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Serena S. Murray

Celeste - Siehst du mich?

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Celeste

Siehst du mich?

Serena S. Murray

Fantasy Roman

Teil 1 von 2 der Edrè Saga

Einst war Lamia, Tochter des griechischen Gottes Poseidon und der Lybia, eine Geliebte des Zeus. Zusammen zeugten sie einen Sohn, der von seiner Mutter geliebt und beschützt wurde. Lamias Schönheit brachte ihr jedoch viel Neid und Missgunst ein.

Hera, die Gattin von Zeus, beobachtete sie hasserfüllt aus der Ferne. In einer mondlosen Nacht, in der kein Vogel seine Stimme erhob, fiel sie in Lamias Haus ein. Das Kind tat seinen letzten Atemzug unter ihrer Hand. Erst am nächsten Morgen bemerkte die Mutter das Grauen.

Gepeinigt von Schmerz und Wut, griff Lamia zu uralter Magie. Ihr schönes Äußeres sollte von nun an ihrem Inneren gleichen. Im Licht der Sonne stand sie vor ihrem Heim, das so viel Grauen verbarg. Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Die Hände gen Himmel gereckt, beschwor sie die Dunkelheit herbei. Die Götter bemerkten zu spät, was geschah.

Als sich die Dunkelheit über die Welt senkte, veränderte sich Lamia. Dort, wo vorher wallendes goldbraunes Haar die Männer verzauberte, standen nun Schlangenköpfe ab. Sie bewegten sich und suchten nach jungem, unschuldigem Blut. Lamias Augen wurden schwarz und ihre Nägel so lang wie die Klauen von Raubtieren. Mit einem versteinerten Herzen floh sie in die Schatten. Von da an gab es kein Licht, keine Sonne mehr. Des Nachts fiel sie in Häuser ein und raubte die Kinder fremder Mütter.

Doch bereits nach einem Tag erkannte sie, dass ihr eigen Fleisch und Blut nicht ersetzbar war. Der Legende nach tötete sie alle Kinder. Wenn man sie sah, hörte man das Weinen und die Schreie der Toten. Erst, als man ihre Opfer nicht mehr zählen konnte, versammelten sich die Götter um Zeus. Lamias Macht war zu groß, die Dunkelheit in ihrem Innersten zu beherrschend. Also verbannten sie sie in eine Zwischenebene und brachten so der Welt das Licht zurück.

Doch niemals hätten sie gedacht, dass ihr Handeln Konsequenzen nach sich zog. Die Welt veränderte sich, passte sich an. Die erschaffene dunkle Zwischenebene gebar Leben, sodass Edrè entstand. Der Mantel des Schweigens wurde ausgebreitet und kein Sterblicher erfuhr von dieser anderen Welt, dieser Spiegelung der Erde.

Manchmal berichteten die Sterblichen von Monstern, doch je älter die Welt wurde, desto häufiger wurden die alten Legenden zu Märchen. Monster existierten in der Wirklichkeit nicht mehr. Und die Götter lehnten sich zufrieden zurück, war ihre Arbeit doch getan. Zumindest bis jetzt.

Kapitel 1
Edrè

Celeste starrte auf den dunklen Boden, der sich in Wellen hin her bewegte. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie nicht vorsichtig war. Sie stand mit dem Rücken an eine schwere Holztür gelehnt, die einen modrigen Geruch abgab. Ihr Herz raste und ihre feuchten Hände hielt sie eng an ihren Körper gepresst. Sie war eine Dunkle. Eine Tochter aus erhabenem Haus. Die wiederum viel Neugier besaß.

Ihre Tante hütete den verborgenen Bereich des Schlosses wie ihren Augapfel. Nicht einmal ihre Eltern durften ihn betreten. Doch Celeste hatte einen Tag zuvor eine Helle gesehen, die strahlender war als alle, die sie bisher gesehen hatte. Die Hellen waren die Seelen, die die Dunklen einfingen. Und sie kannte sich da aus. Denn sie war eine der besten Seelenfängerinnen, die es in Edrè gab.

Um zum anderen Ende des Raumes zu gelangen, musste sie ihren Körper in Nebel auflösen. Denn sollten ihre Füße den Boden berühren, würde sie ins Nichts gezogen werden. Ihr Körper würde sterben und ihre Seele sich für ewig an diesen Ort binden.

