Die Vigilantin

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Ich ging an der alten Dame vorbei, die nur kurz lächelte und ihren Weg fortsetzte. Ich konnte nicht anders, ich musste mich umdrehen und sie beobachten. Sie ging schnurstracks an der Stelle vorbei. Sie sah nicht mal hin.

Mir war schwindelig und ich ging weiter. Eierte weiter. Ich bin mir sicher, wer mich an dem Tag sah, hätte mich für betrunken halten müssen. Ich hatte jemanden ermordet. Ich war eine Mörderin. Man würde ihn finden und dann mich. Ich sehe oft genug Krimis wie CSI und dergleichen. Es scheint so, dass es heutzutage schon reicht, in der Nähe des Opfers einen fahren zu lassen, um gefunden zu werden. Bestimmt hatte ich Haare an ihm hinterlassen. Faserspuren, als ich ihn schleifte, Schweiß. Wimpern. Es war nur eine Frage der Zeit. Auch wenn ich damals noch nicht aktenkundig war: Ich war mir sicher, dass mich jemand gesehen hatte, auch wenn ich ihn nicht gesehen hatte. Vielleicht war die Polizei schon auf dem Weg.

Erschöpft kam ich zu Hause an und servierte Felix später sein völlig angebranntes und versalzenes Gulasch. Er war erstaunt. Noch nie hatte ich sein Essen versaut. Aber ich konnte an nichts anderes denken als an diesen schlaffen, schweren Körper und welche Geräusche seine Turnschuhe machten, als sie über die Blätter und durch den Matsch im Gebüsch schleiften. Alles andere lief nebenher ab. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich stand völlig neben mir. Sie denken an mich als ein kaltblütiges Monster, das nachts gut schlief nach den Morden. Aber das kam erst später. Und selbst da erwartete ich, jeden Moment festgenommen zu werden.“

„Ist das nicht ein furchtbares Gefühl?“

„Nein. Oh nein! Zuerst ja. Bei den ersten drei … Burschen schon. Aber später war es anders … wie ein Bungeesprung, der nie aufhört. Ein ständiger Fluss von Adrenalin. Immer dann, wenn ich daran dachte, jedenfalls. Denn selbst solche Dinge geraten irgendwann in den Hintergrund. Dann lebt man sein Leben normal weiter. Aber mehrfach am Tag kommen wieder die Gedanken, und dann schießt das Adrenalin in einem hoch … kocht sich durch die Venen … und man spürt, dass man lebt.“ Sie sieht verträumt aus dem Fenster, als ob sie in Erinnerungen an ihre Hochzeitsreise schwelgen würde und nicht in denen an Blut und Schreie.

„Deswegen haben Sie es getan? Um sich lebendig zu fühlen?“ Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mich amüsiert an.

„Sind Sie psychologisch geschult, Ruth?“

„Nein. Leider nicht. Um ehrlich zu sein, ist meine Menschenkenntnis nicht der Rede wert.“

„Sagen Sie nicht ‚leider.’ Wenn Sie Psychologin wären, säßen Sie jetzt nicht hier. Ich habe diese Arschgeigen mit ihren sezierenden Blicken satt. Niemand hört mir wirklich zu. Alle suchen nur nach Symptomen für irgendwelche psychischen Erkrankungen und wollen mich in eine ihrer Schubladen zwängen. Sie haben mich entmenschlicht. Also tun Sie mir einen Gefallen und versuchen Sie nicht, mich zu analysieren!“ Eine steile Falte erscheint auf ihrer Stirn. Ihre Augen bekommen etwas Stechendes. Ich schlucke. Das Klicken in meinem Hals ist deutlich in der folgenden Stille zu hören. Ich erinnere mich an die sechs Wochen Wartezeit. Sie kann einfach nach der Wache rufen, rausgehen und für immer verschwinden. Und sie kann die einzige Chance mitnehmen, einen Blick in ihr Innenleben zu werfen. Sie sitzt am längeren Hebel. Sie hat es mir ja schon einmal klargemacht.

