Die Saga von Witte Wittenson

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„Das will ich für dich hoffen!“, riet ihm Fargrim mit einem bösen Lächeln. „Sonst wird es dein toter Körper sein, der am Abend des dritten Tages an Odins Esche baumelt.“

„Du selbst wirst diesen Baum fällen wollen, wenn mein Gott sein Wunder gewirkt hat!“, sagte Calvinus spitz, während er aus der Halle ging.

Wie er es gesagt hatte, verbrachte er die nächsten drei Nächte und Tage in Helgers Hütte und betete. Allerdings nicht für das Seelenheil der Nordmänner, sondern für eine sichere und vor allem erfolgreiche Rückkehr des Händlers.

Endlich, am Mittag des letzten Tages vor Ablaufen der Frist, kam Helger mit einer Ochsenkarre in das Dorf gefahren. Calvinus lief sofort zu ihm und begutachtete die Ware. Ihm gefiel was er sah.

„Für was brauchst du sieben Fässer Wein?“, wollte Helger wissen. „Willst du dir die Freiheit erkaufen?“

„Mehr als die Freiheit“, antwortete der Mönch verschwörerisch. „Ich werde ein paar Seelen kaufen.“

„Die Hochzeit von Kanaan?“, fragte der Händler zweifelnd.

„Ganz recht!“, nickte Calvinus. „Ich muss nur noch einen Weg finden, die Fässer unauffällig in die Halle zu bringen, und alle glauben zu lassen, dass es Wasser ist. Mir ist bisher noch keine Möglichkeit eingefallen.“

„Das dürfte ohnehin nicht einfach sein“, meinte Helger nachdenklich. „Wenn man in der Halle Wasser braucht, holt man es direkt vom Brunnen. Wasser in Fässern gibt es nur unten am Fluss!“

„Wieso ausgerechnet am Fluss?“, fragte Calvinus nach. „Dort gibt es doch genug Wasser?“

„Für die Schiffe“, erklärte der Händler. „Wenn sie in See stechen, müssen sie Süßwasser mitnehmen. Rudern macht durstig und Met und Bier machen müde.“

Calvinus dachte kurz nach, dann wandte er sich wieder an Helger.

„Also, wenn ich heute Abend den Jarl auffordern würde, mir sieben Fässer Wasser zu bringen…“

„…dann würde er sie unten am Fluss füllen und in die Halle bringen lassen!“, vollendete der Händler mit einer Geste des Verstehens.

„Dann weißt du, was zu tun ist“, lächelte der Mönch verschwörerisch. „Aber füll noch ein achtes Fass mit Wasser und markiere es mit einem Kreuz.“

Der Händler nickte und fuhr mit seinem beladenen Wagen weiter zu dem am Rande der Siedlung gelegenen Flusshafen, um zu tun, worum Calvinus ihn gebeten hatte.

Der Mönch ging derweil siegessicher und gut gelaunt mit seinen Ordensbrüdern in die Halle des Jarls, wo Fargrim bereits auf ihn wartete.

„Ah, Mönch!“, rief er, als er die drei in seiner Halle bemerkte. „Kommst du zu einem Wunder oder zu deiner eigenen Hinrichtung?“

„Das werden wir sehen“, antwortete Calvinus gelassen und setzte sich mit seinen Begleitern an einen der Tische in der Nähe von Fargrims Hochstuhl. „Der Abend ist noch jung. Lass uns abwarten, welches Wunder mein Herr für euch gewählt hat.“

„Nicht so zuversichtlich, Mönch!“, warnte der Jarl höhnisch lachend. „Hier drinnen gibt es keine Büsche, die zu brennen beginnen könnten!“

Die Halle erbebte vom Lachen der Nordmänner.

„Er wird euch überzeugen. Da bin ich mir sicher!“, gab Calvinus mit gespielter Milde zurück.

„Wenn nicht…“, begann Fargrim.

„Baumele ich an der Esche deines Götzen, ich weiß“, unterbrach ihn der Mönch gelangweilt. „Wenn das so sein sollte, wäre das mein letzter Tag auf Erden. Sicherlich gönnt ihr mir doch einen Schluck Wein als Henkersmahlzeit.“

„Wein?“, Fargrim lachte auf. „Leider haben wir hier keinen Wein. Ihr müsst mit Bier oder Met vorlieb nehmen!“

„Keinen Wein?“, gab sich Calvinus enttäuscht. „Das ist sehr bedauerlich. Christen feiern gerne mit Wein, wisst ihr! Vielleicht hat euch ja Helger schon von der Hochzeit von Kanaan erzählt?“

„In der Tat. Dort soll dein Gott Wasser in Wein verwandelt haben. Wirklich, Mönch, das wäre ein Wunder dem selbst ich mich nicht entziehen könnte.“

„Nun, vielleicht soll das euer Zeichen sein!“, gab Calvinus zu bedenken.