Sie kniff angestrengt die Augen zusammen, ehe sie die Macht aus ihrem Innersten frei ließ. Sie spürte, wie ihre Knochen, ihre Muskeln und ihr Blut dem Ruf des Uralten folgten. Sie war ein Schattenwesen, das mit der Umgebung verschmelzen konnte. Langsam und bedächtig schwebte sie über den Boden.

Celeste hatte keine Ahnung, für wen diese tödliche Falle gedacht war, doch der Drang, herauszufinden, was ihre Tante verheimlichte, war stärker als ihre Angst. Denn die Helle war hierher geflohen, als sie bemerkte hatte, dass sie verfolgt wurde. Celeste hörte noch den Klang in ihren Gedanken, den die Helle hinterlassen hatte, als sie das Territorium von Celestes Familie betreten hatte.

Jede Seele hatte einen eigenen Klang oder sogar eine eigene Melodie. Hörte man diese Töne einmal, konnte man sie nie wieder vergessen. Die Weisen woben daraus Melodien, die den anderen Seelen den Weg wiesen.

Als sie das Ende des Raumes erreichte, kribbelte ihre Haut vor Aufregung und ihr Körper manifestierte sich. Etwas zog sie magisch an, also drückte sie vorsichtig die Türklinke nach unten und mit einem ohrenbetäubenden Knarren öffnete sie sich. Celeste griff nach dem Dolch, der an ihrer Hüfte befestigt war. Doch niemand stürzte sich auf sie und griff sie an.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, je weiter sie vordrang. Ihr Handeln war verboten, doch nichts und niemand konnte sie jetzt daran hindern, weiterzukommen. Die Räume, die sie durchquerte, waren leer, abgesehen von Fackeln an den Wänden, die kaum Licht spendeten. Eine dicke Staubschicht auf dem Boden verriet jedem, dass sie hier entlanggelaufen war. Spinnweben an den Decken glitzerten im Licht der Flammen, die ihr als Wegweiser dienten.

In ihrer Handfläche formte sie eine weitere kleine Flamme, die zum einen mehr Licht bot, zum anderen zur Verteidigung eingesetzt werden konnte. Sie war eine der wenigen Dunklen, die das Feuer beherrschten. So, als ob sie auf der Jagd wäre, bewegte sie sich lautlos vorwärts. All ihre Sinne waren geschärft. In ihren Gedanken hörte sie einen Adler schreien, was ihr ein vergnügtes Grinsen entlockte, trotz der Gefahr, in der sie schwebte.

Azia, was ist los? Du hast doch nicht etwa Angst um mich?

Als Antwort erhielt sie einen warnenden hellen Schrei des Adlers. Wie alle Dunklen besaß auch Celeste eine besondere Verbindung zu einem Tier, das ihr bei der Jagd half. Sie hatte Azia als Küken vor dem sicheren Tod gerettet, als sie sie verlassen in ihrem Nest fand. Seit diesem Tag kümmerten sie sich gegenseitig umeinander. Sobald ein Seelenfänger mit seinem Tier eine besondere Verbindung eingegangen war, konnte er oder sie das Tier verstehen. Natürlich nicht mit Worten, aber die brauchte Azia auch gar nicht. Celeste spürte den Unmut der Adlerdame. Sobald sie die Stimme ihrer Tante hörte, konzentrierte sich Celeste wieder voll und ganz auf ihre Aufgabe.

Nur noch eine Tür trennte sie von Thalia, der Schwester ihres Vaters. Ohne ein Geräusch zu verursachen, drückte sie die Klinke herunter. Es war egal, ob auch diese Tür einen Laut von sich geben würde. Celeste konnte jetzt ohne Antworten nicht einfach wieder umdrehen. Doch zum Glück glitt die schwere Holztür ohne ein Geräusch auf und gab somit den Blick auf ihre Tante frei, die vor einer deckenhohen Sanduhr stand.

„Da bist du ja endlich. Ich habe schon gedacht, du kommst gar nicht mehr“, begrüßte ihre Tante sie. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und konnte Celeste eigentlich nicht sehen, aber Thalia war schon immer etwas anders gewesen. Sie war sozusagen das schwarze Schaf in der Familie. Oftmals verwirrte sie die Menschen mit ihren kryptischen Worten.

