Violet - Die 7. Prophezeiung - Buch 1-7

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Kapitel 2.20

»Freija?!«, sagt Hope, aber ich verstehe sie kaum. Ihre Stimme ist schwach wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.

Ich streiche sanft über ihr ebenmäßiges Gesicht. »Ich habe dich fast getötet.«

»Nein, hast du nicht. Du hast es geschafft. Du bist jetzt ein Alpha-Wolf«, flüstert sie.

»Ich habe dich von meinem Blut trinken lassen«, sage ich.

Hope spukt neben sich auf den Waldboden, aber es kommt nur Luft aus ihrem Mund. »Keine Sorge, es schmeckt widerlich.«

Ich muss lachen. »Hope, sind wir Vampire?«

Hope lacht auch, aber es hört sich an wie ein müdes Röcheln.

Ich gebe ihr Zeit, sich zu erholen und sie erholt sich rasch. Schneller als Adam, der immer noch neben uns auf dem Boden liegt.

»Vampire? Oh nein, soweit lassen wir es nicht kommen! Nur die primitiven Symbionten trinken Blut.«

Bin ich primitiv?

»Wir sind Symbionten, keine Vampire! Halb Mensch, halb Bestie und die Bestien brauchen Energie und kein Blut!«, sagt Hope.

Zumindest in dieser Sache hat Adam die Wahrheit gesagt. Was ist noch wahr? »Der rote Saft enthält sehr viel Lebensenergie. Es ist aber nicht die reinste Form der Energieaufnahme. Aber wenn es ums nackte Überleben geht, dann ist Blut sehr effizient.«

»Also keine Vampire?«

»Nein, nein«, kichert Hope und sie hört sich schon wieder so lebendig an. »Wir suchen uns keine verwesenden Schnapsleichen in den Gassen der großen Städte. Wir schlitzen keinen armen Tieren die Kehle auf. Die Aufnahme von Nahrung und sei es selbst so etwas Kostbares wie Blut, ist die primitivste Form, dem Körper Energie zuzuführen. Bestien können keine Nahrung, so wie wir, zu sich nehmen, weil sie keinen physischen Körper wie wir haben. Denk an den Tanz, den ich dir beigebracht habe. Das ist besser als Blut.«

»Aber ich habe von Adam und von dir getrunken.« Die Worte hören sich so unwirklich an, als sie über meine Lippen springen. »Und danach habe ich mich gefühlt, als könne ich einen Bus umschmeißen.«

»Bestien können keine Energie über feste Nahrung aufnehmen«, sagt Hope. Sie setzt sich auf und in ihren Augen sehe ich Traurigkeit und Wahrheit.

»Warum dann die Zuchtsektionen?« Ich verspüre das Verlangen, mein Tagebuch herauszuholen und Hope alles vorzulesen, was mir Adam erzählt hat. Ich will die Wahrheit wissen. Jetzt!

»Die Zuchtsektionen? Adam hat dir davon erzählt, das hast du schon gesagt.«

»Ja, hat er. Was nützen die, wenn die Bestien nichts davon haben?«

»Freija, das Ganze ist nicht so einfach. Und selbst wenn ich dir alles sage, was ich weiß, ist es nur nackte Theorie und nichts Praktisches.«

»Versuchs!«

Hope fasst sich an die Kehle, an ihre Wunde, die sich bereits auf zauberhafte Weise zu schließen beginnt. »Du bist eine harte Nuss.«

»Keine Ahnung, was oder wer ich bin. Jetzt leg los!«

»Also pass auf, es existiert ein Energiegesetz. Es beschreibt, dass sich die Menge an vorhandener Energie nicht verändern lässt. Sie kann in verschiedene Formen umgewandelt werden, es ist aber nicht möglich, innerhalb eines Systems Energie zu erzeugen oder zu vernichten.« Sie macht eine kurze Pause, sieht sich um.

»Was ist los? Warum sprichst du nicht weiter?«

»Die Drohne! Ich habe eben gedacht, sie kommt zurück!«

Wir sind ganz ruhig, hören in den Wald hinein. Nichts! Keine Drohne - keine Bestie. Nur Adam, Hope und ich sind hier.