„Das ist leicht zu prüfen. Tyrfinn, geh an den Brunnen und hole uns einen Eimer Wasser!“

„Warte!“, hielt Calvinus ihn auf. „Warum soll man ein so großes Wunder mit nur einem Eimer verschwenden. Hole besser gleich acht Fässer, denn so viele waren es in Kanaan!“

Fargrim schien von dieser Idee begeistert und schickte Tyrfinn zum Fluss, um acht Fässer mit Wasser zu besorgen.

Schneller als erwartet war der Mann mit einem mit acht Fässern beladenen Ochsenkarren zurück. Mit ihm gekommen war auch Helger der Händler, der zufällig am Fluss war um Wasserfässer für seine nächste Reise vorzubereiten. Als er von Calvinus Wunsch hörte, war er gerne bereit, seine acht Fässer für den Mönch herzugeben.

Nachdem die Fässer in die Halle gebracht waren, ging Calvinus scheinbar wahllos auf eines der Fässer zu, achtete aber insgeheim darauf, dass es das von Helger mit einem Kreuz markierte Wasserfass war, und ließ es öffnen. Er füllte eigenhändig ein Trinkhorn und brachte es dem Jarl.

„Trink, Jarl Fargrim Aalspießer“, forderte er ihn auf.

Fargrim nahm einen Schluck und setzte sogleich mit einem bösen Lächeln das Trinkhorn ab. „Wasser!“, rief er laut vernehmbar seinen Gefolgsleuten zu. „Heute Abend bekommt Odin einen Mönch geschenkt!“

„Nicht so schnell!“, unterbrach ihn Calvinus mit gebieterischer Stimme. „Glaubst du etwa, mein Gott verschwendet seine Wunder an wilde Heiden? Nein! Wasser für die Heiden, Wein für die Christen! Schwöre erst bei deiner Ehre, dass du und all deine Gefolgsleute, ohne Ausnahme, euch von euren Götzen lossagen werdet und keinen anderen Gott als den der Christen annehmen werdet!“

Der Jarl lachte laut auf: „Ihr Christen wisst nie, wann ihr aufgeben müsst!“ Er hielt sich die Faust ans Herz und verkündete gespielt feierlich: „Ich, Fargrim Aalspießer, schwöre bei meiner Ehre, wenn das Wasser aus diesen acht Fässern zu Wein wird, werde ich und alle hier anwesenden augenblicklich zu Christen!“

„Die sieben Fässer, die noch geschlossen sind, müssen reichen. Mit dem Wasser des achten werde ich euch noch an Ort und Stelle taufen!“

„Meinetwegen!“, gestand ihm der Jarl immer noch lachend zu.

Calvinus ging zurück und ließ nun eines der anderen Fässer öffnen. Er roch sofort den aromatischen Duft des Weines und füllte mit einem leichten Grinsen das Trinkhorn und reichte es wiederum Fargrim.

Ohne etwas anderes als Wasser zu erwarten, nahm der Jarl einen großen Schluck. Plötzlich riss er die Augen weit auf und setzte hustend und spuckend das Trinkhorn ab. Verstört schaute er zuerst in das Horn, dann zu Calvinus und schließlich zu den gespannt wartenden Männern in der Halle.

„Wein“, sagte er zuerst zögernd und leise, dann lauter und schließlich schrie er es regelrecht heraus, „Wein!“

Sofort eilten die anderen Nordmännern zu den Fässern, um sich selbst von diesem vermeintlichen Wunder zu überzeugen.

„Nun?“, rief Calvinus triumphierend in die Runde und stellte sich neben das Wasserfass. „Wer will der erste sein, den ich im Namen des einzigen, des wahren Gottes taufen soll?“

Fargrim erhob sich von seinem Hochstuhl und rief feierlich: „Bei meiner Ehre gab ich dir mein Wort und bei Od… – bei Gott, ich werde es halten!“

Langsamen Schrittes ging er auf Calvinus zu und kniete sich mit gesenktem Haupt vor ihn.

Ein paar lateinische Worte rezitierend, goss der Mönch dem Jarl ein wenig Wasser auf sein Haupt und nahm ihn in die Gemeinschaft der Christen auf.