Auch Celeste wurde von klein an beigebracht, sich lieber von ihrer Tante fernzuhalten. Doch mittlerweile war sie erwachsen und an kein Verbot ihrer Eltern gebunden, das sie nicht selbst befolgen wollte.

„Du hast mich also erwartet?“ Thalia nickte, drehte sich aber noch immer nicht um. Die Energie im Raum vermittelte Celeste das Gefühl von Angst und Verwirrung.

„Gut. Dann kannst du mir ja ein paar Fragen beantworten. Was machst du hier unten? Und warum ist eine Helle hierher geflohen?“

„Weil die Welt untergehen wird.“ Celeste lachte trocken auf.

„Das ist der Grund? Und woher weißt du das?“ In ihren Gedanken stieß Azia einen warnenden Laut aus, doch sie ignorierte den Adler.

Endlich drehte Thalia sich um. Erschrocken wich Celeste zurück. Die sonst so anmutige und schöne Frau sah aus wie ein Abbild ihrer Selbst. Ihre Haut war fahl, die Haare glanzlos und ungepflegt und unter den Augen trug Thalia dunkle Augenringe.

„Ich sehe es seit Monaten in meinen Träumen. Niemand wollte mir zuhören. Nicht einmal mein eigen Fleisch und Blut.“

Damit musste wohl Celestes Vater gemeint sein. Der stolze Schlossherr war genauso dickköpfig wie sie selbst und hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine Schwester als nicht richtig im Kopf ansah. Bei dem Anblick, den Thalia im Moment bot, konnte sie ihm im Stillen nur zustimmen. Und doch gab es da die Stimme in ihr, die die Worte ihrer Tante nicht so einfach abtun konnte.

„Warum bist du hier? Weil deine Neugier dich antreibt, richtig? Ich war einst genau wie du. Begierig, die Geheimnisse der Welt zu erfahren.“ Als Thalia sich umdrehte und wieder auf die Sanduhr schaute, die zur Hälfte durchgelaufen war, wurde ihre Stimme leiser, aber nicht weniger eindringlich.

„Die Menschen sind so darauf bedacht, dass sie über allem und jedem stehen. Sie können sich nicht vorstellen, dass sich etwas ändert. Etwas, das das gesamte Gefüge durcheinander bringt. Ich habe gesehen, dass eine Helle ihre Erinnerung an ihr altes Leben wiedererlangt hat.“

Wie alle wusste auch Celeste, dass die Seelen eingefangen wurden, damit sie in einer anderen Welt wiedergeboren werden konnten. Passierte das nicht, konnten sie einigen Schaden in Edrè anrichten.

„Sie ist auf der Suche nach einem Weg in ihr altes Leben. Und sie hat es fast geschafft. Jemand hilft ihr, ich weiß nur nicht, wer.“ Frustriert ballte Thalia die Hände zu Fäusten.

„Ich habe diese Sanduhr erbaut, um die Zeit abzuschätzen, die uns noch bleibt, unseren Untergang zu verhindern. Die Hellen helfen mir, indem sie einen Teil ihrer Energie abgeben. Nur so kann der Sand weiterlaufen.“

Da Celeste noch nie davon gehört hatte, dass die Hellen jemandem halfen, war das ein weiterer ungewöhnlicher Faktor. Eine eisige Faust griff nach ihren Eingeweiden. Sie konnte die Angst beinahe auf ihrer Zunge schmecken. Also startete sie einen letzten Versuch, um das Unmögliche zu begreifen.

„Wenn das stimmt, dann solltest du dich an die großen Häuser wenden. Sie müssen bei dem kleinsten Beweis einer Gefahr etwas unternehmen, so steht es in den alten Verträgen.“

Als ihre Tante sie direkt anschaute, konnte sie eine bleierne Traurigkeit in ihren Augen erkennen.

