Mörderische Heimkehr

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Mörderische Heimkehr
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Sheila Esch

Mörderische Heimkehr

9 Kriminal-Kurzgeschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Geschenkt

Sir Nevilles Blumen

Mörderische Heimkehr

Auf der Sonnenseite

Champignons

Crimson love

September

Königin der Perser

Vorschau

Ausgelöscht (Ruhe und Frieden)

Und zuletzt

Impressum neobooks

Geschenkt

Über und über prangten die Blumen auf einem frisch angelegten Erdhügel, ganz so, als ob immer neue Hinterbliebene stets sich aufs Neue beweisen mussten, wie bunt und prall und füllig und schön doch alles war hier auf Erden. Kai hasste es. Er hasste es, wieder und wieder neue Haufen aufgeworfen zu sehen, die einer um den anderen die Gräberreihe ergänzten, vor allem, weil ihm das etwas bewies, was er nicht wahrhaben wollte: Es war nicht das Leben, das weiterging.

Dirk fand er wie erwartet ganz am Anfang der Reihe. Dort, wo lange schon alles wieder platt war. Plattgewalzt, in die Urform zurückgedrückt. Er hockte auf dem Boden, die Jeans feucht, die Jacke schlammverkrustet, die Hände in der Erde, die er durchwühlt hatte wie ein Bäcker den Teig, Unsinn: Wie ein Maulwurf den Ort, an dem er lebte. „Wie soll das denn anwachsen“, hatte Anja gefragt. Wie da was anwuchs war weder Dirks noch Kais Problem.

„Was machst du – schon wieder hier?“ fuhr Kai Dirk heiser an. Dieser reagierte nicht, taub wie ein Maulwurf, auch das noch. Auf einmal bemerkte Kai das Messer, das neben Dirk auf der Erde lag. Ein Messer, das war neu. Dann sah er, dass Dirk blutete wie abgestochen. An der Innenseite des linken Unterarms prankte ein langer, tiefer Schnitt. Das Blut tropfte auf Andreas Grab.

„Verdammt, Dirk!“

Im Krankenhausflur warten bis in die Nacht – das war mal was Neues für seinen Feierabend. Kai fluchte, während er rastlos auf und ab wanderte, doch es half nicht, er fühlte, wie die Wartezeit ihn mürbe machte, und dann kam die Angst. Wann waren die endlich fertig mit Verarzten? Warum sagte ihm keiner was? Wollten sie nicht – er war nur ein Freund, kein offizieller, beachtenswerter Angehöriger, das zählte nicht viel. Vielleicht hätte er auf Polizist machen sollen, als er mit Dirk hereingekommen war, dann wäre es nun ein hoheitlich geforderter Akt, ihn zu informieren.

„Hallo? Sind Sie Herr Kreiner? – Sie können zu Ihrem Freund hinein. Er befindet sich in Zimmer vierundzwanzig.“

Dirk lag flach in einem Krankenhausbett, seine Arme waren dick mit weißem Material umwickelt. Sie wirkten wie Gegenstände, die er als nicht mehr zu sich gehörend empfand. Kai war für Sekunden erleichtert, Dirk wiederzusehen, so eindeutig lebendig, doch dann sah er in sein Gesicht.

Erschöpft setzte er sich auf einen Stuhl.

„Wann hat das endlich ein Ende?“

„Fragst du mich, wann ich Schluss mache?“ fragte Dirk, verschnupft klingend. „Dann sind wir ja endlich mal auf der gleichen Linie…“ Das machte ihm wohl Spaß, Panik unter seinen Freunden zu verbreiten. Dirk starrte an Kai vorbei aus dem Fenster ins Nachtschwarze hinaus.

Kai knurrte.

„Nein, eben nicht!“

Gerade nicht, war das so schwer zu begreifen?

Er sprang auf, drehte sich. Fand keinen Fluchtweg. Dirk ließ ihn nicht fort, auch wenn er keinerlei Anstalten machte, ihn zum Bleiben zu bewegen.

„Es hat ein Leben vor Andrea gegeben“, sagte Kai mit einem Krächzen in der Stimme. „Es muss doch auch noch ein Leben nach ihr geben!“

Schon bevor es raus war, wusste er, dass diese zwei Sätze ein verdammter Fehler gewesen waren.

*

„Himmel, wo bleibst du denn?“ fragte Su, als er zuhause eintraf.