Nach und nach taufte er zusammen mit seinen beiden Begleitern alle Männer, Frauen und Kinder der Siedlung.

Fargrim betrachtete dieses Schauspiel Wein trinkend von seinem Hochstuhl aus, als sich Helger der Händler, ebenfalls mit einem gefüllten Trinkhorn, zu ihm gesellte.

„Auf dein Wohl, Bruder“, begrüßte er seinen Jarl und hob sein Trinkhorn zum Gruße.

„Auf deines, Bruder“, entgegnete Fargrim wohlwollend. „Und natürlich auf das des ehrwürdigen Bruder Calvinus, auch wenn er etwas länger gebraucht hat als die anderen.“

„Ich habe mein Bestes getan, um ihn darauf zu stoßen“, entschuldigte sich der Händler. „Aber dafür ist dieser Wein erheblich besser als der letzte!“

„Das ist wahr!“, stimmte Fargrim lachend zu. „Aus Klöstern kommt immer ein ganz besonders guter Tropfen.“

„Wie oft bist du jetzt eigentlich schon getauft worden?“, wollte Helger wissen.

„Das weiß nur Odin!“, lachte der Jarl und nahm einen großen Schluck.

3.
DIE SAGA VON WITTE WITTESSON
TEIL 1: DES KÖNIGS NEUE MAUER

H och im Norden herrschte in einem kleinen Reich der Jarl Harlof Thorlofsson, der aber weithin nur als König Harlof bekannt war. Diesen fremdländischen Titel hatte er sich einst selbst verliehen, um allen zu zeigen, welch weit gereister Mann er einst gewesen war, als er bis an die Küsten Afrikas segelte und sogar Rom und Konstantinopel mit eigenen Augen gesehen hatte.

Doch diese Zeiten lagen weit zurück und nun war er alt und nicht mehr bei bester Gesundheit. Trübsinnig saß er auf seinem Hochstuhl in seiner Hauptstadt Glänoy und beschloss, dass diese Welt ihm nichts mehr zu bieten hatte, weshalb er aus ihr scheiden wollte.

Da er aber den Titel eines Königs angenommen hatte, meinte er sein Reich vererben zu müssen, anstatt wie es Brauch war, dem fähigsten seiner Gefolgsleute zu hinterlassen.

Allerdings hatte ihm seine Frau nur Töchter geboren und keine Söhne, weshalb nun einer seiner drei Schwiegersöhne seine Nachfolge antreten sollte.

Er rief sie zu sich und unterbreitete ihnen seine Absichten.

Während einer von ihnen, nämlich Witte Wittesson, der Mann seiner jüngsten aber schönsten Tochter, den König diese Vorhaben auszureden versuchte, verlangten die beiden anderen, Aki Ivarsson und Gnupi Signundsson, nur zu wissen, auf welchen von ihnen die Wahl gefallen sei.

 

Der König sagte, dass er sich nicht unter ihnen entscheiden konnte, da Aki der Älteste, Gnupi der Stärkste und Witte der Klügste sei, weshalb er sich entschieden hatte, ihnen eine Aufgabe zu stellen und denjenigen zu wählen, der diese als erster erfüllen würde.

So sollte derjenige, der als erster eine zwei Mann hohe Mauer um die Hauptstadt ziehen konnte, nach ihm König sein.

Sofort eilten Aki und Gnupi zu ihren Gefolgsleuten, um sie zur Arbeit einzuteilen, nur Witte sagte: „Es ist Frühling und die Saat steht bevor. Meine Leute müssen säen und anbauen, sonst hungern sie im Winter. Da ist keine Zeit, eine Mauer zu errichten.“

Und so ließ Witte seine Gefolgsleute auf den Feldern und in den Wäldern ihre gewohnte Arbeit tun, während Akis und Gnupis Felder brach lagen, da ihre Mannen in den Steinbrüchen Steine schlugen und vom ersten Tag an mit der Arbeit an den Mauern beschäftigt waren.

Beide kamen anfangs gut voran, doch beäugten sie sich ständig misstrauisch und voller Neid, und immer wenn es so schien, dass einer einen Vorsprung herausarbeiten konnte, sorgte der andere dafür, dass durch Unfälle und Einstürze die Arbeit des Rivalen wieder ins Stocken geriet.

So lagen sie im Sommer weit hinter ihren Erwartungen zurück, als Harlof kam, um ihre Arbeit zu begutachten.