„Ich habe es versucht, doch meine Träume reichen nicht als Beweis aus. Ich lebe seit Jahren hier unten, verborgen vor der Welt dort draußen. Wenn man anders ist, dann ist man meistens auch auf sich allein gestellt. Sag, Celeste, hast du in den letzten Tagen bemerkt, dass sich immer mehr Angriffe der Monster an den Grenzen häufen? Dass die Waldtiere nach und nach in Richtung Wüste fliehen? Weg vom Berg?“

Widerstrebend nickte Celeste. Diese Information wurde den Seelenfängern vor zwei Tagen in einem Treffen mitgeteilt. Doch niemand durfte ein Wort darüber verlieren, um keine Panik auszulösen. Dass Thalia davon wusste, besiegelte Celestes Gefühl, dass an der dunklen Vorahnung etwas Wahres dran sein musste.

„Auch wenn du mir nicht gänzlich traust, kannst du das Gefühl nicht abschütteln, dass ich die Wahrheit sage, oder?“ Thalia lächelte sie freundlich an, was ihrem Gesicht einen Teil ihrer alten Schönheit zurückgab.

„Ich schlage dir einen Handel vor. Du besitzt die Kraft und die Neugierde, um zum Tempel auf den Berg zu gehen und nachzuschauen, ob dort alles in Ordnung ist. Danach kommst du zurück und erstattest mir Bericht. Wenn du etwas Ungewöhnliches vorfindest, haben wir vielleicht endlich einen Beweis, mit dem die großen Häuser zum Handeln gezwungen werden.“

Unwillkürlich wanderte Celestes Hand zu ihrem Dolch. Die Reise war voller Gefahren und für die Dunklen verboten. Nur den Herrschern der Häuser, den Weisen und – wie man sich hinter vorgehaltener Hand sagte – Göttern war der Zutritt zum Tempel gestattet. Was sollte sie also tun? Ihrem Gefühl vertrauen und zum Tempel reisen, obwohl sie dafür schwer bestraft werden könnte? Oder Thalias Gerede abtun und weiter ihr Leben wie bisher leben? Sie war schon einmal als Begleitung ihres Vaters dort gewesen und wusste, dass jeder Eindringling ohne jede Gnade vertrieben wurde.

Ein Summen an ihrem linken Ohr ließ sie herumfahren. Und plötzlich sah sie sich dem hellen Licht der Seele gegenüber, die sie gestern gesehen hatte. Ihr Licht war heller als das der anderen Seelen. Celeste blieb still stehen und atmete so flach wie möglich. Ihr Herzschlag hatte sich verdreifacht und Schweißperlen tropften ihr von der Stirn. Die körperliche Reaktion auf diese Begegnung war so ungewöhnlich, dass ihre Gedanken wie wild hin und her rasten.

„Ist das …?“, fragte sie zögernd.

Thalia lächelte das Licht liebevoll an. „Ja, das war Danae, die Weise aus dem Wald. Sie ist eine der wenigen, die mir glauben und mir helfen.“

Erst als sich das Licht wieder entfernte und über der Sanduhr schwebte, beruhigte sich Celestes Herzschlag. Es kostete sie einige Überwindung, das unruhige Gefühl in ihrem Innersten zurückzudrängen, um nach außen hin wieder die kühle Jägerin zu sein.

„Warum denkst du, dass ich beim Tempel etwas finden werde?“

„Würdest du mir glauben, wenn ich es dir sagen würde?“, fragte Thalia lächelnd.

„Vor ein paar Minuten vielleicht nicht, aber jetzt?“

„Je mehr Seelen mir helfen, desto klarer erhalte ich meine Visionen. Sie beschränken sich jetzt nicht mehr nur auf meine Träume in der Nacht. Ich weiß, dass dieser Tempel eine bestimmte Bedeutung hat. Nur bin ich körperlich nicht in der Lage, die Reise allein anzutreten.“

„Was ist, wenn ich nichts finde?“

„Dann suchen wir weiter. Uns bleibt keine andere Wahl“, sagte Thalia bestimmt.

Endlich nickte Celeste. „Gut, ich werde zum Tempel reisen. Mir stehen sowieso noch ein paar freie Tage zu.“

Als sei eine zentnerschwere Last von Thalias Schultern gefallen, veränderte sich ihre gesamte Haltung. War sie zuvor noch angespannt gewesen, konnte Celeste ihr jetzt deutlich die Aufregung ansehen. Als Thalia ein rotes Tuch aus ihrer Hosentasche zog, sah Celeste ihre Tante ratlos an.