Seitdem das mit Andrea geschehen war, machten alle in der Clique sich mehr Gedanken, als es üblich gewesen war, bevor mit Andrea geschehen war, was mit ihr geschehen war, und so klang Su ärgerlich, was angemessen war, wenn man unangekündigt erst nach elf zuhause eintraf, noch mehr aber kleinlaut und ängstlich.

„Wo warst du bloß?“

„Es nimmt Dimensionen an…“ knurrte Kai und warf sich aufs Sofa. „Was glaubst du wohl, wo ich war? Es wird jede Woche schlimmer…“

„Ich weiß, wo du warst“, sagte Su.

„Nee, nur mit wem – meinst du. Heute sind wir geradewegs im Krankenhaus gelandet.“

„Scheiße.“

Er erzählte ihr, wie er Dirk vorgefunden hatte, und obwohl die Dimension eine neue war, wunderte sie sich nicht wirklich.

„Ist schon seltsam“, meinte sie, als sie weit nach Mitternacht am Esstisch saßen und ein paar Käsebrocken verzehrten wie Mäuse ihre Krümel. „Er hätte längst ne andere – wenn es so gelaufen wäre wie sonst. Garantiert. Du und Dirk, ihr ward immer schnell bei der Sache.“

Kai sah sie schräg an.

„Schnell bei der nächsten Sache, meine ich. Stimmt doch, oder nicht?“

Kai stöhnte unwillig. Früher hätte ihn ein Anfall von Eifersucht wie dieser von Su amüsiert (und vielleicht war er eben darum berechtigt), doch seitdem das mit Andrea geschehen war, wollte er so etwas einfach nicht mehr hören.

„Aber es ist nicht so gelaufen“, sagte er. „Er hat Andrea von der Straße aufgeklaubt und sterben sehen, so ist es gelaufen.“

„Und jetzt wird er sie nie wieder los?“

„Wir sie auch nicht.“

*

Im Tresor war seine Dienstpistole nicht. Obwohl Kai am Morgen vor Müdigkeit fast umkippte, kam ihm schnell in den Sinn, dass er sie heute Nacht nur kurz im Flur in die Schublade befördert hatte, statt sie einzuschließen, wie es sich gehörte.

Alles klar. Alles in Butter. Wenigstens soweit.

„Sehen wir uns heute Abend?“

Kai nickte mit geschlossenen Augen und steckte die Pistole ein.

„Klar, was denkst du…“

Dass er sich wieder mit Dirk und Dirks Problemen rumschlug, das dachte sie. Man konnte nie wissen, wie lange es ging. Wie spät es heute wieder wurde.

Su strich ihm sanft über die Schulter.

„Sieh zu, dass du bald nach Hause kommst. Okay?“

*

Es wurde nicht spät, denn das Krankenhaus, das keine allzu große Lust darauf zu haben schien, erfolglose Selbstmörder zu beherbergen, setzte Dirk gerade vor die Tür, als Kai nach Dienstschluss bei ihm auftauchte. Er packte Dirk ins Auto und auf sein Sofa. Dirk ließ alles mit sich geschehen, auch, dass Su ihn nach Kräften bemutterte.

Das Wochenende über diskutierten sie. Nicht über den Sinn des Lebens, das wäre zu weit hergeholt gewesen. Nur über das Überleben. Ob es erlaubt war, Andrea zu vergessen.

Dirk wollte nichts von alledem.

„Warum machst du das?“ krähte er Kai an. „Verfolgst mich? Nervst mich… Warum hängst du mir stündlich auf der Pelle? Was willst du von mir?“

„Hör schon auf“, erwiderte Kai und verlor im Stehen beinahe das Gleichgewicht. Er lehnte sich zum Weitersprechen gegen die Wand: „Du weißt doch genau, was ich mache, und warum ich das mache!“

„Oh, ja“, höhnte Dirk spöttisch. „Freundschaft! Freundschaft! Freundschaft. Rein aus Freundschaft! Bleib mir doch weg mit deiner Freundschaft…“

Kai hielt es nicht aus und verschwand aus dem Zimmer. Als er aus der Küche zurück kam, kniete Su hinter Dirk und streichelte seinen Rücken. Dirk hockte auf dem Boden, die Hände vor dem Gesicht, und weinte.

*

„Was ist mit diesem Autofahrer? Hast du was gehört?“

Von einem Polizisten erwartete jedermann, dass ihm stets bekannt war, was an den Gerichten des Landes vor sich ging. Sogar Su hatte Kai dies in Monaten nicht abgewöhnen können. Kaum zu fassen, dass sie nun schon so lange zusammen waren!

In diesem Fall freilich wusste er tatsächlich Bescheid. Wenn auch aus rein persönlichen Gründen.