»Also, Energie ist Schwingung, Bewegung, nichts Starres. Die Bestien schwingen auf einer anderen Ebene als wir Menschen. Sie sind Astralwesen. Deshalb können die Menschen sie nicht sehen. Die meisten auf jeden Fall nicht. Zumindest nicht solange wir am Leben sind. Wenn wir sterben, dann wird die Energie eines Menschen in die Astralwelt umgeleitet.«

»Von was sprichst du? Von der Seele?«

»Ja! Kann man so sagen. Ist nur ein anderes Wort, für eine sehr reine Form der Energie.«

Die Erkenntnis trifft mich wie ein Hammerschlag. Solange wir am Leben sind? »Sie fressen unsere Seelen?«, frage ich.

»Ähm, krass ausgedrückt, ja. Seele ist gleich Energie.«

»Ich habe Adams Seele gefressen?«

»Nur ein Stück und auch ein Stück von mir und ähm… ich habe auch ein Stück von dir jetzt in mir.«

»Himmel, jetzt weiß ich, was ich bin. Ich bin ein Monster, ein Seelenfresser. Ich bin schlimmer als ein Vampir. Ich bin mit grausamen Bestien zu einer Alptraumsymbiose verschmolzen. Adam wäre wegen mir fast gestorben und noch schlimmer. Ich hätte fast seine Seele gefressen. Wie kannst du nur mit dieser Wahrheit leben?«

»Ich habe Hoffnung.«

»Ha!«, lache ich.

»Die Bestie in mir ist, was sie ist. Aber ich kann sie ernähren, ohne dass ich dafür töten muss. Ich bin ein Symbiont. So wie du. Das ist die Hoffnung für die Menschen. Es gibt einen anderen Weg als Krieg und Zuchtsektionen. Einen Weg der Koexistenz. Das ist meine Hoffnung.«

Ich spüre, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Es fühlt sich so unbehaglich an. Und dann kommt mir der Magen hoch, und ich drehe mich gerade noch rechtzeitig um und übergebe mich in das Gebüsch.

»Freija!« kreischt Hope, aber ich kann sie kaum hören, denn im gleichen Moment bricht die Hölle los. Explosionen über uns, ohrenbetäubend laut! Zwei, drei, mehrere Drohnen werden zerstört. Ihre brennenden Überreste stürzen ab und ziehen fette Rauchfahnen hinter sich her. Die Trümmer werden uns treffen, schießt die Erkenntnis wie eine Pistolenkugel durch meinen Kopf. Hope und ich reagieren unglaublich schnell. Gleichzeitig erreichen wir Adam, wollen ihn beide aus der Gefahrenzone retten. Und dann schlägt er die Augen auf. Perfektes Timing!

»Was ist? Wo bin ich? Hope? Freija?«

»Halt die Klappe!«, sage ich und nicke Hope nur zu, die mich gleich versteht. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig einige Meter fort, bevor die Äste über uns in Flammen aufgehen, die ersten großen Trümmer der zerstörten Drohnen die Bäume in Stücke reißen und den Waldboden zerschmettern. Wir blicken zurück, schauen nach oben. Bereit auszuweichen. Bereit Adam und uns in Sicherheit zu bringen.

Ich kann sie durch die Blätter hindurch sehen. Immer mehr herabstürzende Trümmer, weitere Explosionen, noch mehr zerstörte Kampfdrohnen und die Bestien, die zahlreich zurückgekommen sind. Fliegende Bestien!

»Die Grenze ist nicht mehr sicher, sie brechen durch«, sagt Hope schockiert. Wir schleppen uns immer weiter, während um uns herum der Krieg tobt, bis an einen Vorsprung mit Blick auf die Ebene, mit dramatischer Weitsicht auf die Grenzen von Sektion 0. Dort verstecken wir uns im Unterholz und beobachten, wie die Bestien die Drohnen nieder machen.

Immer mehr und mehr Drohnen kommen aus dem Landesinnern zur Unterstützung, um die Grenzen zu verstärken. Aber sie werden von den Bestien einfach auseinandergerissen, sind chancenlos. Wir sind Beobachter. Sehen hunderte Bestien am Boden, die die Grenze überschreiten. Wie durch ein Wunder bleiben wir unentdeckt.

»Das ist es«, sagt Adam. »Der Anfang vom Ende. Die Prophezeiung erfüllt sich.« Ich schaue ihn an. Von was spricht er?

»Was hat es mit dieser Prophezeiung auf sich? Was weißt du? Raus damit! Ich will jetzt alles wissen!«

»Ich auch!«, sagt Hope an meiner Seite.