„Hier, nimm das mit. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber es wird dir helfen.“ Danach ging Thalia zu einem Schrank in einer Ecke des Raumes und holte eine goldene Taschenuhr aus einem Schubfach hervor. „Und die musst du auch mitnehmen. Sie ist auf die Sanduhr eingestellt.“ Mit dem Fingern zeigte ihre Tante auf das weiße Ziffernblatt, auf dem sich nur ein schwarzer langer Zeiger befand, der nach oben zeigte.

„Wenn der Zeiger einmal herumgewandert ist, dann kommt jede Hilfe zu spät. Und jetzt los. Du musst deine Sachen für die Reise packen.“

Völlig perplex von dem veränderten Verhalten ihrer Tante ließ sie sich in Richtung Tür ziehen. Erst als sie auf dem Weg in den Teil des Schlosses war, den sie allein bewohnte, fiel ihr auf, dass die tödliche Falle verschwunden war. Entweder war sie nur eine Prüfung gewesen, oder ihre Tante hatte sie abgestellt, damit sie sich wirklich so schnell wie möglich auf den Weg machen konnte.

In ihren Gemächern angekommen, öffnete sie zuerst das Fenster, das ihr einen atemberaubenden Blick über den Wald gewährte. Hoch oben am Himmel sah sie Azia ihre Runden drehen.

Sie ließ sich noch einmal das Gespräch mit ihrer Tante durch den Kopf gehen. Noch konnte sie den Ausflug abblasen. Doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Celeste hatte sich schon immer auf ihr Gefühl verlassen. Und das sagte ihr, dass sie diesem Hinweis nachgehen musste. Genauso wie sie gewusst hatte, dass sie in die untersten Räume zu ihrer Tante gehen musste.

London

Ian starrte das Haus an, das sich inmitten einer großen Stadt befand, in der er erst vor einigen Wochen gewesen war. London machte nach außen hin nicht unbedingt den Anschein, aber in letzter Zeit häuften sich die Meldungen zu paranormalen Vorfällen. Natürlich wurden dafür in den Medien ganz andere Erklärungen gefunden. Der Mensch wollte eben meistens lieber etwas Handfestes hören, als die Nachricht aufgetischt zu bekommen, dass sich Möbel nicht von allein und nicht mit einem Trick quer durch den Raum bewegten.

„James, sag mir bitte noch einmal genau, warum ich mich kurz vor Mitternacht in Chinatown in London wiederfinde.“ Sein langjähriger Freund zuckte bewusst unschuldig mit den Schultern.

„Weil du dafür gut bezahlt wirst und weil bereits zwei Geisterjäger abgesagt haben, nachdem ihnen ihre Instrumente in die Luft gesprengt wurden.“ Ian knurrte seinen Freund regelrecht an: „Du weißt, dass ich diesen Begriff nicht mag.“

„Kann sein, aber die Besitzer des Restaurants nebenan bezahlen keinen Ian McMillan, der übersinnliche Fähigkeiten besitzt, ohne dass man etwas davon sieht oder dass es den Anschein macht, als könnte er Geister vertreiben. Sondern sie bezahlen McMillan, den Geisterjäger. Wenn du mich nicht hättest, dann würdest du kein Geld verdienen, mein Freund.“ Kopfschüttelnd ließ Ian es dabei bleiben.

Er lernte James in dessen Heimat Schottland kennen, als dieser auf einer Rucksacktour durchs Land zog. Nur hatte Ian weder mit dem schottischen Wetter noch mit schottischen Insekten gerechnet. Ian hatte seinem Vater im Pub hinter dem Tresen ausgeholfen und so waren er und der englische Student ins Gespräch gekommen.

Als ob auch James an diese Zeit zurückdachte, fragte er: „Kannst du dich noch an dieses alte Schloss Penkaet in der Nähe von Haddington erinnern?“

„Ja, immerhin war das unser erstes Spukschloss“, antwortete Ian.

„Ich habe damals gewusst, dass es dein Verdienst war, dass die unheimlichen Geräusche verschwanden. Und ich weiß auch jetzt, dass hier etwas Ungewöhnliches vor sich geht, bei dem nur du helfen wirst und helfen kannst.“

Als Ian seinen Freund ironisch ansah, lachte James laut auf.

