Geistbestimmtes Leben

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From the series: Studiengang Theologie #11
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1.3.1
Gottes Geist und Abergeister

Bei der Unterscheidung zwischen dem Heiligen Geist und den Abergeistern geht es um die Frage, was mein Leben bestimmt und Macht über mich hat. Was prägt mein Leben? Was ist die Kraft, die mich bewegt, so oder anders zu denken, zu entscheiden und zu handeln? Spiritualität hat mit der Fähigkeit zu Selbstdistanz und Selbstkritik zu tun. So heisst es schon im 1. Johannesbrief: «Traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind!» (1 Joh 4,1) Die Aufforderung zur kritischen Selbstprüfung setzt voraus, dass wir uns selbst nicht transparent sind und oft nicht wissen, |28| welche Kraft und welcher Geist uns bestimmt. Die Tiefen unserer Seele sind uns verborgen. Nur manchmal, in Träumen oder Erleuchtungsmomenten, dringt etwas stärker ans Licht und erschliesst sich unserem Verstehen. Damit ist das, was uns grundlegend bestimmt, dem direkten willentlichen Zugriff entzogen. In christlicher Perspektive tut sich hier das Spektrum auf zwischen einem Leben, das durch den Heiligen Geist bestimmt ist, und einem, das sich mit Geistern verbündet hat, die uns in offensichtlicher oder verborgener Weise versklaven.

Die Frage der Unterscheidung der Geister, die sich hier stellt, beantwortet das Neue Testament mit dem Hinweis, dass sich an Jesus die Geister scheiden. Zur Unterscheidung der Geister kommt man deshalb nicht durch Introspektion allein. Es braucht die Verbindung zwischen genauer Selbstwahrnehmung und dem Blick auf die Lebensgestalt Christi. Im Laufe der Zeit kam es zu immer differenzierteren Anleitungen, die Geister im Blick auf bestimmte Situationen und Phänomene zu unterscheiden. Ignatius von Loyola legt im 16. Jahrhundert eine originelle Synthese dieser über Jahrhunderte gewachsenen Unterscheidungskunst vor, die ganz auf die persönliche Lebenswahl hin zugeschnitten ist. Sie bezieht alle Kräfte des Menschen (Imagination, Reflexion, affektive Selbstwahrnehmung) und vielfältige Formen von Gebet und Meditation in einen klar strukturierten Unterscheidungs- und Entscheidungsprozess ein.15

Eine Unterscheidung der Geister ereignet sich nicht nur, wo besondere Erfahrungen gegeben oder konkrete Entscheidungen zu fällen sind. Sie ist auch Teil eines geistlichen Reifungsprozesses.16 Er vollzieht sich in der Verbindung von heilsamer Gotteserkenntnis und läuternder Selbstwahrnehmung. Die Selbsterschliessung Gottes als vergebende Liebe macht auch unsere Vergebungsunwilligkeit offenbar. Die Zuneigung Gottes enthüllt unsere Abneigungen. Kommt Licht in die Dunkelheit, kommt die Dunkelheit ans Licht. Wo Gott Menschen als Heiliger Geist nahekommt, da fliehen die Un- und Abergeister. Doch fliehen sie nicht kampflos und ohne |29| Widerstand. So kommt es zu der auf den ersten Blick paradoxen Erfahrung, dass gerade diejenigen, die ihr Leben nach dem Heiligen Geist zu leben beginnen, die Gegenmächte am intensivsten spüren. Wer gegen den Strom schwimmt, erfährt die Kraft der Strömung.

Spirituelle Vertiefung beginnt mit der Erfahrung, dass wir von lästigen Un- und Abergeistern bewohnt werden, die wir nicht einfach per Willensentschluss loswerden können. Gegenüber dem Ausmass unserer Verstrickungen und Verwundungen bleibt unser eigenes Bemühen um Selbstveränderung Oberflächenkosmetik. Die Verwandlung, die wir nicht selbst bewirken können, beginnt dort, wo wir unsere Armut bejahen, unsere Erlösungsbedürftigkeit wahrnehmen und auf diese Weise einen neuen Geist bei uns einlassen. «Dämonen kommen ungeladen, wenn das Haus leer steht. Anderen Gästen musst du schön die Tür öffnen», heisst es bei Dag Hammarskjöld.17 Die Öffnung für das Wirken des Heiligen Geistes geschieht dort, wo wir uns einlassen auf die Leidenschaft Gottes, die uns herauslöst aus unfrei machenden Loyalitäten und uns herausholt aus unserer Umlaufbahn, die endlos um uns selbst führt.