Als der König sah, dass Witte noch nicht mit dem Mauerbau begonnen hatte, fragte er ihn, wann er den ersten Stein legen wolle, doch dieser antwortete: „Es ist Sommer und meine Leute wollen auf Raubzug fahren wie in jedem Sommer zuvor. Da ist keine Zeit, eine Mauer zu bauen.“

Der König nickte verstehend, bedauerte aber Wittes Entscheidung, denn tief in seinem Herzen wünschte er, dass Witte den Wettstreit für sich entscheiden würde, um seine Nachfolge anzutreten.

So fuhr also Witte mit seinen Männern alsbald auf Raubzug, während Aki und Gnupi weiterhin an ihren Mauern bauten.

Aki trieb seine Arbeiter, in seinem unbändigen Wunsch König zu werden, so hart an, dass viele seiner Unfreien an der Mühsal zerbrachen und starben.

Hatte ihn sein unerbittliches Antreiben zuerst in Führung gebracht, warfen ihn nun diese Verluste wieder herb zurück, so dass Gnupi mit seiner Mauer gleichauf zog.

Um seine Möglichkeiten zu bewahren, lies Aki daraufhin einige von Gnupis Sklaven heimlich vergiften.

So lagen beide gleichauf und dennoch weit hinter ihren Erwartungen zurück als der Herbst die Blätter färbte und König Harlof ein zweites Mal ihr Vorankommen begutachtete.

Witte, der mit reicher Beute von seinem Raubzug zurückgekehrt war, hatte immer noch keinen Stein gelegt und der König fragte ihn, da er den Vorsprung der anderen für einholbar hielt, ob er nicht doch mit dem Mauerbau beginnen wolle. Doch wieder sprach Witte: „Es ist Herbst und meine Leute müssen ernten und Vorräte anlegen, sonst haben sie im Winter nichts zu essen. Da ist keine Zeit für einen Mauerbau.“

Der König verstand und fragte nicht weiter nach.

Und so brachten Wittes Gefolgsleute reiche Ernte ein, während Aki und Gnupi ihre Mannen weiterhin mit dem Mauerbau beschäftigten.

Die Tage wurden kürzer und die ersten Vorboten des Winters machten sich im Königreich bemerkbar, als Aki und Gnupi die Hauptstadt je zu einer Hälfte umzogen hatten und sich nun mit ihren Mauerenden an zwei Stellen gegenüberlagen. Hätte man die beiden Hälften mit ein paar Steinen verbunden, hätte Glänoy bereits jetzt eine starke und wehrhafte Mauer besessen. Doch die Aufgabe des Königs lautete, dass nur derjenige seine Nachfolge antritt, der zuerst mit seiner Mauer die Stadt umschließt, und so stritten nun Aki und Gnupi, wessen Mauer der des anderen weichen sollte. Natürlich wollte keiner der beiden nachgeben und so beschlossen sie, aneinander vorbeizubauen. Der Münzwurf sollte entscheiden, wer Innen und wer Außen weiterbauen musste.

Doch bevor dies geschehen konnte brach der Winter ins Land und es zeichnete sich ab, als solle er besonders hart und lang werden.

Da beschlossen Aki und Gnupi, den Bau den Winter über ruhen zu lassen, und erst im nächsten Frühling fortzusetzen.

Also kauften sie sich am Markt, was immer sie für den Winter brauchten und zogen sich in ihre Hallen zurück.

Ihre Gefolgsleute aber, die seit dem Frühling ununterbrochen an der Mauer gearbeitet hatten und weder Aussaat noch Ernte noch sonstige Vorkehrungen für den Winter getroffen hatten, froren und hungerten bitterlich.

Um Wärme und Essen bettelnd, klopften viele von ihnen an Wittes Tür, von dem sie wussten, dass er im Herbst reiche Ernte eingefahren hatte.

Witte hatte ein Einsehen und ließ sie ein.

Da es aber ungesetzlich war, den Unfreien eines anderen Herren Unterschlupf zu leisten, ging Witte am nächsten Tag zu Aki und Gnupi und bat sie darum, ihm ihre Leute rechtlich zu überlassen, da sie sonst den Winter nicht überleben würden.

Aki und Gnupi, denen solche Wohltätigkeit völlig fremd war, wähnten aber andere Beweggründe hinter Wittes tun, und so antworteten sie:

„Das könnte dir so passen, Schwager. Jetzt nimmst du uns die Arbeiter und im Frühjahr baust du mit ihrer Hilfe deine Mauer, während wir noch auf der Suche nach neuen Kräften sind. Niemals. Lieber lassen wir sie sterben!“

Da wurde Witte zornig und er sagte:

„Bei Odin, verbrecherisch und ehrlos ist euer Tun! Nie hegte ich den Wunsch, König zu werden, doch wäre es eine Schande für Harlofs Reich einen von Euch auf dem Hochstuhl sitzen zu sehen. Vielleicht sollte ich wirklich noch mit meiner Mauer beginnen.