„Er hat achtzehn Monate gekriegt. Das ist soweit nicht schlecht. Jedenfalls kann er nicht behaupten, er sei unschuldig.“

Su sah Kai schief an.

„Hat er das je behauptet?“

Irgendwie fand man es immer vorteilhaft, wenn ein Täter seine Schuld runterredete, also hängte man einem jeden an, dass er dies tat und versuchte, sich um seine gerechte Strafe zu drücken, um sich alsdann umso rechtschaffener über ihn empören zu können. Andreas Mörder freilich hatte nie irgendetwas abgestritten oder beschönigt. Er hatte jede Beschimpfung seiner Person bereitwillig zugelassen und ihr aufmerksam gelauscht, doch keiner nahm dies zur Kenntnis.

„Auf Bewährung allerdings. Das ist auch so ein Problem…“

„Auf Bewährung!“ Sus Stimme zitterte vor Zorn. „Fährt eine Frau um und kriegt dann Bewährung! Jeder weiß, dass er schuld ist. Sogar er selber weiß es! Warum kriegt er dann Bewährung?“

 

In diesem Moment klingelte ihr Handy, und es war auch der Augenblick, in dem alles begann, schief zu gehen. Su, fast weinend, erzählte dem Anrufer, was sie so erregte, und daraus entwickelte sich etwas, was sie damals als Lösung empfanden. Jedenfalls als Erleichterung. Keine halbe Stunde später dröhnten auf der Straße die Motoren, und mehr als nur die Clique stand dort wartend vor der Tür.

„Kai, kommst du mit! Wir fahren alle hin!“

Kai warf sich in seine Montur. Als er die Motorradjacke im Flur vom Haken nahm, stieß er mit der Hand an den danebenhängenden Holster und spürte, dass seine Waffe noch drin war. Weil Su ihn sogleich über diese Gerichtsverhandlung ausgefragt hatte, hatte er vergessen, sie artgerecht zu versorgen. Jedem Reptil sein Terrarium, und einer Dienstpistole ihren Tresor. Er zog sie heraus und legte sie, weil Su von unten drängend rief, mal wieder nur schnell in die Schublade der Flurkommode.

*

Röhrende Motoren dröhnten durch die stillen Straßen des Wohngebiets, schwere Reifen fuhren sich in einer Sackgasse fest. Das letzte Haus stand dort, wo der Weg endete. Kurzhaariger Rasen, eine fein geplättelte Auffahrt. Das Haus leicht erhaben, so als wollte es auf die Welt vor sich hinunterspucken.

Eine Mahnwache, hatte Kai mal gehört, müsste schweigend ablaufen. Zum Schweigen hatten sie keine Zeit. Zum geruhsamen Abwarten und geduldigen Mahnen waren sie nicht hergekommen. Dennis und Kurt entrollten ein schnell beschriftetes Banner, unter und vor dem sich die anderen aufstellten, und dann entfaltete sich ein Lärm, wie ihn dieses beschauliche Fleckchen Erde noch nicht erlebt hatte.

„Mörder!“

„Säufer!“

„Versiffter Autolenker!“

„Immer sind wir die Sündenböcke! Motorradfahrer selber schuld! – Diesmal nicht!“

„Wir lassen das nicht mehr mit uns machen!“

„Verkehrsrowdie!“

Da waren sie also aus der Stadt fortgezogen, um draußen Ruhe zu finden, diese Sackgassenbewohner, und hatten lange Fahrstrecken zur Arbeit abgekriegt. Fahrzeiten, die schlauchten und ermüdeten, die Familien sprengten, weil Papa nicht da war oder müde. Eine bezahlbares Eigenheim, das hatte dieser Mann gesucht. Weit draußen hatte er eines gefunden. Stress hatte er erhalten, eine Frau überfahren. Andrea war tot.

Als Kai das wieder einfiel – wie etwas, das er vergessen hatte, so weit weggedrängt, dass es fast war, als ob es Andrea nie gegeben hätte – als ihm das wieder einfiel: Andrea! – tot! – da wogte selbst Kai, der Polizist mit anderen Schwerpunkten, in der Menge mit und brüllte sich all seine empörte Rechtschaffenheit aus dem Hals.

„Arschloch! Zeig dich! Stell dich!“

Im Erdgeschoss wackelten die Vorhänge.

„Stell dich und wir fressen dich…“

In Kais Hosentasche klingelte das Handy. Er hörte es nicht, weil es so laut war, aber er spürte es vibrieren.