Adam hebt seinen Kopf, holt Luft und dann - werden seine Augen panisch…

»Achtung!« Ich höre ein Zischen und sehe aus dem Augenwinkel ein Trümmerteil auf mich zurasen. Hope reißt die Arme hoch, sich spüre so unglaublich viel Energie, die von ihr ausgeht, die mich von den Füßen reißt und wegschleudert. Das Trümmerteil bohrt sich in den Boden, ich bin gerettet, dann schlage ich auf dem Boden auf. Ganz weit weg kann ich Hope kreischen hören.

Stille…

Kapitel 2.21

»Freija?« Jemand nennt meinen Namen. Meinen Namen? Ich bin Freija. Die Freija aus Sektion 13! Ich habe tierische Kopfschmerzen. Was ist passiert? Langsam kommen meine Erinnerungen zurück, steigen aus tiefen Gräben in mir auf. Die Bestien, sie können fliegen?! Bestien können nicht fliegen! Das weiß ich. Das haben die Gesandten uns immer eingetrichtert.

Die Bestien haben die Grenzen von Sektion 0 überrannt. Ich bin in Sektion 0 und nicht in Sektion 13? Ich kann mich erinnern!

An alles!

»Freija?«, höre ich eine wunderschöne Stimme. Ich weiß, es ist Hope. Nur Hope hat so eine schöne Stimme. Ich öffne meine Augen und sehe ihn.

Adam!

Soll ich ihn gleich töten oder ihn erst aussprechen lassen? »Freija? Alles ok mit dir?«

»Mein Kopf brummt schrecklich!«

»Ein Trümmerteil hätte dich fast getötet! Warst für ein paar Minuten bewusstlos. Aber ich denke, es ist nur halb so schlimm. Du hattest wahnsinniges Glück! Wenn es dich…«

»Was hast du gemacht? Wie hast du das gemacht?«

»Frag mich etwas Leichteres.«

»Da war so viel Energie«, sage ich und sehe sie, wie ich sie noch nie gesehen habe. Sie erinnert mich an Asha!

»Was ist, warum schaust du so?«, fragt Hope.

»Wie schaue ich denn?«

»Anders?« Adam sieht mir in die Augen. Er hat tiefe Falten auf der Stirn. Ahnt er bereits etwas?

»Hope, wie komme ich auf dem schnellsten Weg zur Sektion 13?«

»Sektion 13?«

»Ja, ich muss nach Hause und ein Versprechen einlösen.«

Buch 3 - Erinnert

Die Liebe ist wie eine Wildrose,

wunderschön und zart,

 

jedoch bereit,

zu ihrer Verteidigung Blut zu vergießen.

Mark Overby

Kapitel 3.1

7. Prophezeiung

Globale Union: Multilateraler Gerichtshof New South Quebec

14. Juli 0007 n. Ü.

(Sieben Jahre nach dem Übergang / Sieben Wochen nach der globalen Befriedung, der Gründung der Globalen Union, der Manifestierung der 10 Gebote)

Strafsache: Violet (Symbiont, halb Mensch & halb Astralwesen)

Schwere der Schuld: Verstöße gegen das Völkerrecht. Zerstörung von Elektrizitätswerken, Forschungseinrichtungen und Einrichtungen zur humanitären Versorgung. Angriff unverteidigter Städte mit astraler Waffengewalt.

Strafmaß bei Schuldzusprechung: Todesstrafe

Anhörung (Aufzeichnung)

Sobald ich dieses Touchfeld berühre, werden deine Augen und deine Worte für die Gerechtigkeit und Ewigkeit aufgezeichnet.

Wen interessieren meine Worte und meine Augen?

Du hast Millionen durch deine Taten befreit und zweifelst daran, dass sie dir glauben schenken?

Nicht an der Glaubwürdigkeit. Nicht an meinen Worten. Sondern, dass sie jemand verstehen wird, der nicht dabei war. Man muss die Wahrheit gesehen haben, um sie zu verstehen.

Erzähle mir von der Wahrheit! Aber bevor ich die Aufzeichnung starte, habe ich eine letzte Frage. Darf ich dich Violet nennen?

Ich bin Violet, aber mein Name ist Asha und Asha ist es, die angeklagt ist. Also nenne mich Asha und ich nenne dich Oberster Gesandter.

Einverstanden. Fangen wir also an. Asha, weißt du warum du hier bist?

Ich habe gegen das fünfte Gebot verstoßen. Du sollst nicht töten. Sie sind mein Oberster Gesandter und werden entscheiden, welche Strafe angemessen ist.