Die Unterscheidung der Geister ist deshalb ein Charisma, ein Geschenk des Heiligen Geistes, weil sie in uns Klarsicht und Entschiedenheit bewirkt, durch die wir unsere bleibende Not und Gefährdung ebenso erkennen wie das, was uns heilsam verwandelt und ans neue Ufer hinüberführt. Verwandlung braucht Zeit und Geduld. Sie geschieht dadurch, dass wir in der Nähe des Heiligen Feuers verweilen und uns von einer Kraft bestimmen lassen, die unsere eigenen Möglichkeiten übersteigt. Die Verwandlung, die uns in Gottes Nähe hineinholt, geschieht, wenn wir uns dem Licht Christi zuwenden und es aushalten, wenn dieses Licht auch unsere Dunkelheiten hervorholt. Denn nur was angenommen ist, kann geheilt werden.

1.3.2
Göttlicher und menschlicher Geist

«Erkenne Dich selbst!» Die berühmte Inschrift am Tempeleingang zu Delphi ermahnte den Eintretenden, sich seiner |30| Grenzen zu erinnern und sich als endliches, gebrechliches und unwissendes Wesen zu akzeptieren. Nur wer der Versuchung der Hybris, der Selbstvergöttlichung, widersteht, darf sich in das Heiligtum, in die Nähe Gottes vorwagen.18 Sich der schmerzlichen Wahrheit zu stellen, sterben und auf vieles verzichten zu müssen, gehört zu den schwersten Lektionen, die dem Menschen aufgegeben sind. Ihr nicht auszuweichen, bedeutet den Anfang der Weisheit: «Unsere Tage zu zählen lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz» (Ps 90,12). Weisheit und Demut erwachsen aus dem bejahten Wissen um die eigenen Grenzen. Dass die Grenzen des Menschen nicht einfach feststehen und wir auch hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben und Talente leichtfertig verspielen können, macht die Kunst des Unterscheidens auch in diesem Bereich ebenso dringlich wie anspruchsvoll.

Paradigmatisch für diese weisheitlich geprägte Kunst der Diskretion wurde im westkirchlichen Kontext die Regel des Hl. Benedikts. Im Unterschied zu seinen Vorläufern entwirft der Vater des abendländischen Mönchtums das Bild eines christlichen Lebens, das in allen Bereichen von einem guten menschlichen – und das heisst auch: individuell angepassten – Mass gekennzeichnet ist. Der geistliche Aufstieg geschieht nach Benedikt durch den Abstieg ins Tal der Demut.19 Wer dem «Ruf des Meisters» folgen möchte20, hat zu lernen, dass er allen Fortschritt auf diesem Weg nicht sich selbst, sondern Gott allein zuzuschreiben hat, der sich in seinem Leben vergegenwärtigt, ihn erleuchtet und ihm die Kraft zum Aufbruch schenkt.

Dass Gottes Geist dem Menschen nicht äusserlich bleibt, sondern ihn von innen her durchwirkt und bestärkt, stellt vor die Aufgabe, zwischen menschlichem und göttlichem Geist zu unterscheiden. Gegen ein naheliegendes und häufig auftretendes Missverständnis ist dabei zu betonen, dass unterscheiden nicht trennen bedeutet. Zu unterscheiden bedeutet nicht, sich einzumauern. Im Gegenteil: Unterscheidung ermöglicht |31| Beziehung und Nähe. Christliche Spiritualität lebt vom «wohltuenden Unterschied zwischen Gott und Mensch»21. Der Heilige Geist, der den Menschen bewohnt, inspiriert und begeistert, geht weder im «Geistigen» des Menschen noch im «Gemeingeist»22 der Kirche auf. Wird diese Unterscheidung eingezogen, kommt es zu einem diffusen Geistverständnis, das in der Antike ebenso populär war wie heute. So lehrte bereits der Stoiker Chrysipp (um 281–208), «die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, die Welt selbst und die alles durchdringende Weltseele sei Gott»23.