„Ja?“

Im Moment, als Kai hineinsprach, wurde ihm klar, dass es Dirk war, der dran war. Er ärgerte sich, dass er das Handy nicht abgeschaltet hatte, jetzt war es zu spät. Er konnte nicht unauffällig auflegen. Nicht, ohne dass es Dirk auffiel, dass da etwas nicht stimmte.

„Was macht ihr da?“ Nach einem kurzen Zögern drang Dirks Stimme an sein Ohr. Er konnte ihn kaum verstehen, doch er musste so tun, als ob. Alles andere wäre verdächtig. „Was ist da los?“

„Nichts.“ Neben Kai protestierten die Motorradfahrer volles Rohr. „Nichts. Das ist… am Hauptbahnhof. Irgendeine Demo.“

„Bist du im Dienst?“

„Nee.“ Das war wahrhaftig – war er nicht Polizist geworden, um wahrhaftig zu sein? Es war nicht besonders klug, Dirk zu erzählen, er sei privat unterwegs und da sei ne Demo. Oder er sei privat auf einer Demo. „Doch. Klar.“ Er war im Dienst und am Bahnhof. Da war ne Demo.

Nachdem Dirk aufgelegt hatte, machte Kai sein Handy aus.

„Hängt ihn auf! Hängt ihn auf!“

Langsam wurde das alles ein bisschen viel. Sowieso für einen Polizeibeamten. Bloß gut, dass keiner seiner Kollegen ihn hier sah. Bloß gut, dass die Sackgässler nicht nach der Polizei telefonierten. Bloß gut, dass Dirk das jetzt nicht gehört hatte.

*

Die Meute war wieder fortgezogen. Ihre Ungeduld war größer als ihre Befriedigung. Gleich bei der ersten Rast am Straßenrand machte Kai sein Handy wieder an. Sofort kam ein Anruf von Dirk. Kai ging ran.

„Hast du auch mitgemacht bei dieser Bahnhofsdemo, oder warum war dein Handy aus?“

Verflixt, warum erinnerte Dirk sich immer noch an seine blöde Ausrede von vorhin?

„Ich dachte schon, ich muss dich aus Polizeigewahrsam abholen – Polizist auf Demo verhaftet, das wär’ doch mal ganz was Neues…“ spöttelte Dirk. Kai hatte die Befürchtung, dass er ganz genau wusste, dass da nichts mit einer Demo gelaufen war. Jedenfalls nicht am Hauptbahnhof. Es gefiel ihm nicht, dass Dirk wusste, dass er ihn belogen hatte, und noch weniger gefiel ihm der Ton seiner Stimme.

Als sie wieder zuhause angekommen waren und Su ihre Wohnungstür aufgeschlossen hatte, drängte Kai sich an ihr vorbei und öffnete sofort die Schublade, um seine Waffe aus der Kommode zu nehmen und in den Tresor zu bringen. Routiniert tastete er nach ihrem Griff, doch seine Hand fand nichts. Da war nichts in der Schublade. Keine Waffe mehr.

„Su“, sagte Kai und erstarrte. „Da ist…“

*

Als Kai zum zweiten Mal an diesem Tag in der Sackgasse ankam, wunderte es ihn nicht weiter, diesmal auch Dirks Auto dort vorzufinden. Sekundenweise angeleuchtet von einem still rotierenden Blaulicht, parkte es mitten auf der Auffahrt des Hauses am Ende der Straße. Ebenso wenig staunte Kai über den Krankenwagen und die beiden Polizeiautos, die davor standen, halb auf der Auffahrt, halb in den Vorgartenrasen hineingeparkt. Polizisten schickten Schaulustige fort, zwei waren damit beschäftigt, ein weißrotes Absperrband vom Mülleimer zur Laterne und von dort aus zum Apfelbaum zu spannen.

Wie bei einem Tatort.

Einzig wunderte es ihn, wie er sich nur so hatte verrechnen können. Freundschaft ist das wahre Band der Menschheit, Freundschaft zählt mehr als… blabla. Ein guter Freund würde dir so was nicht antun! Dein bester Freund würde niemals mit deiner Waffe – geschenkt!

Geschenkt.

Der Polizist an der Absperrung kannte Kai vom Dienst und fand nichts dabei, ihn durchzulassen. Nicht mal in Motorradkluft. Privat kannten sie einander nicht. Der Mann nickte ihm stumm zu. Kai folgte der Auffahrt hinauf zur Haustür, die sperrangelweit offen stand. Neben der Tür wartete ein weiterer Kollege.