„Ich meine etwas Seltsameres als sonst. Lass uns einfach reingehen und nachschauen, ob du eine Schwingung oder etwas Ähnliches wahrnehmen kannst.“

Ian hatte schon oft versucht, seinem Freund zu erklären, wie er Geister aufspüren konnte. Meistens geschah es über Geräusche. Manchmal waren es einzelne Töne, manchmal war es eine kurze Melodie. Als kleiner Junge hatte er alles zu Geistern gelesen, was er in die Hände bekommen konnte. Und doch fand er in den Seiten der vielen Bücher keinerlei Antworten.

An seinem fünften Geburtstag waren seine Eltern mit ihm in ein Fischrestaurant gegangen. Zum allerersten Mal waren sie bis kurz vor Mitternacht geblieben, obwohl er noch so jung gewesen war. An diesem Tag war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Letztendlich hatte seine Familie weitergefeiert, während er mit dem Kopf auf den verschränkten Armen an einem Tisch in einer Ecke des rustikalen Restaurants eingeschlafen war. Seine Freunde waren längst von ihren Familien nach Hause geholt worden.

Eine helle Melodie weckte ihn aus einem Traum. Noch völlig schlaftrunken hatte er den Kopf gehoben und sich den Schlaf aus den Augen gerieben. Und dann sah er ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die zu zwei Zöpfen zur Seite gebunden waren. Sie trug ein blaues Kleid, daran konnte er sich noch genau erinnern. Ihre Gestalt verschwamm immer wieder, also dachte er zuerst, dass er noch träumte.

Doch dann sah sie ihn direkt an. Zuerst wirkte sie zu Tode erschrocken, dann wütend. Sie öffnete den Mund, doch nicht ein Wort kam über ihre Lippen, als sie sprach. Sie befand sich nur ein paar Schritte von ihm entfernt.

Und zum ersten Mal in seinem jungen Leben verspürte er Angst. Es war anders als die Vorstellung, dass etwas unter seinem Bett war oder er Geräusche aus seinem Kleiderschrank hörte. Diesmal sah er etwas Gruseliges. Er sah jetzt den Beweis direkt vor sich, dass die Schauergeschichten seines älteren Cousins nicht nur erfunden waren.

Als das Mädchen merkte, dass er sie nicht verstehen konnte, schrie sie aus vollem Hals. Dabei musste er sich regelrecht die Ohren zuhalten und die Augen zusammenkneifen, so weh tat das hohe Geräusch, das sie mit einem Mal dabei verursachte.

Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Seine Eltern dachten, er habe einen Albtraum gehabt, doch Ian wusste, dass er das Geistermädchen tatsächlich gesehen hatte.

Mit einem Ruck kam er zurück in die Gegenwart. James zog einen langen silberfarbenen Schlüssel aus seiner Jackentasche. Es war gerade Mitte April und das Wetter meinte es nicht gut mit ihnen. Den ganzen Tag über hatte es geregnet und auch jetzt war die Luft feucht und eisig kalt.

Das Knarren der Tür war so laut, dass die beiden sich verstohlen umsahen, ob jemand sie beobachtete. Sie taten nichts Verbotenes, doch hin und wieder wurden sie von eifrigen Bürgern oder der Polizei bei ihrem Vorhaben aufgehalten. Zum Glück hielten sich nur einzelne Passanten um diese Uhrzeit hier auf.

James verschloss hinter ihm die Tür, sodass sie sich ungestört umsehen konnten. Das Haus war fast leer. Nur ab und zu fanden sie Hinterlassenschaften von Menschen, die sich zuvor im Haus aufgehalten hatten. In den Wänden und in der Decke befanden sich kleine bis riesige Löcher. Aus den Bodendielen ragten spitze kleine Nägel hervor. In den Ecken der einzelnen Räume fanden sie Kot von verschiedenen Nagern vor. Einzig und allein der Schein ihrer Taschenlampen erleuchtete das Hausinnere, denn die Fenster waren von innen mit Holzlatten zugenagelt worden.

„Warum wird das Haus nicht mehr saniert?“, fragte Ian in die Stille hinein.