Doch heute bin ich hier, um zu verhindern, dass euretwegen viele gute Menschen sterben. So mache ich euch folgendes Angebot: Ihr überlasst mir in diesem Winter jeden eurer Leute mit Leib und Werk, der in meiner Halle Zuflucht sucht, doch im Frühling sollen sie zu euch zurückkehren und erneut euer Eigen sein.“

Dem willigten die beiden nur allzu gerne ein, denn so mussten sie sich nach dem Winter keine neuen Sklaven suchen. Und sie lachten über ihren Schwager und sein mildes Herz.

Witte aber lies verkünden, dass er jedem, der zu ihm kommen wolle, in seiner Halle Kost und Lager gab. Beinahe alle von Akis und Gnupis Männern folgten diesem Angebot.

Dann sagte er zu ihnen: „Diesen Winter sollt ihr in meiner Halle ein warmes zuhause und ausreichend Nahrung finden, doch wenn der Schnee schmilzt, müsst ihr zurück zu euren Herren.“

Da ging ein großes Seufzen durch Wittes Halle.

„Sie werden uns wieder zum Mauerbau zwingen und wir können weder säen noch ernten“, rief einer.

„Warum wirst du nicht König, Witte Wittesson?“, rief ein anderer. „Denn du bist klüger und gerechter, als beide deine Schwäger zusammen!“

Dem stimmten alle anderen mit lautem Jubel zu.

Auch Wittes Frau, die neben ihm stand und ihm nun zuflüsterte: „Sieh nur diese Menge. Wenn nicht Winter wäre, könntest du mit ihnen im Handumdrehen eine eigene Mauer bauen und tatsächlich König werden. Doch leider kann man auf Schnee keine Steine setzten, denn auf Schnee hält nichts außer Schnee selbst.“

Da lachte Witte aus ganzem Herzen und umarmte und küsste seine verwunderte Frau. Dann wandte er sich wieder an die Menschen in seiner Halle und sprach: „Weise sind die Ratschläge der Frauen, auch wenn sie es selbst nicht ahnen. Mit Leib und Werk machten euch eure Herren mir für diesen Winter zu Eigen, und wenn ihr erlaubt, werde ich es nutzten, um König zu werden.“

Es gab niemanden, der es ihm verweigern wollte.

Dreißig Tage später rief Harlof seine drei Schwiegersöhne zu sich und verkündete öffentlich und voller Stolz, dass Witte Witteson sein Nachfolger sein würde.

„Verrat!“, schrien da Aki und Gnupi. „Du selbst sagtest, dass derjenige König werden soll, dem es zuerst gelingt, eine Mauer um Glänoy zu ziehen!“

Doch der König lächelte mild und nickte bestätigend: „Und genau das habe ich getan.“

„Das ist unmöglich!“, wandte Aki ein. „Niemand baut so schnell eine Mauer!“

„Schon gar nicht im Winter!“, fügte Gnupi hinzu.

„Wenn ihr selbst dem König nicht glaubt“, fiel Witte ihnen ins Wort, „so geht raus und schaut selbst!“

Sofort eilten die beiden hinaus vor die Stadt und erkannten mit ungläubigem Blick eine zwei Mann hohe, weiße, aus Schnee gebaute Mauer, die sich rings um die Stadt zog.

„Das ist keine Mauer!“, riefen sie erbost. „Das ist bloß Schnee. Im Frühling wird nichts mehr davon zu sehen sein!“

Wieder lächelte der alte König und sagte: „Ich gab weder vor, dass die Mauer aus Stein sein soll, noch das sie länger als auch nur einen Tag halten soll. Witte hat die Aufgabe meinen Ansprüchen genügend erfüllt. Ihm soll mein Reich nach meinem Tode gehören.“

Schon im nachfolgendem Frühling verstarb der König und Witte, den jetzt jedermann nur noch „Schnee-Witte“ nannte, trat sein Erbe an.

Aki und Gnupi verließen gedemütigt die Stadt und nur wenige aus ihrem Gefolge zogen mit ihnen.

Ihre beiden Mauerhälften aber lies Witte mit ein paar Steinen verbinden, und so hatte Glänoy auch in den warmen Jahreszeiten eine durchgängige Stadtmauer.