„Eine Schießerei“, erläuterte dieser ihm ungefragt, „am helllichten Tage. Der Hausbesitzer ist tot.“

Kai nickte, was den Polizisten nicht weiter verwunderte.

„Der Täter war noch im Haus.“

Neben dem Eingang zur Hölle stand ein großer Stein, ein Findling. Kai, in Leder, setzte sich darauf.

Dirks Selbstmord hatte er befürchtet. Zu vermeiden versucht. Mit Selbstmord hatte er gerechnet – warum nur?

* * *

Sir Nevilles Blumen

„Was mach ich jetzt bloß mit den Blumen?“

„Nehmen Sie sie mit nach Hause.“

Kriminaltechnisch gesehen maß er dem Strauß keinerlei Bedeutung zu. Außerdem fiel – verglichen mit der Wucht der Ereignisse am heutigen Konzertabend – diese Frage nicht wirklich ins Gewicht. Alex hätte sie nicht mal beantwortet, doch die Frau neben ihm hielt den Strauß fest umklammert – als ob sie versuchte, sich daran festzuhalten, was absurd war bei einem kreisrunden Bouquet, geschnürt für den Moment des Applauses – so dass er befürchtete, dass er erste Anzeichen eines Schocks zu sehen bekam. Es wäre fahrlässig gewesen, sie in diesem Zustand zu ignorieren und ihre Frage zu überhören.

„Frau Meier, keine Aufregung. Ich bin sicher, Sir Neville hätte es nicht anders gewollt.“

Es war auch schwerlich möglich, die Blumen bis zur Beerdigung aufzuheben, da hätte die Gerichtsmedizin auch noch ein Wörtchen mitzureden.

Frau Meier nahm einen tiefen Zug aus der Tiefe der Blütenköpfe und danach die Nase aus dem Strauß, der kein bisschen duftete. Dann seufzte sie abgrundtief.

„Ich fürchte, da täuschen Sie sich“, sagte sie, plötzlich ernüchtert, zu dem Kriminalbeamten neben sich. „Sie kennen… Sie kannten Sir Neville nicht!“

Alex Kronauer war erleichtert: Sie ersparte es ihm, Sanitäter zu Hilfe zu rufen. Es ging ihr besser, als er befürchtet hatte.

„Wie auch immer. Stecken Sie sie ein.“

Sir Neville war zu spät zu einer Aufführung des Staatsorchesters gekommen, das er durch den heutigen Abend hatte dirigieren wollen. Ihm entgingen der Auftritt vor vierhundert hellwachen Zuschauern, der freundliche Applaus und die Blumen. Er würde nie wieder dirigieren. Sir Neville war tot.

*

„Herr Kronauer!“

Der Schrei rief Alex in die Gardarobe des Meisters. Sein Kollege Kai Friese und ihr Chef Herbert Walter standen an einer kleinen Sitzgruppe und sahen einem von der Spurensicherung zu, der einen Gegenstand unter dem Sofa hervorzog.

„Was ist das denn?“ staunte Kai. „Ein Gymnastikstab?“

„Ein Trommelstock“, bemerkte Herbert Walter und warf dem kriminalen Nachwuchs einen ungnädigen Blick zu.

Der Kriminaltechniker drehte das Stück Holz sorgsam in seinen latexumspannten Händen.

„Was ist das dort? Blut?“

Der Techniker nickte. „Schon möglich.“

„Dann haben wir ja schon einen möglichen Täter: Den Trommler…“ frotzelte Alex.

„Schlagzeuger heißt der“, fiel Kai seinem Kollegen ins Wort. „Nun sei nicht so voreilig! Am Ende ist es doch immer der Gärtner…“

Der Mann von der Spurensicherung sah seine flachsenden Kollegen von der Mordkommission leicht irritiert an.

„Würde mich auch nicht wundern“, grinste Alex, „bei all den Blumen hier…“

Neben einem umgekippten kleinen Sessel sah man zwei Beine in schwarzem Tuch mit Bügelkante. Den Körper, den der Sessel verbarg, sah man nicht. Aber auf der anderen Seite des Sessels Blut. Viel Blut.

„Welche Blumen meinst du denn bloß?“ fragte Kai.

„Nicht hier.“ Alex, der nicht darum herumkam, die Leiche nun auch wahrzunehmen, oder das, was man von seinem Standort aus davon erkennen konnte, räusperte sich. „Draußen.“

„Er wurde erschlagen“, sagte der Gerichtsmediziner, der neben Sir Neville kniete.