„Es ist einsturzgefährdet.“ Nachdem Ian ihm einen eindeutigen Blick zuwarf, fügte er entschuldigend hinzu: „Ja, ich weiß. Du wolltest kein Haus mehr betreten, in dem dir die Decke auf den Kopf fallen kann. Aber der Eigentümer hat mir versichert, dass es nicht so schlimm ist. Bauarbeiter sind abergläubische Menschen. Sie haben ein paar seltsame Geräusche gehört und die ein oder andere Kratzspur an der Wand gefunden, also arbeiten sie nicht weiter, bis das Problem behoben ist. Wenn dann auch noch ein Teil der Decke auf sie herunterkommt, dann schieben sie es eben auf eine angebliche Einsturzgefahr, dass sie offiziell nicht mehr arbeiten kommen.“

Ian schaute sich aufmerksam um. Bis jetzt konnte er nicht sagen, ob sich in diesem Haus wirklich ein Geist aufhielt. Bisher sah es eher wie ein Ort aus, an dem sich Kinder aufhielten, die das Opfer einer Mutprobe waren.

Darauf bedacht, in der Stille des Hauses keine lauten Geräusche zu verursachen, gingen sie weiter durch die Räume. Überall setzte sich das anfangs eingeprägte Bild fort. Verwahrlosung und Flecken auf dem Boden und an der Wand, deren Ursprung Ian lieber nicht genau untersuchen wollte, hatten dem Haus nicht wirklich gut getan. Nach all den Jahren gewöhnte sich Ian mittlerweile an den üblen Geruch in solchen Häusern. Zumal hier auch noch der Duft nach chinesischem Essen hinzukam.

Als er wieder an der Treppe ankam, hörte er ein leises Summen, dessen Ursprung kaum zu benennen war. Vorsichtig darauf bedacht, dass er keinem tödlichen Unfall zum Opfer fiel, stieg er die maroden Stufen hinauf ins erste Stockwerk. Hier war es wesentlich kälter als unten, was ein gutes Anzeichen für Geister war.

„Ähem, ich warte hier unten und gebe dir Rückendeckung“, hörte er James hochrufen. Unwillkürlich musste Ian grinsen. Es stimmte, dass James für ihn häufig die Aufträge an Land zog, doch seinem Freund war es noch nie leicht gefallen, sich an gruselige Orte zu begeben. Doch Ian würde ihn niemals als einen Angsthasen bezeichnen. Er selbst hatte die meiste Zeit selbst Angst.

Immerhin war es wirklich nicht erklärbar, warum ihn der Geruch nach einem Kiefernwald von der ansonsten modrigen Note ablenkte. Ja, hier gab es definitiv paranormale Aktivitäten. Während er weiterging und einen großen Salon und ein ehemaliges Schlafzimmer passierte, hörte er auch das Summen wieder, das sich diesmal zu einer leisen Melodie gesteigert hatte. Das bedeutete, dass die Kraft des Geistes groß war.

Langsam, ohne eine hektische Bewegung zu machen, zog er sein kleines Taschenmesser aus der Jackentasche und klappte es auf. Das war ein Geschenk seines Vaters gewesen, als dieser in der Schweiz in Urlaub gewesen war. Als ob der Geist merken würde, dass er entdeckt worden war, wurde die Melodie leiser, verschwand aber nicht ganz.

Ian zuckte erschrocken zusammen, als etwas von einem Holzschrank im Flur auf den Boden knallte. Beim näheren Hinsehen konnte er erkennen, dass es sich bei dem Etwas wohl mal um ein Buch gehandelt haben musste.

„Möchtest du mich erschrecken?“ Seine Stimme klang hohl in den fast leeren Räumen. Selbst er konnte seine Anspannung heraushören. Doch er sprach nicht ohne Grund mit dem Geist. Manche Geister reagierten auf seine Stimme.

„Tut mir leid, aber du bist nicht mein erster Geist. Ich habe schon schlimmere Sachen erlebt.“ Das hätte er vielleicht nicht sagen sollen.

Als Antwort kippte prompt der Schrank um, auf dem zuvor noch das Buch gelegen hatte. Einige der Bretter, die vor den Fenstern angebracht worden waren, fingen an zu vibrieren und Ian verlor keine Zeit. Er ritzte sich mit dem Messer in die linke Handfläche. Das Brennen nahm er kaum noch wahr. Doch den Geruch nach Eisen konnte er nicht ignorieren. In der Nähe von Geistern war er so stark, dass es am Anfang vorgekommen war, dass er sich die Nase zuhalten musste, um dem Drang zu entgehen, sich in einer Ecke seines Mageninhalts zu entleeren.