Würdest du sagen, dass die Todesstrafe für deine Taten angemessen ist?

Aus heutigem Standpunkt heraus? Ja, vielleicht. Jeder der keine Erinnerung an die Zeit vor den Zehn Geboten hat, würde wahrscheinlich das Gleiche denken. Ich erlebte die Zeit der Sektionierung, der Sieben Gebote, der Befriedung der Welt und des wiedergeborenen Katechismus. Die neue Zeitrechnung der Zehn Gebote. Die Ironie meines Schicksals ist, dass ich half, die Menschen aus der Unterdrückung der Sieben zu befreien und jetzt unter ihren Zehn verurteilt werde.

Du sprichst von den Menschen, als gehörst du nicht zu ihnen.

Oberster Gesandter, ich bin kein Mensch. Ich bin ein Symbiont.

Wann war es dir zum ersten Mal bewusst, dass du anders bist?

Wie viel Zeit haben wir?

Soviel wie nötig.

Ich hatte in Sektion 13 für die Gesandten als Doc gearbeitet. Ich war zwölf, als ich ins Team kam, aber ich war die Beste, die sie jemals hatten. Es war für alle, auch für mich, ein Rätsel, dass ich soviel über Medizin wusste, denn ich konnte mich an kein Jahr, keinen Tag, keine Sekunde einer Ausbildung erinnern. Es fühlte sich so an, als wäre ich dort geboren worden. Ich war dort und erledigte von Anfang an meinen Job, als hätte ich nie etwas anderes getan.

Hat dir die Arbeit als Doc Spaß gemacht?

Sie machte mir Angst! Ich sehnte mich nach Geborgenheit und Liebe und der einzige Mensch, der die Leere in meinem Herzen ausfüllen konnte, war sie. Und sie spielte jeden Tag mit ihrem Leben.

Du sprichst von Freija.

Ja. Wöchentlich behandelte ich neue Verletzungen. Täglich wartete ich auf das Trauma, das ich nicht werde heilen können. Es machte mich krank vor Angst. Drei Tage bevor ich aus dem Skygate fliehen musste, wurde mein Alptraum wahrhaftig.

Jesse legte Freija auf die blütenweißen Leinentücher. Ich öffnete den Pressverband und die Tücher färbten sich in Sekundenbruchteilen purpurrot. Ihr Lebenssaft strömte vor meinen Augen aus ihrem schlaffen Körper, als hätte sie jemand geschlachtet.

Ihre Eigenblutkonserven waren innerhalb einer Stunde aufgebraucht. Die synthetischen drei Stunden später. Egal was ich versuchte, ich konnte die Blutungen nicht stoppen. Ich war am Ende meiner Fertigkeiten angelangt. Brauchte mehr Zeit, um ihre Verletzung zu behandeln, war aber zu sehr damit beschäftigt, Blut in ihren Körper zu pumpen.

Was hast du gemacht?

Ich kannte alle Blutgruppen unseres Teams. Es gehörte zum Standardverfahren, sie zu ermitteln und genügend Reserven für die Kämpfer im Kühlschrank zu lagern. Es gab nur eine Person, die geeignetes Spenderblut hatte und von ihr hatte ich keinen einzigen Reservebeutel und das war alleine meine Schuld.

Verzweiflung trieb mich an. Ich war mir sicher, Freija würde die Nacht nicht überleben. Es war eine Verzweiflungstat. Sie benötigte mein Blut.

Dein Blut?

Ja, ich war der geeignete Spender. Ich habe Freijas Blutgruppe. War perfekt! Aber ich sah nicht die Notwendigkeit, etwas davon aufzubewahren.

Freijas Eigenblut und die synthetischen Vorräte hätten für einen Elefanten gereicht und dennoch waren sie nach kurzer Zeit fast vollkommen aufgebraucht. Ich verfluchte mich für meine Kurzsichtigkeit.

Ich wusste, ich konnte ihren Tod in jener Nacht nur hinauszögern, aber das war es mir wert.

Ich habe meine Arterie angestochen und direkt an ihrer Vene angehängt und mit jedem Schlag meines Herzens habe ich mein Blut in sie hineingepumpt. Es war nur, um Zeit zu gewinnen, ihr Leben um ein paar Stunden zu verlängern. Aber dann ist etwas Unglaubliches passiert.

