Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke

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Vorbereitungen

Menschen, die auf die eine oder andere Weise Kenntnis von dem beklagenswerten Ereignis erhalten haben, das sich eine Woche später auf dem Pfarrhof von Algeröd zutrug, wollen meistens Lotta Hedman die ganze Schuld daran aufladen.

»Wenn die junge Pfarrfrau nicht dieses überspannte Geschöpf um sich gehabt hätte, das ihr mit seinen Gesichten den Kopf verdrehte, wäre gar kein Unglück geschehen.« sagen sie.

Aber damit tun sie Lotta Hedman wirklich unrecht. In ihrem ganzen Leben war sie nie stiller, nie besonnener gewesen, als während jener Zeit. Ihre Freunde in der anderen Welt ließen sie in völliger Unkenntnis, sie hatte also von dem, was bevorstand, nicht die geringste Ahnung.

In der ersten Nacht, wo sie bei Sigrun wachte, war sie in großer Angst und Unruhe, das ist selbstverständlich. »Wie wird das enden?« fragte sie sich wieder und wieder. »Wie sollen diese beiden Menschen nur ein neues gemeinsames Leben beginnen? Sigrun ist ja ganz außer sich vor Angst, er aber muß jede Vernunft verloren haben und wie ein wildes Tier vorgegangen sein.«

»Aber es war ja doch nur Eifersucht,« tröstete sie sich. »Und wenn Sigrun sich auch ein wenig vor ihm fürchtet, merkt man ja doch, daß sie ihn lieb hat. Solange aber ihre Liebe nicht tot ist, kann diese sie gewiß wieder zusammenführen.«

Gegen ein Uhr nachts öffnete Sigrun die Augen. Verwundert setzte sie sich im Bett auf und betrachtete die ungewohnte Umgebung. Sie schien zuerst ein wenig verwirrt zu sein, faßt sich aber bald und sagte mit vollkommen ruhiger Stimme zu Lotta:

»Jetzt kannst du dich auch hinlegen, Lotta, aber du mußt die Lampe brennen lassen, und du darfst dich nicht ausziehen. Du mußt bereit sein, mich zu verteidigen.«

Darauf sank sie wieder in die Kissen zurück und fiel aufs neue in Schlaf. – »Sie fürchtet sich noch immer, aber sie ist vollkommen klar,« dachte Lotta Hedman. »Gott sei Lob und Dank! Morgen ist sie wieder gesund.«

Sie tat, wie ihr befohlen war, legte sich auf ein kleines Schlafsofa und schlief bis gegen sieben Uhr; dann stand sie auf, um in den Stall zu gehen und ihr Kleinvieh zu versorgen. Aber als sie die Tür öffnete, rief Sigrun sie zurück.

Sie zitterte und weinte, weil Lotta sie hatte verlassen wollen. Wieder war sie tief erregt, und als Lotta ihr sagte, ihr Mann sei gestürzt und könne sich nicht rühren, war sie unfähig, es ganz zu erfassen.

Lotta blieb also nichts anderes übrig, als sich ans Fenster zu stellen und in die graue Herbstdämmerung hinauszuspähen, bis die Stallmagd vorbeikam. Denn sie mußte sie hereinrufen und ihr sagen, daß die Frau Pfarrer noch zu krank sei, um allein gelassen zu werden, und sie bitten, ihre, Lottas Pflichten, für diesen Morgen zu übernehmen.

Von der Stallmagd erfuhr sie allerlei Neues. Der Amtsrichter war gar nicht zurückgekommen. Er hatte sich zum Kirchenvorsteher geflüchtet, der ein Stück südwärts vom Pfarrhof wohnte. Dort hatte er die Nacht zugebracht, und jetzt am Morgen war der Knecht des Kirchenvorstehers gekommen, um die Sachen des Amtsrichters zu holen.

Aber das bedauere niemand, sagte die Magd. Alle seien froh darüber, daß der Mann den Hof verlassen habe.

Und mit dem Herrn Pfarrer stehe es wirklich schlimm. Er selbst glaube, er habe sich ein Bein gebrochen. Sie hätten schon an den Arzt telephoniert, und dieser habe versprochen, im Laufe des Tages zu kommen.

»So geht's, wenn man sich nicht wie ein gebildeter Mensch benimmt!« schloß die Stallmagd. »Wir wußten ja alle, daß der Amtsrichter in die Frau Pfarrer verliebt ist, aber es wäre keines von uns so verrückt gewesen, zu glauben, sie könne sich aus so einem alten kranken Kerl etwas machen.«

Lotta Hedman war ihrerseits ganz froh über diesen Beinbruch. Der Pfarrer mußte dadurch das Bett hüten, und Sigrun hatte Zeit, sich von ihrem Schrecken zu erholen. Deshalb betrachtete Lotta diesen Unfall fast als eine gnädige Fügung Gottes.