„Ich wollte Sie nicht analysieren. Ich versuche nur, Sie zu verstehen.“

„Versuchen Sie das nicht. Hören Sie mir einfach zu. Ich suche nicht unbedingt nach Verständnis, auch wenn es so aussehen mag. Ich will nur sichergehen, dass … dass meine Seite der Geschichte an die Öffentlichkeit kommt. Verstehen werden es die Wenigsten. Viele tun so, aber im Grunde sind das nur Idioten, die ein Idol suchen. Ich bin kein Idol. Wollte ich niemals sein.“

Ich muss an ihre selbstherrlichen Sprüche denken. Sie will Bewunderung, sie liebt ihre Fanbriefe. Will sie mich jetzt vollends verulken? Da sitzt die andere Miriam vor mir. Die Kühle, die Selbstbewusste, ist gerade nicht anwesend. Es scheint so, als ob sie sich, sobald sie von den Anfängen ihrer mörderischen Karriere erzählt, wieder in die ruhige, angepasste und beinahe schüchterne Hausfrau verwandelt, die sie einmal war.

Ich bin froh, dass die andere Darlan zurzeit abwesend ist. Deren Ego ist so groß wie das Empire State Building.

„Gut, dann machen wir weiter. Sie standen also total neben sich. Wie ging es weiter?“ Sie seufzt und legt die Hände in den Schoss.

„Ich wusste, dass ich bei Einbruch der Dunkelheit noch einmal zum Friedhof musste. Ich konnte die Leiche nicht einfach liegen lassen. Er musste irgendwie verschwinden. Und auch dabei half mir der Zufall. Beim Spaziergang über den Friedhof hatte ich das Grab gesehen, das frisch ausgehoben worden war. Am nächsten Tag sollte wohl eine Beerdigung stattfinden. Ich wusste, ich hatte nur eine Chance, die Leiche zu entsorgen. Und besser ging es ja nicht, oder? Die meisten kaufen sich ein Grab für mindestens zwanzig Jahre. Bis dahin … was hätte bis dahin nicht alles passieren können. Ich wartete also, bis Felix ein Nickerchen machte und ging in den Keller. Ich war mehr als nur ein bisschen entsetzt, als ich feststellen musste, dass es in unserem Keller keine Schaufel gab. Nichts. Und dabei war ich mir sicher gewesen, dass wir so etwas haben. Immerhin haben wir allen möglichen Scheiß da unten.

Ratlos und vor allem ruhelos räumte ich die Küche auf und hörte dabei Radio. Ich rechnete damit, dass jeden Moment das laufende Programm unterbrochen wurde, um von dem Mord zu berichten. Dass irgendein spielendes Kind eine Leiche im Gebüsch entdeckt hatte. Ich brachte den Müll herunter, und das war meine Rettung, denn dabei kam ich an den Garagen vorbei und sah, dass einer der Nachbarn seine offen gelassen hatte. Und da an der Wand, ordentlich an einem Nagel, was hing da? Eine Hacke und eine Schaufel.

Es war noch hell, also konnte ich schlecht hingehen und einfach das Werkzeug schnappen. Auch den Nachbarn fragen wollte ich nicht. Das hätte er sich womöglich gemerkt. Wozu hätte ich die Sachen auch brauchen sollen? Wir hatten ja keinen Garten, nur einen Balkon. Mir fiel keine passende Ausrede ein. Also schwitzte ich noch mehr Blut und Wasser bei dem Gedanken, dass der Nachbar vielleicht seine Garage zur Nacht abschloss. Ich war mir nicht sicher, ob er ein Auto hatte oder nicht, aber wenn er eins besaß und abends nach Hause kam, würde er die Garage mit Sicherheit abschließen. Also saß ich völlig verkrampft neben Felix vor dem Fernseher und wartete, dass es endlich dunkel wurde.