*

„Schön, dass Sie sich an die Geflogenheiten halten. Ich nehme an, ich kann dann auch zuerst nachhause?“

„Bitte?“

„Ach, wie! Ich dachte, es wäre Ihnen klar, dass ich der Konzertmeister des Orchesters bin!“

Der seltsam geschwollene Auftritt des Musikers vor ihnen irritierte Alex, und so sagte er: „Was ist das? So etwas wie ein Vortänzer?“

Der Mann, der seine Geige zur Vernehmung ins Büro der Konzerthalle mitgebracht hatte, als ob er keinen Moment lang von den Zeichen seiner Zunft lassen konnte, war empört. Herbert Walter warf Alex einen bösen Blick zu.

„Ich dachte“, meinte Herbert, „Sie seien derjenige gewesen, der Herrn Neville – Sir Neville – tot aufgefunden hatte?“

„Ja, ja, das ist richtig. Wir saßen schon im Saal. Das gesamte Orchester. Das Publikum hatte uns mit Applaus begrüßt, während wir rein kamen. Der Applaus endete, als die meisten Orchestermitglieder sich gesetzt hatten, aber nun brandete er wieder auf, in Erwartung des Dirigenten. Aber der kam nicht. Kam nicht und kam nicht. Haben Sie das schon mal vernommen: Irritierten Applaus?“

Der Konzertmeister horchte in den Raum oder aber in sich selbst. Von den Kriminalisten kam keine Rückmeldung.

„Sie haben nach Sir Neville gesehen?“

„Ja. Das ist wohl meine Aufgabe. Falls man für derartige Ausnahmefälle eine Aufgabe definieren kann… Ich bin der Konzertmeister des Staatsorchesters! Ich öffne also die Tür zu dem Raum, wo er sich umzog, und was sehe ich? Sir Neville in seinem Blut!“

Die Dramatik in seiner Ausdrucksweise hätte die Frage nahe gelegt, ob er gerne Opern begleitete. Nur war sie im Moment kaum relevant.

„Haben Sie irgendwen gesehen? Ein anderes Orchestermitglied, sonst jemanden? Im Raum oder auf Ihrem Weg dorthin?“

„Nein. Alle waren im Saal oder in der Nähe des Saals. Um mitzuhören!“

„Im Raum“, fuhr Herbert Walter fort, „befinden sich allerlei Musikinstrumente, habe ich gesehen, ein Klavier auch, und Zubehör. Saiten und Bögen. Trommelstöcke.“

 

„Oh, ja ja. Da ist allerlei, und historisch betrachtet vermutlich alles von uns.“

„Historisch betrachtet?“

„Keiner weiß mehr, wer dort was zurückgelassen hat. Die Dinge sind nicht mehr in Gebrauch. Ich glaube, die Dame, die bei uns die Jugendarbeit macht, nutzt das Material, um der Jugend vorzuführen…“

„Es könnte also jeder, der den Raum betritt, einen der Gegenstände benutzen, den er dort vorgefunden hat?“

„Ja, sicher. Insofern Sir Neville nichts dagegen hatte.“

„Glauben Sie mir, er hätte sicherlich etwas dagegen gehabt“, meinte Herbert Walter.

*

„Wer könnte ihn getötet haben? Jeder!“

Der Mann saß mit breit gespreizten Beinen vor Walter und Kronauer. Vorhin hatte er, wie alle, seinen Namen und sein Instrument bekannt gegeben. Er hieß Sigismund Gerhardinger und spielte Cello.

„ – Ich meine jetzt nicht: rein theoretisch. Ich weiß ja nicht, wie das Tötungsdelikt durchgeführt wurde. Welchem Vorgang genau wurde unser hochverehrter Herr – Sir – Dirigent unterzogen? Was ist ihm zugestoßen? Ich nehme jetzt nicht an, dass Sie mir Genaueres anvertrauen werden, ich weiß ja: Täterwissen! Wenn es irgendetwas Blutiges war, dann fallen ja vielleicht die Damen und ein paar zarte Herren weg, nicht wahr. Mache ich mich verdächtig? Sicherlich ist es verdächtig, wenn man gar so wenig betroffen davon ist, zu hören, dass unser berühmter Chefdirigent tot ist, nicht wahr. Aber macht nichts: Ich fühle mich dabei in bester Gesellschaft!“

Sigismund sah Herbert und Alex offen an.