»Gott sei Lob und Dank!« sagte sie seufzend. »Nun wird alles gut. Und wenn dies überstanden ist, werden sie vielleicht glücklicher als vorher.«

Späterhin am Morgen kam der Hofjunge des Kirchenvorstehers mit dem einen Brief dahergeschlichen, aber Lotta Hedman schickte ihn mit dem uneröffneten Brief zurück.

Sonst war es ein stiller, ruhiger Tag. Sigrun stand nicht auf, sondern schlief Stunde um Stunde weiter. Und nicht nur sie schlief; der ganze Hof schien in denselben Schlummer versenkt worden zu sein wie die Hausfrau.

»Hier ist's heute über die Maßen still, es wird einem ganz unheimlich zumute,« sagten die Köchin und das Hausmädchen, als sie ins Brauhaus hinüberkamen, um sich nach ihrer Herrin zu erkundigen. »Es ist, als liege jemand im Sterben.«

Nach einer Weile schickte der Pfarrer nach Lotta, um von ihr zu erfahren, wie es seiner Frau gehe. Lotta ging zu ihm hinüber und sagte, was ja auch die Wahrheit war, Sigrun schlafe unausgesetzt, sie habe kein Fieber, und die kleine Schramme auf ihrer Stirn habe nicht das geringste zu bedeuten.

Aber als er vorschlug, sie sollten Sigrun ins Wohnhaus herüberschaffen, wollte Lotta nichts davon wissen; sie erklärte es fürs beste, Sigrun bleibe, wo sie sich jetzt befinde. Sie zittere am ganzen Körper und habe entsetzlich Angst.

»Sie fürchtet sich gewiß vor mir,« sagte der Pfarrer.

Seine Gesichtszüge drückten tiefen Schmerz aus. Es war nicht allein das gebrochene Bein, was ihm weh tat.

»Sie kommt von selbst zurück, sobald sie wieder bei Kräften ist,« entgegnete Lotta hastig.

Der Kranke seufzte. »Nein, sie kommt nie mehr zu mir zurück,« sagte er, »nie mehr. Sie wird nie mehr den Mut haben, zurückzukommen.«

Lotta Hedman hätte nicht geglaubt, daß sie mit dem Manne, der ihr die schönsten Jugendträume zerstört hatte, jemals Mitleid haben würde. Aber jetzt versuchte sie, ihn doch zu trösten.

»Ach, das Glück wird gewiß in dieses Haus zurückkehren!« sagte sie.

Sie dachte wirklich mit keinem Gedanken daran, Mann und Frau zu trennen. Im Gegenteil, sie tat alles, was in ihrer Macht stand, sie zu versöhnen und wieder zu vereinigen.

Als der Doktor gegen Abend kam, sagte er ungefähr dasselbe über Sigrun wie Lotta: Sie habe keine eigentliche Krankheit, und sie werde gewiß wieder gesund werden, wenn man sie nur zur Ruhe kommen lasse. Aber ihre Nerven seien zerrüttet, und jetzt sei eine Art Krisis eingetreten.

Man müsse sehr vorsichtig mit ihr sein. Man dürfe ihr nicht widersprechen und sie nicht anstrengen. Auch dürfe man sie nicht überreden, etwas anderes zu tun, als das, wozu sie Lust habe.

»Ich bin mir über diesen Fall noch nicht ganz klar, sagte der Arzt. »Denn es kann sich auch ganz anders verhalten. Frau Rhånge kann möglicherweise von jemand angesteckt sein und den Keim zu einer Krankheit in sich tragen, die schnell und heftig zum Ausbruch kommen wird. Aber das kann ich jetzt noch nicht sagen.«

Späterhin waren diese Worte des Doktors, die verschiedene Leute vom Hof gehört hatten, Lotta von sehr großem Nutzen. Sie wunderte sich dann, daß sie gesagt worden waren, und schrieb auch das einer höheren Fügung zu.

Auf diese Weise verging eine ganze Woche. Täglich kam ein heimlicher Bote von dem Gast des Kirchenvorstehers, mußte aber jedesmal unverrichteter Dinge wieder abziehen. Tagtäglich wurde Lotta zum Pfarrer gerufen, um Bericht zu erstatten. Täglich schlief Sigrun vom Morgen bis zum Abend.