Gottes Geist von meinem eigenen Geist, seine Kraft von meiner Kraft zu unterscheiden, bedeutet, ihn sowohl von meiner intellektuell-geistigen Aktivität als auch von meinem psychophysischen Leben zu unterscheiden. Der Heilige Geist umfasst und durchwirkt Geist, Seele und Leib (vgl. 1 Thess 5,23), geht aber nicht in ihnen auf. Als schöpferischer Geist transzendiert er die geschöpfliche Wirklichkeit des Menschen. Als heiligender Geist erleuchtet er meinen Intellekt, berührt meine Affektivität, heilt psychische Verletzungen, erfüllt mich mit Lebensenergie, indem er mein Dasein auf Gott hin öffnet.

Diese Unterscheidung zwischen dem Heiligen Geist Gottes und der Geistigkeit des Menschen, so klar sie sich zunächst ausnimmt, bereitet jedoch beträchtliche Schwierigkeiten. Eine Verwechslung und Vermischung legt sich dadurch nahe, dass der Heilige Geist sich hinter seinen Gaben verbirgt. Er tritt in unserer Wirklichkeit auf und verbirgt sich auf diese Weise zugleich hinter ihr, so dass schwer zu unterscheiden ist, was uns und was ihm zuzuschreiben ist. Das Flüstern des Heiligen Geistes ist uns nur im Echo unseres Geistes hörbar und in responsorischem Erleben spürbar; sein göttliches Licht sehen wir nie unvermittelt, sondern nur im farbigen Abglanz, in den vielfachen Brechungen, die sein pneumatisches Licht im Prisma unseres Pneumas erfährt; und das |32| Wort, das Gottes Geist in uns spricht, hören wir nur in der Antwort unseres Verstehens und Erlebens.

Unser religiöses Verstehen und Erleben von dem zu unterscheiden, worauf es sich antwortend bezieht, bedeutet, es auf ein Grösseres hin zu öffnen und mich selbst zurückzunehmen. Will ich mich nicht im Spiegelkabinett meiner Seele verlaufen, muss ich nach der Lichtquelle suchen, die es erleuchtet und die meine Denk-, Vorstellungs- und Erlebnismöglichkeiten übersteigt. Nur dadurch, dass ich mein Verstehen und antwortendes Erleben von seinem Wirken in mir unterscheide und mich immer wieder neu um ein tieferes Verstehen meiner geistlichen Erfahrungen bemühe, kann ich davor bewahrt werden, meine Gottesbilder mit Gott selbst zu verwechseln. Die geistliche Übung, unseren Geist zu unterscheiden von dem uns durchwirkenden Geist Gottes, eröffnet so den Weg zu kreatürlicher Bescheidenheit, zu realistischer Selbsterkenntnis und schützt vor einem Enthusiasmus, der den menschlichen Rauch mit dem Feuer Gottes verwechselt.

 

Wie wichtig die Unterscheidung zwischen Gottes Geist und unserem Geist ist, zeigt sich in der Frage, wie denn die Aussage zu verstehen sei, dass diese Unterscheidung selbst eine geistliche Übung sei. Unterscheidungen vollziehen zu können, ist ja zunächst eine rationale Leistung unseres Geistes. Das Charisma der Unterscheidung der Geister macht sich zwar diese menschliche Fähigkeit zunutze, geht aber nicht in ihr auf. Will man vermeiden, durch ein kritisch-distanziertes Unterscheiden den Geist auszulöschen (vgl. 1 Thess 5,19), hat man darauf zu achten, «daß nicht der menschliche Geist es ist, der sich zum unter- und entscheidenden Richter über die unterschiedlichen Geistanstöße aufschwingt, sondern dass die ‹Unterscheidung› selbst noch einmal als vom Geist Gottes gewirkte wahrgenommen sein will»24.

