, wie es die Evolutionstheorie fast zwei Jahrhunderte lang gelehrt hat.

Ende des letzten Jahrhunderts wurde das Energiefeld erforscht und Ende des letzten Jahrhunderts wurden so gut wie alle Krankheiten ausgelöscht. Die Menschen standen auf der Schwelle zu einer sagenhaften Zukunft, ohne Leid und Krankheiten.

Aber dann kamen sie.

Die Bestien.

Sie sind gekommen, um zu töten. Um uns unsere Energie auszusaugen. Vor allem den jungen Menschen, weil sie voller Lebensenergie sind.

Es gab Krieg, bei dem es nur einen Verlierer geben konnte und das waren wir, sagt Adam.

Wir haben den Krebs besiegt, aber am Ende fielen wir den Bestien zum Opfer.

Irgendwann ging es nur noch um Schadensbegrenzung und das hieß, die zu retten, die man noch retten konnte. Die Bestien töteten so viele Menschen. Und die meisten wussten nicht einmal, wie ihnen geschah. Sie dachten, es wäre ein Virus, denn die Bestien sind für gewöhnliche Menschen (Adam nennt sie Nunbones) nicht zu sehen. Die Menschheit war tatsächlich vom Aussterben bedroht.

Zuerst fielen die großen Nationen den Bestien zum Opfer, dann auch die kleinsten und abgelegensten Gebiete. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten schrumpfte die Weltbevölkerung um mehr als 80 Prozent. Die Alten wurden zu alt, um Kinder zu zeugen. Die Kinder wurden nicht alt genug, um Kinder zu bekommen. Die Menschheit führte die Liste der vom Aussterben bedrohten Lebensarten an.

Aber es kam noch schlimmer. Das Ende der Menschen hätte letztlich auch das Ende der Bestien bedeutet. Keine Menschen, keine Nahrung für die Bestien.

Als mir Adam das erzählte, habe ich die Decke um mich zusammengezogen und schniefte, war kurz vorm Losheulen.

Die Bestien verfrachteten die verbliebenen menschlichen Gruppen in die Sektionen. Städte, in denen sie sich vermehren sollten, um dann gefressen zu werden. Die meisten Menschen, die Nunbones, wissen davon bis heute nichts. Sie denken immer noch, dass außerhalb der Sektionen der tödliche Virus tobt.

Aber es gibt ein paar 100.000 Menschen auf der Erde, die die Ausnahme darstellen, weil sie die Bestien sehen können. Weil sie gegen die Bestien kämpfen können. Den letzten Widerstandskämpfern geht es mittlerweile aber auch nur darum, den eigenen Hintern zu retten und in den Sektionen, die von den Bestien befreit wurden, ein besseres Leben zu führen und nicht als Bestienfutter zu enden.

Arme Menschen in den Zuchtsektionen der Bestien.

Adam erklärte mir, dass sie die Zuchtsektionen längst aufgegeben haben. Aber es werden trotzdem Sehende dort hinein geschickt, um nach denen zu suchen, die die Gabe ebenfalls besitzen.

Die Teenager, die dort für eine gute Sache kämpfen, werden ihren Erinnerungen beraubt und wenn sie volljährig werden und die meisten von ihnen die Gabe verlieren, werden sie abgeholt, um dann ein besseres Leben zu führen. Sozusagen als Belohnung dafür, dass sie gekämpft haben.

 

Jetzt muss ich Schluss machen, Adam kocht heute Abend für mich italienisches Essen und ich darf das erste Mal Wein probieren. Ich sollte mich deswegen schlecht fühlen, weil ich ständig daran denken muss, ob es in den Zuchtsektionen auch Spaghetti und Wein gibt. Mal sehen, was ich dir nächste Woche berichten werde. Bis später Tagebuch, oder vielleicht sollte ich besser Wochenbuch zu dir sagen.