Ungefähr um acht, als alle Nachbarn zu Hause waren, ging ich noch einmal runter und näherte mich zitternd den Garagen. Ich war erleichtert, dass die mit dem Werkzeug noch offen stand. Ich ging schnell hin und zerrte die Schaufel von der Wand. Dann hastete ich davon und betete, dass mich niemand mit der Schaufel durch die Gegend laufen sah.

Ich verstaute das Ding erst mal im Keller und ging zurück zu Felix. Die Nachrichten liefen noch. Von einem Leichenfund in Bielefeld war noch nichts berichtet worden. Aber so richtig beruhigte mich das nicht. Später lag ich neben Felix in der Dunkelheit und wartete. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich so um ungefähr zwei Uhr die besten Chancen hatte, unentdeckt auf dem Friedhof herumzuspazieren. Und ich brauchte Zeit um das Grab tiefer zu schaufeln. Ich hatte mir eine alte Jeans und ein T-Shirt bereitgelegt. Und natürlich eine Taschenlampe. Um halb zwei hielt ich es nicht mehr aus, stand auf, zog mich an, schlich in den Keller und ging mit der Schaufel über der Schulter den Weg zum Friedhof. Im Park geht das mit dem Licht noch … oben, wo der Sportplatz ist und der Weg zum Pfarracker führt, stehen Straßenlaternen. Wenn sich die Augen an das schwache Licht gewöhnt haben, kann man etwas sehen. Aber ich war nicht gern im Park … Nachts treiben sich da merkwürdige Gestalten herum. Zum Glück war es dafür noch zu kalt. Ich war allein.

Nur die Enten und Schwäne gaben ab und zu ein paar quäkende Laute von sich, und ich erschrak jedes Mal zu Tode. Ich ging zum Tor vom Friedhof und drückte die Klinke herunter. Das Tor war verschlossen.“

„Was haben Sie da gemacht?“

„Ich geriet völlig in Panik. Mein erster Impuls war, die Leiche im Teich zu versenken. Das verwischt auch alle genetischen Spuren, glaube ich. Aber der blöde Teich wird in jedem Sommer einmal leer gepumpt, um verrostende Fahrräder und Einkaufswagen, die irgendwelche Scherzkekse dort hineinwerfen, wieder zum Vorschein zu bringen.

Der Friedhof war meine beste Chance.

Ich atmete tief durch und setzte mein Gehirn in Bewegung. Der Friedhof hatte noch andere Eingänge. Einer davon ist nichts weiter als eine Unterbrechung im Zaun, oben der Engerschen Straße. Aber dort herrscht selbst nachts noch reger Verkehr. Da ist nämlich eine Tankstelle.“

„Aber an der Niederfeldstraße ist noch ein Eingang“, werfe ich ein und wundere mich. Ihre Geschichte hat mich so gepackt, dass ich ihr jetzt beinahe helfen will.

„Ja. Aber auch der hat ein Tor. Ich dachte mir, wenn einer das Tor im Park abschließt, wird er auch das zur Straße hin abschließen. Wie bescheuert ist das? Oben an der Engerschen ist eine Unterbrechung im Zaun, sodass man jederzeit auf den Friedhof kann, und weiter unten wird abgeschlossen.