Die Blutungen stoppten abrupt. Ihre klaffende Wunde begann sich, wie durch Magie, zu verschließen. Es war medizinisch nicht zu erklären, was in jener denkwürdigen Nacht geschah. Ich unterbrach die Pipeline, die von meinem Unterarm in den ihren führte und machte mich sofort an die Arbeit.

Freija atmete tief. Sie schlief, aber ich habe in dieser Nacht keine Sekunde geruht. In den frühen Morgenstunden hatte ich die DNA-Tests abgeschlossen. Das Ergebnis war erstaunlich und nach dem Wissenstand, den ich damals hatte, unmöglich.

Die Ähnlichkeit unserer DNA ließ nur einen Schluss zu. Wir waren Schwestern.

Warum sollte das unmöglich sein?

Oberster Gesandter, Sie verstehen noch nicht alles. Die Abweichung unserer DNA entsprach 0,00 Prozent. Zuerst dachte ich, ich hätte etwas falsch gemacht. Dass ich die Proben verwechselt hatte. Zwei meiner Proben miteinander verglichen hatte. Aber ich habe die Analyse wiederholt. Dreimal. Und gegen Mittag, ich hatte noch immer nicht geschlafen, war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich nicht falsch lag.

Freija und ich haben die gleiche DNA. Wir sind Zwillingsschwestern. Eineiige Zwillinge. Unser Erbgut stimmt zu Einhundertprozent überein. Aber wie konnte das sein? Sie war fast vier Jahre älter als ich!

Hast du es Freija gesagt?

Nein, ich behielt es für mich. Solange bis Adam sie drei Nächte später auf meine Station trug. Ihre Verletzung war wieder aufgerissen, ihr Blut und mein Blut, ergossen sich aus ihrer Bauchdecke. Ich war in den letzten drei Tagen nicht untätig gewesen, hatte einige Konserven meines Blutes synthetisch hergestellt.

Aber ich wusste nicht, ob es die gleichen heilenden Eigenschaften besaß wie frisches, echtes Blut, das direkt aus meinen Adern in ihre strömt. Ich hatte Glück. Es half! Aber ich wusste nicht wie lange.

Und dann sagte Adam, dass er sie mitnehmen würde. Zur Sektion 0. Das war der Moment, in welchem ich offenbarte, dass ich ihre Schwester sei, aber es hörte sich nicht nach der Wahrheit an und ich spürte instinktiv, dass ich die Wahrheit nicht verraten durfte.

Ich entschloss zu fliehen. Allein!

Färbte meine Haare schwarz, aber sie färbten sich nicht schwarz. Mein natürliches Blond und das Färbemittel verschmolzen zu einem Violett. Meine Lieblingsfarbe. Ein seltsamer Zufall.

Als ich soweit war, küsste ich Freija, wie Schwestern sich küssen. Ich wollte ihre Wärme und jede Erinnerung an sie, auf meinen Lippen speichern.

Unsere Lippen berührten sich und ich fühlte mich entschlossen, stark. Stark genug, um durchzuhalten, bis sie zurückkommen würde, um ihr Versprechen einzulösen. Ich spürte, dass wir uns wieder sehen würden. Dann verließ ich sie. Ließ sie zurück, bei Adam.

Das war der Anfang.

Die Entscheidung dieser Nacht entfesselte einen Sturm, dessen Ausmaß noch die ganze Welt zu spüren bekommen sollte.

Wohin bist du als Erstes gegangen?

Zu Jesse.

Ich ging hinaus auf den Flur, bemüht nicht zu rennen. Keiner der Gesandten durfte erfahren, dass ich in Eile war, im Begriff war zu flüchten - vor ihnen, vor ihren Vollstreckern, vor Sektion 0. Ich schlich leise bis zu Jesses Zimmertür, öffnete sie, schlüpfte hinein. Er schlief tief, lag auf der Seite. Den nackten Rücken mir zugewandt, als ich den Brief unter seine Decke schob. Den Brief, in dem ich ihm die Erklärungen hinterließ, die er in den nächsten Stunden und Tagen benötigte, um keine Dummheiten zu machen. Um sich und die anderen nicht in Gefahr zu bringen.

Die Zeit würde kommen, in der ich ihre Hilfe benötigte, aber nicht in jener Nacht. Ich hoffte inständig, er würde einer fast 14-jährigen glauben.

Hast du damals schon geahnt, dass ihr Später zusammenkommt?

Sie meinen als Liebespaar?