4.
DAS THORJAN’SCHE PFERD

Einar Ormsson, ein dänischer Jarl in Jütland, war niemals ein Mann schneller Entschlüsse. Bei den Zusammenkünften auf dem Thing war er immer der letzte der Jarle, der seine Meinung zu einem Streitfall äußerte. Auch in seiner Halle gab er erst einen Urteilsspruch ab, nachdem er sich gründlich damit beschäftigt hatte. Es wird sogar berichtet, dass er einst einer Hochzeit eines seiner Vasallen erst die Zustimmung gab, als dessen Braut bereits auf dem Kindbette gestorben war.

Einmal wäre beinahe sein gesamtes Gefolge verhungert, weil er sich nicht entscheiden konnte, welches Getreide er im Frühling aussäen lassen sollte.

Sogar sein erstgeborener Sohn soll erst einen Namen erhalten haben, als er bereits laufen konnte. Er nannte ihn schließlich Orm, nach seinem Vater.

Wenn man all diese Geschichten hört, verwundert es auch nicht, dass er sich erst dazu entschließen konnte, seine Schiffe auf Raubzug an ferne Ufer zu schicken, als seine Nachbarn bereits mit reicher Beute und strahlendem Ruhm heimgekehrt waren.

„Orm, mein Junge“, sagte er zu seinem Sohn, als der Herbst bereits die Blätter gelb färbte, „nimm ein paar meiner Schiffe, stelle eine gute Mannschaft zusammen und bring mir Schätze aus fernen Ländern, die unsere Nachbarn vor Neid erblassen lassen.“

Orm, der das genaue Gegenteil zu seinem Vater war, nämlich überaus schnell entschlossen und hitzköpfig, musste dazu nicht lange überredet werden. Schon am Abend desselben Tages hatte er eine schlagkräftige Mannschaft zusammengestellt, mit der er am Morgen des übernächsten Tages in See stach.

Ein Ziel war schnell ausgemacht. Nachdem in den letzten Sommern immer wieder die britannischen Inseln den Wikingern zum Opfer fielen, war allen klar, dass dort nicht mehr viel zu holen war. Dagegen berichteten viele Raubfahrer, dass sie diesen Sommer im Land der Franken und weiter südlich gute Beute gemacht hatten. Besonders den Fluss hinauf, den die Einheimischen Seine nannten, waren allen Anschein nach wahre Schätze zu holen.

Der Wind stand gut und so segelten sie wortwörtlich in Windeseile an den Küsten Sachsens, Frieslands und Asturiens entlang und erreichten ungehindert die Mündung der Seine. Von da an nahmen sie die Ruder zu Hilfe und kämpften sich gegen die Strömung den Fluss hinauf.

Schon bald kam der erste Kirchturm am Horizont in Sicht und die Vorfreude der Männer auf Kampf und Beute führte dazu, dass sie zum Takt der Ruderschläge ihre gefürchteten Kriegsgesänge anstimmten.

Noch bevor die Anwohner des Dorfes die Segel und Drachenköpfe der Langschiffe den Fluss hinaufkommen sahen, hörten sie die rauen Stimmen der Männer und hegten keinen Zweifel daran, wer sie heimzusuchen gedachte.

In wilder Panik flohen sie in die Wälder und ließen all ihr Hab und Gut und oft sogar ihre Kinder und Alten ungeschützt in den Häusern und Höfen zurück.

Zuerst waren Orm und seine Gefährten erzürnt über so viel Feigheit, doch dann beschloss man, das Gute an der Sache zu sehen und in aller Ruhe die Siedlungen zu plündern.

Es dauerte nicht lange, bis sie bemerkten, dass es nicht viel zu holen gab.

Ein paar Hühner, einige rostige Waffen und einen Haufen schmutziger Kleider waren alles, was sie finden konnten. Nicht einmal ein paar minderwertige Münzen ließen sich finden, geschweige denn Gold, Edelsteine oder zumindest kostbare Tücher oder Gewürze.

 

Thorjan der Weitgereiste, der seinen alten Freund Orm auf diesem Raubzug begleitete, beherrschte die Sprache der Einheimischen am besten und erfuhr von einem der zurückgelassenen Alten den Grund für diese Armut. Alleine in diesem Sommer war die Siedlung schon viermal von verschiedenen dänischen Wikingern geplündert worden.

Enttäuscht stiegen sie zurück auf ihre Schiffe und ruderten weiter flussaufwärts.