Na ja. Ich bin also den ganzen Weg zur Engerschen gegangen. Mit einer Schaufel. Alle paar Meter eine verschissene Straßenlaterne. Und zwar eine von diesen Großen, Gelben. Ich war wie eine wandelnde Zielscheibe. Mehrere Autos fuhren an mir vorbei. Mit einer Schaufel an einem Friedhof entlang latschen … da kann man nur einen Schluss ziehen, oder? Ich konnte nur eins tun: Immer wenn ein Auto kam, versteckte ich die Hand mit der Schaufel hinter einem Baum. Die stehen dort an der Straße und unterteilen den Bürgersteig und den Fahrradweg. Sehr viele sind es nicht. Ich musste, jedes Mal, wenn ich die Scheinwerfer eines Autos sah, einen Sprint einlegen, um den nächsten Baum zu erreichen. Keine Ahnung, ob mich jemand gesehen hat. Jedenfalls erreichte ich nach einiger Zeit endlich den Eingang oben an der Mühle und betrat den Friedhof. Es war unglaublich gruselig. Nur von der Straße schien noch etwas Licht herein, aber es war nicht viel und reichte nicht weit. Ich musste schon bald die Taschenlampe einschalten. Ein paar Mal verlief ich mich auch. Endlich sah ich das offene Grab und ließ erleichtert die Schaufel danebenfallen. Dann ging ich zum Gebüsch und suchte nach ihm. Ich wusste noch genau, wo er war: An der Stelle, wo er lag, stand auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes ein Grabstein mit der Aufschrift Familie Ahrendt. Den fand ich rasch. Ich hatte mir den Grabstein nicht bewusst gemerkt. Das lief alles auf einer so unbewussten Ebene ab, dass ich überzeugt war, ich hätte es geträumt. Und so ähnlich ging es mir auch jetzt noch. Wie planlos das alles ablief, kann man auch daran ersehen: Ich hatte natürlich in meiner Panik vor dem verschlossenen Tor nicht daran gedacht, dass er ja noch auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns lag. Erschlagen hatte ich ihn ja im Park und dann ins Gebüsch gezerrt. Vor den Zaun darin. Aber jetzt war es mir egal. Ich war entschlossen, ihn zu finden und dann mit der Schaufel den Zaun auszuhebeln oder dergleichen. Ich konnte diesen Weg an der Engerschen Straße nicht noch einmal zurücklegen. Ich hatte die Nerven dazu nicht mehr. Ich überstieg das Tor, was gar nicht so einfach war, ging an die Stelle, wo auf der anderen Seite der Grabstein der Ahrendt Familie stand, und ließ den Kegel der Lampe über den Boden wandern. Ich fand verstreute Tannenzweige aus dem Container. Ich fand Spuren von Turnschuhen der Größe 45. Ich fand zerdrücktes Gestrüpp. Aber ihn fand ich nicht. Er war weg.“

 

4

Eigentlich halte ich mir meine Wochenenden frei, um auch meinen Kopf frei zu bekommen und mich vom Stress in der Redaktion zu erholen. Vor allem von den Begegnungen der unangenehmen Art, die ich manchmal mit Ingo habe. Seit ich bei unserer Zeitung anfing – ziemlich grün hinter den Ohren – habe ich lernen müssen, dass man sich die Leiter nicht nur hinauf-, sondern auch hinunterschlafen kann. Aber an diesem Wochenende lässt mich der Fall Darlan nicht los. Ich beschließe also, mir den Park einmal anzusehen, in dem sie ihr erstes Opfer gefunden hat. Die Bewohner von Schildesche nennen ihn schlicht „Den Park am Ententeich“ wenn sie überhaupt davon reden. Er ist ohnehin nichts verglichen mit dem Obersee, den man von dort auch erreichen kann. Ich parke meinen Wagen in der Niederfeldstraße und betrete den Park somit von der Seite aus, von der auch Darlan ihn immer angesteuert hat. Gleich am Anfang des Parks stehen auf der rechten Seite ein Hochhaus, auf der Linken mehrere kleine Reihenhäuser. Von den Häuschen aus kann man in den Park nicht hineinsehen; ein dichtes Gebüsch, das die Rasenfläche des Hochhauses vom restlichen Park trennt, nimmt einem komplett die Sicht. Aber von den oberen drei Etagen des Hochhauses kann man bequem den ganzen Park übersehen. Sogar Balkone gibt es.