„Aber ansonsten: Jeder. Jeder könnte es gewesen sein. Natürlich nur jeder, der Sir Neville kannte. Denn alle, die ihn nicht kannten, die verehrten ihn.“

Herbert Walter räusperte sich. Bevor er noch etwas sagen konnte, sprach sein Gegenüber weiter: „Sie sind kein Klassikfan?“

„Doch.“

„Schade“, bedauerte der Cellist. „Das tut mir jetzt von Herzen leid. Denn dann kann ich Ihnen die Enttäuschung nicht ersparen. Leider.“

„Gibt es jemanden, der aktuell ein besonderes Problem mit Sir Neville hatte?“

„Ich habe jetzt keinen großen Drang, meine Kollegen zu verpfeifen, wirklich. Aber nein, nein, wirklich nicht. Obwohl… Katharine. Die nagelneue Geigerin. Aber sie“ – der Cellist lächelte beglückt – „dürfte wohl rein körperlich ausfallen. Wie Sie unschwer erkennen können, hoffe ich, dass die Angelegenheit eine recht blutige gewesen ist…“

*

„Kann man hier irgendwo an Kaffee kommen?“

Alex versuchte, die immer noch fast krankhaft auf die Blumen fixierte Aufmerksamkeit von Frau Meier auf sich und seine Frage zu ziehen.

„Sie brauchen Kaffee?“ fragte sie irritiert.

„Nicht wir. Die eine junge Musikerin scheint Schwierigkeiten mit dem Kreislauf zu haben…“ Warum erklärte er ihr das? Die autoritäre Ausstrahlung eines Kriminalbeamten musste er sich noch antrainieren: Kaffee, Kaffee. Nichts als Kaffee. Fragen werden nicht beantwortet.

„Dort hinten ist ein Automat…“

Frau Meier löste die eine Hand vom Strauß, den sie immer noch umklammert hielt, und wies Alex fahrig die Richtung. Alex sah die Frau noch einmal scharf an. Vielleicht war es doch nötig, einen Arzt zu holen? Das Kreislaufproblem der Geigerin ließe sich dann ganz nebenbei auf medizinischem Wege lösen.

Doch Frau Meiers Gesicht war nicht blass, nur leicht gerötet. Der Strauß war in ihren zupackenden Armen einigem ausgesetzt. Aber dafür war er auch gemacht: Ein bunter, festgezurrter Strauß, nicht eben schön, geschnürt für den Moment des Applauses, der niemals ihnen galt, arme Blumen, was mussten sie leiden, sie, die nichts wollten als schön sein – geschnürt für jemanden, der sie nicht wahrnahm, nicht liebte, gedankenlos weitergab – geschnürt für jemanden, dem der Applaus galt, und der im selbstverliebten Moment des Triumphes niemals daran gedacht hätte, etwas anderes, einen anderen – wie also einen Blumenstrauß zu würdigen.

„Ich bin“, hörte Alex, als Kai die Tür des Vernehmungszimmers kurz öffnete und nochmals auf Kaffee drängte, die junge Geigerin namens Katharine drinnen sagen: „eigentlich recht froh, dass er tot ist.“

*

„Finden Sie das sehr unschön von mir?“ fragte die junge Frau und sah Herbert scheu an. „Ich weiß schon, das ist ein sehr hässlicher Gedanke… Aber er war auch ein sehr hässlicher Mensch. Ich meine – innerlich.“

„Innerlich?“

Ein tiefes Rot zog sich über das Gesicht der Geigerin. Herbert war erleichtert, weil die Gefahr, dass sie ihm auf dem Stuhl umkippte, nun gebannt schien. Das Blut in ihrem Körper zirkulierte wieder.

„Sie glauben doch nicht… Nein, wirklich nicht! Ich weiß nicht, wie er aussah – äußerlich.“ Das Rot zog bis hinauf in den Scheitel ihres streng auf Gala hochgebundenen blonden Haares.

„Ich möchte von Ihnen nur wissen“, sagte Herbert vorsichtig, „wie er Ihnen Anlass zu solchem Zorn gegeben hat…

Was hat er Ihnen angetan?“

*

Und wieder stieß Alex auf Blumen. Vielmehr auf Vorbereitungen, die für sie getroffen worden waren: Hinter dem Kaffeeautomaten stand eine Vase, bereit, Wasser aufzunehmen und anschließend die Blumen, die gut versorgt frisch blieben, bis sie das Konzerthaus verließen und mit jemandem nach Hause gingen, irgendwohin. Wo lebte ein international bekannter Dirigent, wenn er in dieser Stadt weilte? Sicher an Orten, von deren Existenz Alex nicht mal wusste. Solch ein Strauß jedenfalls lernte ihn kennen, diesen gehobenen Ort, das Hotel, die Luxuswohnung. Der Strauß, Zeichen des Triumphes, Symbol dafür, es einmal wieder mit den musikalischen Größen vergangener Jahrhunderte aufgenommen zu haben, sie einmal wieder erfolgreich in die Gegenwart getragen zu haben, Substanz gewordenes Klatschen eines interessierten Publikums, vielfarbige Erinnerung an den Jubel.