1.3.3
Jenseits von weltloser Vergeistigung und geistlosem Vitalismus

Es gehört zu den problematischen Seiten der Geschichte christlicher Spiritualität, dass die paulinische Kontrastierung von Geist (pneuma) und Fleisch (sarx) durch ein hellenistisches Welt- und Menschenverständnis überlagert und nach |33| und nach verwischt wurde. Der Zwist zwischen Geist und Leben wanderte auf diesem Wege in die christliche Spiritualität ein. Das Ergebnis war eine vergeistigte und oft auch leibfeindliche Spiritualität: «Die spirituelle Geistigkeit erhebt sich über die fleischliche Sinnlichkeit […]»25 Als Reaktion auf eine spiritualisierende bzw. intellektualistische Verkürzung wurde manchmal ein vitalistisches Geistverständnis propagiert, das nicht weniger einseitig ist. Die Identifikation des göttlichen Pneumas mit einer alles erfüllenden Lebenskraft tendiert ähnlich wie das intellektualistische Geistverständnis, das sich den Geist als alles durchwaltende Weltseele vorstellt, zu einer Diffusion von kreatürlicher und göttlicher Wirklichkeit. Als eine dritte Verkürzung christlicher Geisterfahrung wäre schliesslich noch der Spiritismus zu erwähnen, der mit einer Vielzahl von Geistern zu kommunizieren sucht und für den die Wirklichkeit von Gottes Geist verschwindet hinter einer faszinierenden Vielfalt von Engeln und Dämonen.

Zu diesen drei Missverständnissen kommt man, wenn wir vergöttlichen, was wir als erleuchtend, mächtig oder geheimnisvoll erfahren, nämlich die Leistungskraft unseres Intellekts, die Stärke der sich ständig erneuernden Lebensenergie oder das Wirken von geheimnisvollen guten oder bösen Mächten in der Tiefe unserer Seele oder im gesellschaftlichen Zusammenspiel. Zwar versteht auch das Christentum den Heiligen Geist als Kraft, die den Intellekt des Menschen erleuchtet, die sein Leben stärkt und erneuert und die ihn in all seinen Beziehungen geheimnisvoll durchwirken kann. Der Heilige Geist erleuchtet, erneuert, heilt, tröstet – und ist dennoch nicht mit der geschöpflichen Wirklichkeit zu identifizieren, an der und durch die er wirkt.

Wenn das christliche Gottesverständnis an dieser Unterscheidung festhält, dann aus der Erfahrung heraus, dass der Grund unseres Seins ein Antlitz hat, das uns in seiner Zuwendung neues Leben schenkt. Der Heilige Geist ist Gottes Nähe bei uns, und wo wir Gott uns nahekommen lassen, wird alles neu. Deshalb fürchten diejenigen seine Nähe, die möchten, dass alles beim Alten bleibt! In der Epiklese, der Anrufung des Hl. Geistes, artikuliert sich diese Bitte um die verwandelnde |34| Geistesnähe. Ihre vielleicht schönste Gestalt findet sich in der Pfingstsequenz «Veni Sancte Spiritus». Seit dem 12. Jahrhundert begleitet dieses zehnstrophige Gebet unzählige Gläubige durch die dunkelsten Zeiten. So etwa den Jesuiten Alfred Delp (1907–1945) bei seinem Gang durchs Konzentrationslager. Seine Meditation über die Pfingstsequenz, die er nach seiner Verurteilung zum Tod beginnt und die unvollendet bei der neunten Strophe abbricht, beginnt mit den folgenden Worten:

«Der Heilige Geist ist der Atem der Schöpfung. Wie der Geist Gottes am Anfang über den Wassern schwebte, so noch viel intensiver und dichter und näher rührt der Geist Gottes den Menschen an und bringt ihn zu sich selbst und über sich selbst hinaus.»26

Einer der gelungensten Versuche, christliche Spiritualität heute jenseits von weltloser Vergeistigung und geistlosem Vitalismus zu artikulieren, findet sich bei Jürgen Moltmann. In Abgrenzung gegenüber einer alltagsfernen Spiritualität einerseits und einer Verherrlichung von Vitalkraft und Leistungsfähigkeit andererseits setzt er an bei einer als Liebe zum Leben verstandenen Vitalität, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie Krankheit, Behinderung und Schwäche nicht ausblenden muss:

«Der Segen Gottes erhöht die Vitalität, aber dämpft sie nicht. Die Nähe Gottes macht das Leben wieder liebenswert und nicht verächtlich. […] Im Sturmwind des göttlichen Lebensgeistes beginnt der endgültige Frühling der Schöpfung, und die ihn schon jetzt erfahren, spüren, wie das Leben wieder lebendig und liebenswert wird. Der kranke, gebrechliche und sterbliche Leib wird zum ‹Tempel des Heiligen Geistes›. […] Wir werden […] nicht von der Welt erlöst, sondern mit der Welt. Die christliche Geisterfahrung separiert uns nicht von der Welt. Je größer wir für die Welt hoffen, desto tiefer wird unsere Solidarität mit ihrem Leiden und ihrem Seufzen.»27

|35| Zum Weiterlesen

Kunz, Claudia Edith: Schweigen und Geist. Biblische und patristische Studien zu einer Spiritualität des Schweigens, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1996.