Nachdenklich bleibe ich vor dem hässlichen Gebäude stehen und sehe daran hoch. Nicht nur vom Balkon aus, sondern auch von mindestens zwei weiteren Zimmern kann man den Park überblicken. Und es war Mittag. Hell. Und keiner hat etwas gesehen, als Darlan Wolfhardt mit der Hantel niederschlug und ins Gebüsch schleifte. Auch das kleine Mädchen, für das Darlan angeblich den Mord beging, ist nicht auffindbar. Sollte unsere Gesellschaft tatsächlich so desinteressiert sein, wenn vor ihren Augen ein Mord geschieht? Oder hatte Darlan einfach nur Glück? Es war sonnig an dem Tag, aber kalt. Wahrscheinlich war niemand auf dem Balkon. Und bestimmt waren die Mieter in den oberen Etagen berufstätig. Es kann also gut sein, dass von hier aus tatsächlich niemand etwas gesehen hat.

Ich lasse das Hochhaus also rechts liegen und gehe weiter. Hinter einer Reihe von Bäumen und Sträuchern liegt auf der rechten Seite der Ententeich, ein Loch voll mit grünlichem Wasser, auf dem ein paar Enten und Schwäne träge umherschwimmen. Links schlängelt sich ein kleiner Bach bis hinunter zur Talbrückenstraße. Dahinter beginnt der Obersee.

Eine Kreuzung liegt vor mir. Rechts führt der Weg vorbei an dem Teich, dann am Friedhof, dann kommt jener Spielplatz und noch ein Stück weiter ist der Parkplatz des Supermarktes. Dort will ich hin. Ich ignoriere also den Weg zum Obersee und den, der geradeaus zum Pfarracker führt, und folge Darlans Spuren. Es ist der 9. Februar 2008, ein außergewöhnlich warmer und sonniger Tag. Viele Spaziergänger kommen mir entgegen. Die meisten wollen mit Sicherheit zum Obersee und keiner von ihnen scheint zu wissen oder sich daran zu erinnern, dass hier ein grauenhafter Mord stattgefunden hat. Oder, dass die Mörderin ihr Opfer auf dem Friedhof verscharrte, auf dem jetzt viele wieder die Tannenzweige von den Gräbern ihrer Lieben nehmen und neue ewige Lichter entzünden.

Es ist erschreckend, wie schnell Menschen vergessen. So richtig still ist es um Miriam Darlan noch nicht geworden, und nach der Serie, die ich für unsere Zeitung schreiben möchte, wird all das noch einmal hochkochen. Aber dann wird man sich nach ein paar Monaten nicht mehr an sie erinnern. Und das scheint mir keine gute Idee zu sein. Ich mag das nicht hinnehmen und halte ein Pärchen an, das gerade seinen Hund Gassi führt. Ich frage sie, ob sie wissen, was sich hier ereignet hat. Sie erinnern sich noch.

„Aber das ist doch schon so lange her“, sagt die Frau wegwerfend.

„Gerade einmal zwei Jahre“, gebe ich etwas unbehaglich zu bedenken.

„Ach ja … ich erinnere mich … Das war hier? Auf diesem Friedhof?“ Der Mann schaut nachdenklich aus der Wäsche und wirft ein Stöckchen für seinen Hund. Allerdings nur ein paar Meter weit, damit der Hund trotz Leine an ihn herankommt. Was für ein vorbildlicher Bürger. Darlan hat einmal zu mir gesagt, dass diese braven Mitmenschen mir viel mehr Angst machen sollten als sie. Ich steckte gerade frische Batterien in den Rekorder. Sie beugte sich vor, und ich sprang erschrocken auf. Hinter der Tür in meinem Rücken entstand auch schon Bewegung. Immer wenn ich mit Darlan in dem Zimmer sitze, steht ein Wachmann direkt neben der verschlossenen Tür und linst durch ein Guckloch. Beim geringsten Anzeichen eines Angriffs auf mich stürmen sofort drei bis vier uniformierte Männer mit Elektroschockern in den Raum. Man traut ihr eben alles zu. Als ich mich wieder auf den Stuhl gesetzt und der Wachposten die Tür wieder verschlossen hatte, sagte Darlan das zu mir. Dass ich sie nicht zu fürchten brauchte.