Doch in der nächsten Siedlung war ihr Erfolg aus denselben Gründen nicht besser. Wenigstens etwas Vieh fand man, was immerhin eine willkommene Abwechslung des Speiseplans brachte.

Doch da man auch in der dritten und vierten Siedlung, die man überfiel, keine nennenswerte Beute machen konnte und die kälter werdenden Nächte langsam aber sicher den nahenden Winter ankündigten, deutete alles darauf hin, dass dies der erfolgloseste Raubzug aller Zeiten werden könnte.

„Alle werden mich verspotten und über mich lachen!“, klagte Orm seinem Freund Thorjan auf dem ausgestorbenen Marktplatz der fünften und schon viele Male vorher geplünderten Siedlung. „Mein Vater wird zum ersten Mal in seinem Leben nicht lange nachdenken müssen und mich sofort nach unserer Rückkehr verstoßen.“

Thorjan wusste nicht, wie er ihn trösten sollte und war froh, als sie von einem der anderen Wikinger unterbrochen wurden, der seinem Anführer die Gefangenen vorführen wollte. Wie auch in den anderen Siedlungen handelte es sich wieder nur um Alte, Kranke und Kinder.

Wie üblich war es an Thorjan, die Einheimischen in ihrer Sprache zu befragen.

Nach allen Fragen über Gold, Schmuck und sonstigen Wertsachen, die wie zu erwarten keine erfreulichen Ergebnisse brachten, stellte er auch wieder die Frage nach der Häufigkeit der Überfälle in diesem Sommer.

Doch dieses Mal barg die Antwort eine Überraschung.

„Dreimal von euresgleichen“, antwortete einer der Alten, „und einmal von den Männern des Herzogs Herwigs.“

„Euer Herzog überfällt sein eigenes Volk?“, fragte Thorjan verwundert nach.

„Er ist kein wahrer Herzog, sondern nur ein Räuber und Mörder wie ihr!“, entfuhr es dem Mann. „Doch er ist weit und breit der reichste und mächtigste Mann am Ufer der Seine, weil noch keiner von euch Heiden das Kunststück fertig gebracht hat, seine Burg zu plündern!“

„Eine Burg voller Schätze die noch keiner geplündert hat?“

„Vergesst es, Nordmann! Keiner kommt dort ungebeten herein! Und nun schon gar nicht mehr!“

„Was meinst du damit?“, wollte Thorjan wissen,

„Die Ernte ist eingebracht und in der Burg verstaut“, erklärte der Alte. „Nicht mal eine längere Belagerung braucht Herweg zu fürchten.“

„Es gibt keine Mauer, die uns standhalten könnte!“

„Wenn du meinst.“ Der alte Mann hob gleichgültig die Arme. „Ihr könnt ja gerne euer Glück versuchen. Acht Meilen flussaufwärts. Ihr könnt sie nicht verfehlen. Vielleicht gelingt es euch, vielleicht findet ihr einen raschen Tod. Beides würde mich glücklich machen.“

Nachdem Thorjan Orm und den anderen von der ungeplünderten Burg erzählt hatte, fassten sie wieder neuen Mut.

Sofort bestiegen sie die Schiffe und ruderten den Fluss hinauf. Bald sahen sie die Zinnen der Burg über den Wipfeln der am Ufer stehenden Bäume.

„Das ist unser Ziel!“, rief Orm seinen Männern zu. „Ich schwöre bei Odin, dem Schutzherren meiner Sippe, dass ich nicht eher kehrtmachen werde, bis ich diesem Herwig das letzte Körnchen Gold unter dem Fingernagel weggekratzt habe.“

Doch als die Schiffe um die letzte Biegung herum waren und die Burg offen vor ihnen lag, bereute Orm seine leichtfertig dahin gesprochenen Worte, denn die Burg war ganz anders, als er es erwartet hatte. Sie schien wahrlich uneinnehmbar. Statt einfacher Mauern aus übereinander geschichteten behauenen Steinen, waren die Mauern dieser Burg steil zulaufende natürliche Felswände. So massiv und unüberwindlich, dass nicht einmal eine Horde Riesen sie niederzureißen vermocht hätte. Nur in einer kleinen Spalte zwischen den Felsen waren einige Steine gemauert worden, die ein riesiges hölzernes, mit Eisen beschlagenes zweiflügeliges Tor umfassten.