Moltmann, Jürgen: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991.

Moltmann, Jürgen: Die Quelle des Lebens. Der Heilige Geist und die Theologie des Lebens, Gütersloh 1997.

Rahner, Karl: Die enthusiastische Erfahrung und die Gnadenerfahrung, in: Schriften zur Theologie, Bd. 12, Zürich/Einsiedeln/Köln 1975, 54–75.

Rahner, Karl: Erfahrung des Heiligen Geistes, in: Schriften zur Theologie, Bd. 13, Zürich/Einsiedeln/Köln 1978, 226–251.

Schlosser, Marianne (Hg.): Die Gabe der Unterscheidung. Texte aus zwei Jahrtausenden, Würzburg 2008.

Schönfeld, Andreas (Hg.): Spiritualität im Wandel. Leben aus Gottes Geist, Würzburg 2002.

Weismayer, Josef: Leben aus dem Geist Jesu. Grundzüge christlicher Spiritualität, Kevelaer 2007.

2
|36| Christwerden

Das erste Kapitel widmete sich der Frage, was «Geist» im Kontext christlicher Spiritualität bedeutet. Das folgende Kapitel fragt nach dem Ursprung und der spezifischen Gestalt christlicher Spiritualität. Als christliche Ursprungserfahrung bildet das Osterereignis den mitwandernden Anfang der Nachfolge Christi. Der Beginn eines solchen Lebens lässt sich im Hinblick auf den Einzelnen dreifach thematisieren: als Umkehr, Einkehr und Horizontwechsel, als neues Leben aus der Taufe und als Hineingerufenwerden in die Gegenwart Gottes.

2.1
Umkehr, Einkehr, Nachfolge

Die Bedeutung des Osterereignisses für spirituelles Leben lässt sich durch Stefan Zweigs Metapher einer «Sternstunde der Menschheit» veranschaulichen. Zweig bezeichnet damit schicksalsträchtige Augenblicke, in denen etwas nach langer Vorbereitung und Inkubation plötzlich zum Durchbruch kommt:

«Was ansonsten gemächlich nacheinander und nebeneinander abläuft, komprimiert sich in einen einzigen Augenblick, der alles bestimmt und alles entscheidet: ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein Zufrüh oder ein Zuspät macht diese Stunde unwiderruflich für hundert Geschlechter und bestimmt das Leben eines Einzelnen, eines Volkes und sogar den Schicksalslauf der ganzen Menschheit.»28

In diesem Sinne kann auch das Leben Jesu, das nach der Darstellung des Evangeliums in seiner freiwilligen Selbsthingabe kulminiert, als Sternstunde der Menschheit bezeichnet werden. Sein unverbrüchliches Ja hat die Welt bleibend verändert.

Wenn für Christinnen und Christen dieses menschlich bezeugte Ja Gottes (vgl. 2 Kor 1,19 f.) die Sternstunde der Menschheit bedeutet, betrachten sie es nicht nur als den in ferner Vergangenheit liegenden Auslöser ihrer Geschichte. Es ist ihnen vielmehr eine nahe Quelle des Lebens und der |37| Zuversicht: die bleibende und die Menschen durch ihre Geschichte begleitende Gegenwart des Auferstandenen (vgl. Mt 28,20). Weil sich der auferweckte Gekreuzigte in den Lebensgeschichten der Menschen vergegenwärtigt, auf ihren Wegen mitwandert wie einst nach Emmaus und sich auf immer überraschende Weise offenbart, rückt ihnen diese Sternstunde nicht in die Ferne. Die Nähe Gottes, die Jesus verkündete und die sich nach seinem Tod auf eine für alle unerwartete Weise kundtat, hat an Neuheit nicht verloren, sondern bricht noch heute in die abgedichteten menschlichen Alltagswelten ein und lässt alles in einem neuen Licht erscheinen.