Als Lotta später über dieses Schlafen nachdachte, sagte sie sich: »Es lebte etwas in ihr, das wußte, was ihr bevorstand. Sie schlief nicht, weil sie müde und matt war, sondern sie sammelte Kräfte.«

Selbst in den Stunden, wo die junge Frau wach war, lag sie still und schweigend da.

Dann runzelte sie die Stirn, und manchmal nickte sie mit dem Kopfe; wie wenn sie etwas bejahe, was sie sich selbst vorgeschlagen hatte. Lotta dachte wohl, Sigrun schmiede gewiß Zukunftspläne, aber vorläufig hatte sie keine Kenntnis von ihnen.

Eines Tages bat Sigrun Lotta, ins Pfarrhaus hinüberzugehen und ihr siebenhundert Kronen zu holen, die sie in einer Kommodenschublade liegen hatte. »Diese Summe gehört mir,« sagte sie. »Ich habe sie mir von dem Geld, das ich von meinen Eltern zu verschiedenen Geburtstagen erhielt, zusammengespart. Du wirst verstehen, daß ich dieses Geld bei mir haben möchte; es ist mir ungemütlich, wenn es in dem leeren Haus liegt.«

Lotta fand das sehr richtig, und sie holte das Geld.

An einem anderen Tag sehnte sich Sigrun danach, etwas zu lesen, und Lotta brachte ihr eine Zeitung. Sie lag lange da und studierte die Anzeigen der Dampfschiff- und Eisenbahnverbindungen. Dann legte sie das Blatt weg. Lotta gab nicht weiter darauf acht, als das geschah, aber später fiel es ihr wieder ein.

Während dieser stillen Woche war es ernstlich Winter geworden. Es herrschte zwar noch keine besondere Kälte, aber es lag doch so viel Schnee, daß der Boden weiß war. Ja, man konnte sogar Schlitten fahren.

Dieses Weiß vor dem Fenster, das Sigrun an ihre Heimat mit ihren langen Wintern erinnerte, schien einen wohltätigen Einfluß auf sie auszuüben. An demselben Tag, wo der erste Schnee fiel, stand sie auf und kleidete sich an.

»Das ist recht, meine Liebe,« sagte Lotta Hedman. »Wenn du versuchst, ein wenig aufzustehen, kommst du gewiß früher zu Kräften. Nun werde ich dich gewiß bis Weihnachten wieder gesund pflegen können, daran zweifle ich gar nicht.«

Die junge Frau hielt mitten im Ankleiden inne.

»Ist es schon bald Weihnachten?« fragte sie. »Das hatte ich ganz vergessen.« Sie war sichtlich unangenehm davon berührt, daß sie an das bevorstehende Fest erinnert worden war. Weihnachten konnte sie unmöglich wo anders als im eigenen Hause feiern, das schien ihr plötzlich klar geworden zu sein. »Wenn etwas geschieht, muß es vor Weihnachten geschehen,« murmelte sie. »Ich muß vor Weihnachten fertig sein.«

 

Lotta Hedman aber, die diese Worte hörte, glaubte, es handle sich um irgendein Geschenk, das bis zum Weihnachtsabend fertig sein müsse.

Eines Abends erzählte Lotta Hedman Sigrun von dem Mann, den sie im Zug getroffen hatte. Sie beschrieb sein Aussehen, seine sanfte, wohltuende Stimme, seine Demut.

»Er war sehr freundlich gegen mich,« sagte sie. »Aber gerade als ich eines meiner Gesichte hatte, lief er mir davon.«

»Was für ein Gesicht war das?« fragte Sigrun.

»Es handelte sich um etwas weit droben im Norden,« antwortete Lotta. »Ich sah ein mit Eis bedecktes Stück Land und ein schwarzes Zelt und einen großen Schlitten.«

Sigrun lag ganz still da und suchte in ihrer Erinnerung.

»Weißt du, Lotta, du bist doch ein merkwürdiges Geschöpf,« sagte sie nach einer Weile. »Den du da getroffen hast, kann niemand anders sein, als Sven Elversson. Er sah genau so aus wie der Mann, den du beschrieben hast, und es sähe ihm ganz ähnlich, davonzulaufen, als du anfingst, etwas zu sehen, das an Eisfelder und Polarreisen erinnerte.«

»Wer ist Sven Elversson?« erkundigte sich Lotta.

Bei dieser Frage erwachte Sigrun ein bißchen aus ihrer Stumpfheit, und sie erzählte Lotta einen Teil von Sven Elverssons Geschichte.