Ja!

Oberster Gesandter, Sie bringen mich zum Lachen.

Natürlich nicht!

Ich war zu jung, ein Teenager. Das Thema Beziehung war für mich so neu wie eine Welt ohne Freija. Außerdem liebte Jesse meine Schwester. Nein, ich hatte damals nicht die geringste Ahnung oder den Wunsch in mir verspürt, eine Liebesbeziehung mit Jesse zu beginnen. Ich fahre nun fort, Oberster Gesandter, oder willst du, dass ich dir jetzt mehr von meiner späteren Beziehung zu Jesse erzähle.

Nein, erzähl mir von deiner Flucht.

Jetzt war ich in Eile.

Ich hatte noch eine halbe Stunde, bis Adam meine Flucht melden würde.

Wieso warst du dir sicher, dass er es nicht eher tut?

Ich habe Aufrichtigkeit in seinen Augen gesehen. Die gleiche erfrischende Aufrichtigkeit wie in Freijas Augen.

Als ich aus dem Skygate raus war, rannte ich los. Die ersten beiden Etagen nahm ich über die Notleiter im Ostflügel. Dort fand ich einen Fahrstuhl, den sonst nur die Reinigungskräfte benutzten.

Ich lehnte mich an das kühle Metall, hörte dem Rattern und Surren und meinem flachen, schnellen Atem zu. Der Fahrstuhl eilte mit mir nach unten, bremste ab. Ich hatte das Gefühl zu schweben und dann öffneten sich quietschend die Türen zur Tiefgarage. Geschafft!

Nie wahrgenommene Gefühle überwältigten mich. Ich stolperte in die Unterwelt aus Beton, kauerte mich hinter eine Säule und weinte.

Hattest du Angst oder warum hast du geweint?

Nein, es war nicht die Angst. Ich habe alles zurückgelassen. Alle zurückgelassen. Meine Schwester der Sektion 0, Adam überlassen. Aber das war es nicht. Ich weinte damals und hatte keine Worte zu sagen, warum. Aber heute weiß ich es. Ich weiß, was mich überwältigte. Es war das Gefühl, frei zu sein, das durch meinen kindlichen Körper pulsierte. Jeder Mensch hat das Recht, frei zu sein.

Du hast also vor Glück geweint?

Es war ein Cocktail aus salziger Traurigkeit und süßem Glück. Aber ja, das Gefühl der Freiheit war überwältigend. Ich war losgeschnitten von den Fesseln der Sieben Gebote.

Irgendwann begriff ich, dass Adam die Vollstrecker informieren würde und ich frei, aber auch auf der Flucht war. Auf der Flucht vor Menschen, die mich töten würden, falls sie mich kriegen sollten. Ich verließ zum ersten Mal seit einem Jahr das Gebäude, in dem ich zuhause war. Das Skygate.

Wie fühlte sie sich an, die Welt der Nunbones?

Überraschend! Die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern waren in den frühen Morgenstunden mit Menschenströmen beseelt. Sie eilten zu den Finanzdistrikten oder kehrten Heim oder taten keins von beidem. Aber alle hatten eins gemeinsam. Niemand nahm Notiz von mir, einem fast 14jährigen Mädchen, das auf der Flucht war. Ich fragte mich damals, ob sie wussten, dass wir - ich nenne uns die Sehenden - sie vor den Bestien beschützten? Ob sie überhaupt von der Existenz der Bestien wussten? Ob sie die Sieben Gebote kannten?

 

Kanntest du die Antwort denn nicht bereits?

Doch! Aber es war so unvorstellbar. Wie konnte es möglich sein, so viele Nunbones hinters Licht zu führen und wozu sollte das gut sein, die Wahrheit zu verschleiern?

Hast du Antworten gefunden?

Erst viel später. Damals habe ich keine Antworten, nur ein Versteck gefunden. In Sektor Zwei, dort wo Nunbones wohnten, die ihren Müll in engen Häuserschluchten auftürmten. Eine Kellerluke unter einer Feuerleiter, an der die graue Farbe abgeplatzt war, stand offen. Ich schlüpfte durch den Spalt und fand mich umgeben von geschwängerter Luft. Öldunst und der süße, modrige Geruch alter Äpfel kroch mir in die Nase. Ich fand eine halbvolle Kiste Mineralwasser und Einmachgläser, gefüllt mit Aprikosenmarmelade. Mehr als ich erhofft hatte.