„Da draußen sind die, vor denen Sie sich in acht nehmen müssen. Hinter ihrem Lächeln, ihrem Beiseitetreten und ihrer Zuvorkommenheit brodelt es. Sie merken es vielleicht selbst nicht, aber es ist so. Wir alle werden in ein Schema gepresst, aus dem wir nicht ausbrechen dürfen. Wir halten unsere Augen in der Straßenbahn gesenkt. Wir starren aus dem Fenster; wir lesen Zeitung. Wir sehen auf unsere Hände. Aber wir fallen nicht auf. Irgendwann explodieren wir alle. Die meisten innerlich – die kriegen Angststörungen und Depressionen – einige Wenige nach außen. Und niemand kann voraussagen, wann das sein wird – oder wer. Das ist es, was unserer Gesellschaft so viel Angst macht. Oder glauben Sie, Erfurt und Emsdetten waren Einzelfälle? Ich nicht. Ich weiß genau, was in den Jungs vorging.“

Darauf will ich ein andermal eingehen. Jetzt, während der Mann nachdenklich lächelnd zum Friedhof herübersieht, beschließe ich Darlans Redefluss nicht mehr zu unterbrechen. Man kann sie sowieso nicht kontrollieren. Und es ist ihre Geschichte; soll sie sie erzählen, wie sie will.

„Ja, das war hier. Ist Ihnen das wirklich egal?“, frage ich jetzt. Beide heben die Schultern und schütteln betroffen den Kopf.

„Nein, nein, egal ist uns das nicht. Auf keinen Fall! Aber wir sind hier schon so oft vorbeigegangen … wir können nicht jedes Mal ein trauriges Gesicht machen. Das Leben geht weiter.“ Die Frau sagt es und lächelt. Der Mann nickt und lächelt ebenfalls. Beide wünschen mir einen schönen Sonntag und setzen ihren Spaziergang fort.

Nachdenklich betrete ich den Friedhof. Das Leben geht weiter, wie oft ich diesen Spruch schon gehört habe. Für manche geht es nicht einfach weiter. Ich frage mich, was Darlan wohl dazu sagen würde?

Vielleicht kann ich es sie mal fragen.

Der Schildescher Friedhof ist sehr gepflegt und man wird offensichtlich in seiner Kreativität nicht groß behindert. Auf einem Grab sehe ich sogar eine kleine Buddha Statue. Auf vielen Friedhöfen ist derlei unerwünscht. Ich muss eine Weile suchen, bis ich das Grab finde, das Darlan für die Entsorgung ihrer ersten Leiche benutzt hat. Ein Geniestreich war das. Bei allem Abscheu muss man das anerkennen. Und trotzdem war es diese perfekte Lösung, die zu ihrer Entdeckung führte. Seltsam, wie das Leben, das ja einfach weitergeht, so spielt.

Das Grab wird inzwischen nicht mehr genutzt. Ich denke, dass keiner diese Stätte kaufen möchte. Zu viele Menschen wissen Bescheid. Es ist jetzt nichts weiter als eine schmale Unterbrechung der Grabreihe, die mit Gras bewachsen ist. In irgendeiner Form markiert ist sie nicht. Man muss schon wissen, wonach man sucht. Ich finde, man sollte einen Stein aufstellen und einen Spruch von Darlan dort eingravieren, der die Erinnerung an ihre Grausamkeiten wach hält. Sprüche hat sie genug auf Lager. „Ihr habt die Gleichgültigkeit zum Gott erhoben“, zum Beispiel. Das sagte sie, als ich sie nach ihrer Religionszugehörigkeit fragte, und sie sagte, heutzutage gäbe es doch nur einen Gott, an den alle gleichermaßen glaubten.