„Meistens sind es zwei oder drei Blumensträuße“, erläuterte ihm ein Kundiger, den Alex am Kaffeeautomaten traf. „Den einen Strauß bekommt der Konzertmeister. Der zweite ist für den Solisten, falls vorhanden. Und der dritte ist für den Dirigenten, also für Sir Neville gedacht.“

„Hat Sir Neville den Strauß mit nach Hause mitgenommen?“

„Nein. Eigentlich nicht.“

(Aber wer hatte dann die Vorbereitungen getroffen?)

„Wo wohnte er eigentlich, wenn er hier vor Ort war?“ Manche Leute hatten es nicht nötig, dort zu leben, wo sie arbeiteten. Sir Neville war einer von ihnen gewesen. Jetzt hatte er freilich nichts mehr davon.

„Im Burgrainer.“

Alex notierte sich den Hotelnamen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, worum es sich dabei handelte. Dann nahm er drei Plastikbecher mit Kaffee auf und balancierte sie durch das Foyer des Konzerthauses zurück ins Büro.

*

„Wird der Strauß nicht immer verschenkt? Noch während der Applaus tobt…“ Alex meinte sich vage an einen Konzertbesuch zu erinnern.

Der Orchestersprecher legte sein Blasinstrument – eine Klarinette? Alex kannte sich da nicht so aus – beiseite und nickte.

„Normalerweise geht er an eine der ersten Geigen, insofern es eine Dame ist.“

„Die Geige? Im Deutschen immer eine Dame…“

„So meinte ich es nicht.“

Verständlicherweise war der Mann nicht allzu sehr zu Scherzen aufgelegt. Seltsamerweise nahm er das Thema dann doch wieder auf: „So hoch war die Zahl der ersten Geigen in weiblicher Hand bei uns nicht mehr. Als erste Geige stehen sie im Interesse des Dirigenten, der Qualität liebt, und als Frau im Zentrum seiner Libido. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Nein. Nicht wirklich. Jedenfalls nicht in Bezug auf erste Geigen.“

„Sehen Sie mal.“ Der Klarinettist seufzte und winkte Alex, ihm zur Wand des Büros zu folgen. Dort hingen Fotos der Orchesterbesetzung – Musiker und Instrument in wechselnder Aufstellung – aus verschiedenen Jahrzehnten. Der Mann deutete auf ein Foto, in dem die Zusammensetzung des Orchesters noch rein männlich war.

„In den frühen Siebzigern hatten wir kaum Musikerinnen. Kaum? Keine? Nicht zu fassen aus heutiger Sicht! Das hat sich gebessert, und wir waren stolz, eine ganz annehmbare Quote vorweisen zu können, bevor… nunja, bevor Sir Neville kam und unser Dirigent wurde. Seither ist die Frauenquote rückläufig.“ Der Musiker deutete auf ein neueres Foto, auf dem tatsächlich wieder viel mehr Männer zu erkennen waren. Ausnahmen machten die Musikgruppen Bass, Blechbläser und Harfe. Ausgerechnet dort war ein Teil der Besetzung weiblich.

„Und Sie sehen da einen direkten Zusammenhang?“

„Einen fortlaufenden.“

Bass, Blechbläser und Harfe saßen allesamt in einigem Abstand zum Dirigenten.

„Haben Sie keinen – nun, Betriebsrat?“ In einem Traumjob wie Musik schien Alex eine derartige Institution fast überflüssig, und so fragte er nur zögerlich danach.

„Doch, doch. Es wird gut dafür gesorgt, dass wir die vorgeschriebenen und uns zustehenden Pausen auch machen“, sagte der Klarinettist und Alex fand, er klang etwas zynisch, „nur, wer fickt einem internationalem Stardirigenten am Zeug? Wem trauen Sie das zu?“

„Sehe ich das richtig, und das war ein Freudscher Versprecher?“

„Was habe ich denn gesagt?“ Der Mann klang erstaunt, ihm schien seine Wortwahl wirklich entgangen zu sein.

„Wollen Sie andeuten, dass einige Musikerinnen sich von Sir Neville belästigt gefühlt und daher das Orchester verlassen haben?“

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