Marmelade? Hast du in dem Keller übernachtet?

Ich habe mich dort versteckt, bis es Nacht war.

Was ist dann geschehen?

Draußen fing es an, zu regnen. Der Himmel spie Wassertropfen aus, die ihren Weg in die Schluchten, zwischen den Blocks fanden. Ich lauschte der Melodie aufplatzender Regentropfen, dann hörte ich noch etwas anderes, Menschliches. Ich hörte ein Wimmern. Es war ein kleiner Junge, der sich draußen vor der Luke versteckt hielt. Er kauerte mit dem Rücken an der Wand. Ich war direkt unter ihm.

»Hey du«, flüsterte ich. »Hier bin ich.« Er sah mich erschrocken an. »Komm!«, bot ich ihm an. Er hatte dunkle, fast schwarze Haut. Seine Augen waren noch dunkler, trotzdem konnte ich die Angst in ihnen sehen. Ich machte für ihn Platz und er kroch tatsächlich zu mir herein. »Warum hast du solche Angst?«, fragte ich. Er war völlig durchnässt, zitterte am ganzen Körper. Dann konnte ich sie auch spüren. Die Kälte. Sie kroch zu uns herunter, strich über meine Füße, meine Haut. Ich erstarrte. Eine Bestie war in der Nähe.

Oberster Gesandter, glauben Sie an Zufälle?

Zufälle?

Wenn ich auf die Ereignisse jener Nacht zurückblicke, sie aneinanderreihe, dann bin ich mir sicher, dass es keine Zufälle gibt. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass sich Neo gerade zu jener Zeit vor meiner Luke versteckte.

Ich schob den schwarzen Jungen hinter mich, wollte ihn schützen. Zumindest wollte ich es versuchen. Ich befahl meinem Körper, sich der Luke zu nähern. Die Kälte legte sich auf mein Gesicht wie eine dünne Eisschicht. Sie war da, schnüffelte keine fünf Meter entfernt. War so groß wie ein junges Kalb. Sah aus, wie Bestien aussehen. Einen Schwanz mit Dornen. Eine Haut, die glänzte wie Metall. Keine Ohren und zäher Speichel triefte in langen Fäden auf den Asphalt.

Sie wusste, dass Neo nicht weitergegangen war. Sie konnte ihn riechen, mich riechen.

Es war das erste Mal, dass ich einer Bestie so nah war. Ich hätte mich fürchten sollen, aber ich fand dieses Geschöpf interessant. Ich hätte mit dem Jungen davon rennen sollen, stattdessen beobachtete ich mich dabei, wie ich sie anstarrte. Wie sie den Schädel hob. Drehte. Wie sich unsere Blicke trafen und ineinander haften blieben.

Das Dunkel in ihren Augen war unergründlich. Sie rührte sich nicht, starrte nur zurück. Ich behielt die Fassung, wappnete mich geistig für einen bevorstehenden Angriff, aber sie hatte nichts dergleichen im Sinn.

Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasste, meine Lippen zu bewegen. »Komm!«, flüsterte ich und sie kam zu mir, bis an die Luke. Ich spürte keine Angst, als ich meine Hand zu ihr ausstreckte und über ihren nackten Schädel strich. Sie war eiskalt, aber in ihren Augen erblickte ich einen Funken Wärme. Dann entdeckte sie den Jungen. Schlagartig spannte sich ihre ganze Bestiengestalt an und ihre Augen funkelten jetzt gefährlich. »Hör auf!«, befahl ich ihr und sie hörte auf, sah mich an wie ein treuer Hund, der etwas falsch gemacht hatte. Dann hörte ich die Stimmen der Männer. Sie riefen nach ihr und die Bestie bebte. Ich spürte, dass sie Angst hatte. »Geh zu ihnen!«, sagte ich und sie gehorchte.

Haben euch die Männer entdeckt?

Es waren nicht nur Männer. Sie hatten noch mehr Bestien dabei. Bestien kaum größer als Hunde und sie führten sie an seltsamen Leinen, wie Hundeleinen. Die Männer haben uns nicht gefunden, aber die Bestien haben uns gerochen.

Wie Haifische das Blut!

Ja. Ich war mir sicher, dass die Bestie, die mir gehorcht hatte, so etwas wie der Anführer des Rudels war. Ich war mir sicher, sie hatte die anderen Bestien zurückgehalten, damit wir fliehen konnten. Wir verließen den Keller, das Haus, den ganzen Häuserblock, bevor sie Gelegenheit hatten, uns zu folgen. Zum Glück war die Luke in den Keller schmal genug für ein Mädchen und einen Jungen, aber zu schmal für erwachsene Männer.