Nachdenklich starre ich eine Weile auf die Lücke, sehe mich verstohlen um, und ziehe meine Digitalkamera hervor. Etwas dumm komme ich mir schon dabei vor, ein Stück Rasen zu fotografieren. Aber vielleicht hilft mir das Bild beim Schreiben. Ich schieße noch mehr Fotos: das Gebüsch hinter mir, in dem Wolfhardt unter den Tannenzweigen lag, die Wege, die anderen Gräber, die Behälter, in denen man die verrottbaren, unverrottbaren und die restlichen Abfälle entsorgen kann. Zum Obersee, wo sich Darlan ja auch ausgetobt hat, will ich ein anderes Mal gehen. Am besten nicht an einem Wochenende und wenn das Wetter schlechter ist. Man kann einfach nicht nachdenken, wenn von allen Seiten Menschenmassen auf einen zukommen. Und der Obersee ist an den Sonntagen brechend voll.

Als ich wieder zu Hause ankomme, liegen ein großer Strauß Rosen und eine Schachtel teurer Pralinen vor meiner Haustür. Auf der Karte, die in den Rosen steckt, steht: Ich war ein Vollidiot, Dich zu verlassen. Können wir nicht noch einmal von vorn anfangen? In Liebe, Dein Ingo. Ich lache mich schier tot. So will Ingo also an meine Darlan Story rankommen? Aber die Pralinen sehen lecker aus. Genau das Richtige für den Fernsehabend.

5

Fakten über Miriam Darlan:

Name: Miriam Lena Darlan, geborene Miaschek

Geboren am: 10.07.1970 in Dortmund

Eltern: Roland und Claudia Miaschek

Geschwister: Michael und Daniela

Verheiratet mit Felix Darlan vom 17.04.1989 bis zum 26.10.2007

Der Name Darlan ist ein ziemlich alter und ehrwürdiger, wie Felix Darlan in seinem Buch „Vom Leben mit dem Monster“ erklärt. Und seine Frau hat ihn ‚besudelt.’ Felix Darlan ist inzwischen in zweiter Ehe verheiratet. Sein Buch, von einem Ghostwriter geschrieben, steht seit über einem Jahr in den Bestsellerlisten. Von den Dingen, die seine Exfrau getan hat, will er nichts gewusst haben. Auch darüber werde ich mit Miriam Darlan sprechen.

6

Bei meinem nächsten Besuch bitte ich darum, sie vorher in ihrer Zelle sehen zu dürfen. Einmal will ich sie sehen, ohne dass sie mich sieht. Und wie sie in ihrer Zelle sitzt, was sie dort macht. Auf diese Weise will ich mich an sie herantasten. Man führt mich zu einer grünen Tür mit vielen Schlössern und einem Guckloch, mit dem man von außen ins Zimmer sehen kann. Darlan hat ihre Zelle so hübsch wie möglich gemacht. Alles ist aufgeräumt und an seinem Platz, das Bett gemacht, ein paar Bücher liegen auf ihrem Schreibtisch. Einige Blumen aus Transparentpapier, wohl ungelenk von einem Kind gebastelt, hängen am Fenster. Ein Foto von einem Mädchen, das einen kleinen Hund im Arm hält, klebt an der Wand neben dem Bett. Der Tisch ist genauso wie das Bett am Boden festgeschraubt. Der Stuhl, auf dem sie sitzt, ist es mit Sicherheit auch. Sie hat drei Stapel vor sich: Einen mit ungeöffneten Briefen in der Mitte, einen mit geöffneten auf der rechten Seite, und einen Haufen Konfetti auf der linken. Sie hat eine Lesebrille auf der Nase und liest konzentriert einen Brief, den sie in beiden Händen hält. Sie zieht die Augenbrauen hoch, lächelt spöttisch und zerreißt den Brief langsam in kleine Fetzen, die sie auf den anderen Haufen Konfetti legt. Dieser Haufen ist um etwa zwei Drittel kleiner als der mit den geöffneten Briefen.

 

Sie greift gerade zu einem weiteren verschlossenen Umschlag, da ziehe ich mich von dem Guckloch zurück und nicke dem Beamten mit dem Schlüsselbund resigniert zu. Er führt mich in unseren kleinen Raum mit dem wackeligen Holztisch und den scheußlichen Stühlen. Ich baue mein Mikrofon und den Rekorder auf und warte.

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