2.1.1
Umkehr als Ereignis

Umkehr ist so gesehen ein Ereignis, dass immer wieder neu sich ereignen kann. Wir sind nicht einfach Christen, sondern werden es, indem unser altes Leben in Gottes Gegenwart sich in ein neues verwandelt, das wir uns nie erträumt hätten. Wie das geschieht, auf welchem Weg und über welche Schwellen jemand am neuen Leben Christi teilzunehmen beginnt, hängt von den je besonderen Kontexten und Situationen ab, in die Menschen gestellt sind. Jeder Glaubensweg ist einzigartig und entspricht der Liebe Gottes, die sich jedem und jeder in besonderer Weise zuwendet. Die Umkehrbewegung, die die Erfahrungsgeschichte von Christen mit Gottes Gegenwart in ihrem Leben darstellt, kann daher die vielfältigsten Gestalten annehmen. Oft geschieht sie als ein unmerkliches Hineinwachsen in eine neue Lebensform, doch kann sie sich auch in einem einmaligen Ereignis verdichten, in dem schlagartig ein neuer Horizont aufgeht, dem zu entsprechen wiederum ein lebenslanger Weg bedeutet. Eine der berühmtesten Schilderungen einer solchen Umkehr stammt vom französischen Schriftsteller Paul Claudel (1868–1955). Sie ereignet sich am Weihnachtstag 1886 in der Kathedrale von Paris:

«Bei dem Versuch […] die Minuten zu rekonstruieren, die diesem außergewöhnlichen Augenblick folgten, stoße ich auf eine Reihe von Elementen, die indessen nur einen einzigen Blitz bildeten, eine einzige Waffe, deren die göttliche Vorsehung sich bediente, um endlich das Herz eines armen verzweifelten Kindes zu treffen und sich den Zugang |38| zu ihm zu verschaffen: Wie glücklich doch die Menschen sind, die einen Glauben haben! Wenn es wirklich wahr wäre? Es ist wahr! Gott existiert, er ist da. Es ist jemand, es ist ein ebenso persönliches Wesen wie ich! Er liebt mich, er ruft mich. Tränen und Schluchzer überkamen mich, und der leibliche Gesang des ‹Adeste› trug noch das seinige zu meiner Erschütterung bei. Eine recht süße Erschütterung übrigens, der sich dennoch ein Gefühl des Schauders, ja beinahe des Schreckens zugesellte! Denn meine philosophischen Überzeugungen blieben unangetastet.»29

Claudel wird – nicht zufällig im Kontext gemeinschaftlichen Betens – vom Zuschauer zum Beteiligten. Es zeigt sich ihm etwas, was sein bisheriges Weltbild ins Schwanken bringt. Zwei Sichtweisen beginnen sich zu überlagern. Es kommt zu einer Oszillation der Perspektiven, bis sich eine durchsetzt. Am Ende mischen sich das Glück des Bekehrten mit dem Schrecken dessen, der es noch nicht glauben kann und der vor allem weiterleben möchte wie bisher.

Wer umkehrt, dem tritt ein neuer Horizont ins Gesichtsfeld. Doch nur wer den neuen Horizont schon erahnt, ist bereit umzukehren. Was in einer plötzlichen Durchbruchserfahrung zu einem lebenswendenden Ereignis wird, muss in einer langen Vorgeschichte heranreifen. In einer Art von Überlappung zeigen sich schon Vorboten des neuen Horizonts im verblassenden alten. In unmerklichen Perspektivenverschiebungen bilden sich neue Blickweisen heraus. Der Boden, auf dem man lange sicher zu stehen glaubte, wird brüchig. Selbstverständlichkeiten beginnen fragwürdig zu werden.

 

Umkehr beschränkt sich nicht darauf, eine neue Sichtweise auf einen bereits bekannten Sachverhalt einzuüben oder einen neuen Aspekt in einer vertrauten Welt zu entdecken. Sie bedeutet, die Wirklichkeit als Ganze und damit auch sich selbst neu sehen zu lernen. Es handelt sich nicht nur darum, eine neue Sprache zu erlernen für Dinge, die man bereits kennt, sondern um das Erschliessen eines Horizonts, den man bisher nicht wahrgenommen hat und in den hineingestellt alles in ein anderes Licht kommt. Die Metapher des |39| Horizontwechsels, die sich besonders für die kopernikanischen Wenden der Wissenschaftsgeschichte eignet, trifft aber nur dann das Geschehen der religiösen Konversion, wenn dieser neue Horizont als eine personale Grösse gedacht wird. Nicht nur ein neuer Erkenntnishorizont eröffnet sich, sondern auch und vor allem die heilsame Beziehung zum personalen Urgrund alles Geschaffenen.