»Wie ist dein Name«, fragte ich ihn, als wir uns Stunden später, im Schatten einer verlassenen Kirche in Sicherheit wiegten.

Schatten?

In Sektion 13 gab es keinen nennenswerten Unterschied zwischen Tag und Nacht. LED´s über den Straßen, Screens an den Wänden machten die Nacht zum Tag.

»Neo«, antwortete er leise. Ich schätzte ihn auf höchstens neun Jahre. Er trug Lumpen und keine Kleider. Roch ungewaschen und seine Augen sahen schwach und kränklich aus. Ich gab ihm den Rest der Marmelade und mein Wasser. »Was wollten die Männer von dir?«, fragte ich ihn, nachdem er gegessen hatte, aber noch lange nicht satt war. »Weiß ich nicht. Weiß nur, dass keiner meiner Freunde zurückgekommen ist.« »Haben die Männer mit den Bestien deine Freunde mitgenommen?« Er nickte. Ich fragte mich, wer die Männer waren, die Bestien an der Leine führten. Wer um Himmels Willen entführt Kinder?

Hast du es herausgefunden?

Neo war ein Waise. Seine Eltern wollten ihn nicht oder waren tot. Er wusste es nicht. Neun Jahre hatte er in einem Waisenhaus in Sektor 2 gelebt, bevor die Alpträume kamen und die Kinder auf rätselhafte Weise verschwanden. Er und seine Freunde flohen aus Furcht. Ich weiß, dass seine Alpträume keine Träume waren. Er konnte die Bestien sehen, so wie ich. Er flüchtete vor ihnen und vor den Männern. Er war geflüchtet, genauso wie ich. Und er war der Einzige, der von seinen Freunden noch übrig war. Die anderen hatten sie fortgebracht.

Um auf deine Frage zurückzukommen. Ja, habe ich. Aber erst später.

In dieser Nacht schliefen Neo und ich ein paar Stunden in der Kirche. Die Bänke waren morsche Überreste, die meisten zerstört und es regnete durch faustgroße Löcher im Dach, aber wir fühlten uns sicher.

Wir lebten in die Tage hinein.

Im Grunde war jeder Tag wie der vorherige.

Essen und etwas zum Trinken stahlen wir aus seinem alten Waisenhaus. Nachts schliefen wir in der Kirche, die uns ganz allein zu gehören schien, abgesehen von den Mäusen, mit denen wir Brotkrumen teilten.

Wir hatten Decken geklaut, die uns wärmten und weich waren. Neo, nannte mich V, die Abkürzung für Violet. Er gab mir diesen Namen und ich liebte es, wenn er sich nachts an mich kuschelte und vor dem Einschlafen durch meine violetten Haare strich. Ich war seine Beschützerin. Ich schenkte ihm Geborgenheit und er gab mir so viel davon zurück. Seine Nähe ging mir unter die Haut wie ein warmer Sommerwind.

Wie lange hast du dich mit Neo vor den Vollstreckern und den Männern mit den Bestien versteckt?

Sie haben uns später gefunden. Aber vorher fand Sie uns.

Ich war spazieren, hatte mich getraut, Neo alleine zu lassen. Ich saß am Ufer des East-River. Das Wasser der Meerenge schob sich dahin, träge wie seit Jahrtausenden. Unberührt von den Schicksalen der Menschen an ihren Flanken.

Die ewige Kraft der Gezeiten, die die Strömung antrieb, hatte etwas Vertrautes. Kosmisches. Ich liebte es, dort zu sitzen.

Ich dachte an die fackeltragende Statue, die unbegrenzte Freiheit und Gerechtigkeit versprach. Freiheit? Gerechtigkeit? Wahrheit? Das ist es, wofür ich kämpfen werde, mein Leben geben werde, wenn es sein muss.

Es war ein leises Versprechen. Niemand hatte es gehört, niemand hatte mich gesehen. Ich blickte hinüber, sah graue Anleger und Lagerhallen auf der anderen Flussseite. In der Ferne flussabwärts sah ich die Spitzen der Wolkenkratzer des Finanzdistrikts, sah das Skygate in den Himmel ragen. Ich hatte nicht vor dorthin zurückzukehren.

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