„Bei den Göttern“, fluchte Orm, „das ist keine normale Burg, das ist Hrimthurs Werk. Wie sollen wir dort hinein gelangen?“

„Das Tor steht noch auf!“, rief einer der Männer. „Vielleicht haben sie uns noch nicht bemerkt. Wenn wir uns eilen…“

„Unsinn!“, unterbrach ihn Orm. „Siehst du nicht die Männer auf der Mauer über dem Tor? Sie haben uns genauso gut gesehen, wie wir sie.“

„Doch warum schließen sie das Tor nicht?“, fragte sich Thorjan laut.

„Seht!“, rief ein anderer der Männer und zeigte auf den Waldrand zu ihrer Rechten.

Zwei Reiter und annähernd zehn Männer zu Fuß brachen aus dem Wald hervor und rannten so schnell sie konnten auf das Tor zu.

„Wer ist das?“, fragte einer der Wikinger.

„Mir scheint, sie waren auf der Jagd!“, meinte Orm. „Schneidet ihnen den Weg ab, vielleicht können sie uns noch nützlich sein.“

Sofort setzten sich die Nordmänner in Bewegung.

Natürlich gelang es ihnen nicht, die Reiter einzuholen, doch die Läufer konnten ohne große Mühe vor den Toren abgefangen und eingekesselt werden.

Schnell stellte sich heraus, dass es nur ein paar Jagdhelfer ohne besonderen Wert waren. Hätte man die Reiter erwischt, hätte man wahrlich einen Grund zur Freude gehabt, denn einer davon, so verrieten die Jagdhelfer Thorjan, war der Sohn des Herzogs persönlich gewesen.

„Der hätte uns wenigstens Lösegeld eingebracht“, wetterte Orm, „aber so haben wir gar nichts. Für ihre Jagdhelfer würden sie uns nicht mal ein paar Eier geben.“

„Abwarten!“, unterbrach ihn Thorjan. „Vielleicht sind sie uns doch nützlich. Sie beschrieben ihren Herrn als äußerst hochmütig und eitel!“

„Wie sollte uns das nützen?“, wollte Orm wissen.

„Nun. Ganz einfach…“, lächelte Thorjan und erklärte Orm seinen Plan.

Kurze Zeit später stand der Anführer der Nordmänner allein und in voller Bewaffnung und Rüstung einen Speerwurf weit entfernt vor den Toren der herzoglichen Burg und rief mit fester lauter Stimme nach dem Herzogssohn.

„Was bist du für ein Feigling, dass du vor uns davon reitest und deine Getreuen jämmerlich im Stich lässt?! Wärst du ein Däne, würde dein Vater dich von der höchsten Zinne seiner Burg stoßen und dir angewidert hinterher spucken! Wenn du einen letzten Funken Ehre besäßest, würdest du herauskommen und versuchen, deine Männer in einem ehrlichen Zweikampf gegen mich auszulösen!“

Wie es Thorjan, der zusammen mit den anderen Nordmännern nur einige Schritte entfernt vom Ufer die Begebenheiten aus der Ferne beobachtete, vorausgesagt hatte, öffnete sich kurz darauf das Tor der Burg und einer der Reiter, die vorhin noch vor ihnen geflohen waren, trabte langsam hoch zu Ross daraus hervor und stellte sich Orm gegenüber.

„Ich bin Hermann der Starke, der Sohn des Herzogs. Niemand nennt mich einen Feigling und lebt weiter!“

„Dann steig ab und komm her und kämpfe!“, rief ihm Orm mit seinem Schwert winkend zu.

„Von Mann zu Tier?“, spottete Hermann. „Das bist du wohl kaum wert, Abschaum. Lieber von Tier zu Tier. Mein Pferd soll dich in Fetzten trampeln!“

Und mit ein paar Tritten in die Seite spornte er sein Pferd an und stürmte auf Orm los.

Der Nordmann, der nicht mit einem fairen Kampf gerechnet hatte, wartete den Vorstoß mit kühlem Kopf ab. Erst im letzten Augenblick sprang er vor den todbringenden Hufen zur Seite und stach mit seinem Schwert nach dem Pferd, sodass dessen Bauch durch die Vorwärtsbewegung von vorne bis hinten aufgeschlitzt wurde und es tödlich verletzt wie ein Stein zu Boden sank, wodurch es seinen Reiter einige Fuß weit nach vorne schleuderte. Sofort rannte Orm auf den Herzogssohn zu und hielt ihm sein Schwert an den Hals.

Im Tor der Burg zeigten sich ein paar weitere Reiter, doch noch bevor sie sich zu einem Angriff entschließen konnten, hatten Thorjan und die anderen Wikinger zu Orm aufgeschlossen und die Männer des Herzogs verschwanden wieder hinter das sich schließende Tor.