Endlich erreichte er den letzten Raum auf der Etage. Der Dachboden war durch eine verschlossene Luke die nächste Ebene. Ian sah sich in dem kleinen Zimmer um und erkannte die Überreste eines Schreibtisches. Helle Flecken an der Wand verrieten ihm, dass das hier ein Arbeitszimmer gewesen sein musste, in dem sich Bilder an der Wand befunden hatten. Auf dem Boden waren sogar noch Glasscherben zu sehen. Ian bemühte sich, auf nichts draufzutreten, was bei dem Unrat schwerfiel, der über den ganzen Boden verstreut lag.

„Willst du dich mir nicht zeigen?“, fragte er mit leiser und wie er hoffte lockender Stimme. Die Melodie wurde einen Augenblick lauter, dann wieder leiser. Bis sie so laut wurde, dass sogar James im unteren Geschoss sie hören musste. Obwohl die Chancen dafür nicht gut standen. Anscheinend war Ian der Einzige, der die Töne hören konnte.

Das war auch der Grund gewesen, warum er sich als Kind geweigert hatte, ein Instrument zu erlernen, obwohl er seine Mutter damit enttäuscht hatte. Seitdem verband er rein instrumentale Musik immer mit Geistern.

Als die Melodie langsamer wurde, sah er aus den Augenwinkeln ein Schimmern am Fenster. Als er den Kopf drehte, stockte ihm regelrecht der Atem. Er sah eine Frau, die um die fünfzig Jahre alt sein musste. Sie war so klar zu erkennen, dass er dem Wunsch widerstehen musste, sich über die Augen zu reiben.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm und sah auf die Holzlatten, die die Sicht nach draußen versperrten. Ihre Haare gingen ihr fast bis zur Mitte des Rückens und ihre Kleidung sah nicht so aus, als ob sie in dieses Jahrhundert gehörte. Ian konnte ihr Gesicht nicht erkennen, wollte aber nicht das Risiko eingehen, sich von der Mitte des Raumes zu entfernen.

Er wollte sich gerade hinknien, als die Frau beide Hände hob und sie an das Holz vor sich hielt. Mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen sah Ian dabei zu, wie das Holz verschwamm und durch die glasklar geputzten Fensterscheiben der Blick auf einen Wald und einen Berg freigelegt wurde. Es war, als ob er einen Film schauen würde, während sich das Bild änderte.

Die Kamera schwenkte näher an den Wald heran und ohne Probleme erkannte er eine Lichtung. In der Mitte brannte ein kleines Lagerfeuer und Ian sah in den sich wandelnden Schatten eine eingemummte Gestalt, die ins Feuer starrte. Doch er hätte nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Er kniff regelrecht die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können, doch das Bild verschwamm bereits und zurück blieb der Blick auf die Holzlatten.

Endlich drehte die Frau sich um. Sie sah ihn direkt an, doch ihr Gesicht blieb regungslos. Das brachte ihn endlich zurück in die Wirklichkeit. Wie so viele Male zuvor hockte er sich auf den Boden, um einige Blutstropfen aus dem Schnitt an seiner Hand herunterfallen zu lassen. Die Frau beobachtete ihn, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Es dauerte keine fünf Sekunden, da erfüllte der Duft nach Eisen den gesamten Raum. Je mehr das dunkelrote Blut vom Boden eingesaugt wurde, desto durchscheinender wurde die Gestalt des Geistes. Als nichts mehr darauf hinwies, dass Ian etwas Blut von sich in diesem Zimmer hinterlassen hatte, war die Frau vollends verschwunden. Und mit ihr die Melodie.

Auf wackeligen Beinen erhob er sich schwerfällig. Erst, nachdem er der Meinung war, dass der Geist wirklich verschwunden war, ging er zurück zur Treppe. Unten am Absatz konnte er James sehen, der besorgt zu ihm hinaufschaute.

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Volume:
360 p. 1 illustration
ISBN:
9783753198149
Publisher:
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Bookwire
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