»Ich wollte, ich wüßte, wo er sich jetzt befindet,« sagte sie zuletzt. »Er war ein sehr guter, aber sehr unglücklicher Mensch. Ich glaube, er kam sich so verachtet, so erniedrigt vor, daß er es als seine Aufgabe betrachtete, sich um Dinge anzunehmen, für die sich andere zu gut hielten. So ließ er sich zum Beispiel einmal zu einem Mörder in dessen Zelle einsperren, um ihn zu einem Geständnis zu überreden. Er heiratete eine Kleinkinderlehrerin, eines der häßlichsten Mädchen, das ich jemals gesehen habe. Das geschah wohl auch aus Demut. Als wir in Applum wohnten, sprachen alle Menschen von ihm, aber er zog früher von dort weg als wir.«

Lotta Hedman erinnerte sich an die sanfte Stimme ihres Reisegefährten und an das große Vertrauen, das er ihr eingeflößt hatte.

»Du kannst überzeugt sein, Gott hat etwas mit diesem Mann vor,« sagte sie. »Wenn ich das alles nur schon gewußt hätte, als ich ihm begegnet bin!«

»Ich wollte, ich wüßte, wo er jetzt zu finden wäre!« sagte Sigrun. »Alle Elenden und Hilfsbedürftigen wendeten sich an ihn. Seitdem er von Applum fort ist, hat man nichts mehr von ihm gehört. Er hat sich wohl irgendwohin geflüchtet, wo man seine Geschichte nicht kennt.«

An dem Abend, wo die beiden über Sven Elversson redeten, war Sigrun wieder aufgestanden und hatte sich vollständig angekleidet, ja sie war sogar mit ins Brauhaus hinausgegangen. Lotta hatte den Tisch und die Korbstühle dorthin geschafft, der gewaltige Ofen war durch die Kattunvorhänge verborgen, das Hausmädchen hatte ein kleines Teebrett für Sigrun und Lotta zurechtgemacht; sie hatten es da so gemütlich wie möglich.

Aber als das Hausmädchen fragte, ob die Frau Pfarrer sich jetzt wohl genug fühle, ins Wohnhaus überzusiedeln, antwortete Sigrun sofort:

»Ich weiß nicht, was das mit mir ist, Malin. Ich glaube, ich werde jetzt erst richtig krank. Heut abend tut mir der Kopf und der Hals weh. Mein ganzer Körper ist rot; ich bekomme wohl irgendeinen Ausschlag.«

»Warum sagt sie das nur?« dachte Lotta. »Sie ist doch ganz gesund und hat nicht den geringsten Ausschlag.«

Aber dann sagte sie sich, ihre Freundin wolle vielleicht dadurch allem Zureden, Weihnachten doch im eigenen Heim zu feiern, vorbeugen.

»Wie wird das noch weitergehen?« fragte sich Lotta voll neuer Sorge. »Wird sie dieses Grauen vor ihrem Manne nie mehr überwinden? Ach, das war ja immer so mit ihr! Wenn ihr einmal jemand Angst eingejagt hat, läßt sie sich nicht so schnell wieder beruhigen. Und wenn ich bedenke, daß sie, die so gern Kranke pflegt, nicht in ihr Haus geht, um ihren Gatten zu versorgen, ja, daß sie kaum danach fragt, ob es ihm besser geht! Das ist ein schlechtes Zeichen.«

Nachdenklich betrachtete sie ihre Freundin. Sigrun sah so müde und hinfällig aus, wie alle, die ein paar Tage zu Bett gelegen haben.

»Was für ein unseliges Schicksal verfolgt sie nur?« dachte Lotta. »Warum muß sie, dieses reine, unschuldige Geschöpf, das es mit der Vornehmsten und Schönsten aufnehmen kann, hier in einem Raume sitzen, der nicht viel besser ist als ein Schuppen?«

Nein, sie paßten wirklich nicht zusammen, die vergeistigte Schönheit der jungen Pfarrfrau und die kahlen Holzwände, der rauhe Bretterboden und das schmutzige Dach des Brauhauses!

»Wahrhaftig, alle beide tun mir leid, Sigrun ebensosehr wie der Pfarrer!« dachte Lotta. »Er hat es auch nicht allzu behaglich, während er da auf seinem Schmerzenslager liegt und sich nach ihr sehnt.«

Ja, irgend etwas Trauriges lag in der Luft. Nach einer Weile sah Lotta, wie ihre Freundin die Hände vors Gesicht schlug und sich langsam hin und her wiegte.

»Ach, wenn ich doch tot wäre!« klagte sie. »Das wäre das Beste. Wenn ich doch sterben dürfte!«

»Der Aufenthalt hier im Brauhaus ist gewiß auf die Dauer zu trübselig und langweilig für dich, Sigrun,« sagte Lotta rasch. »Ich denke, wir schaffen dich morgen ins Wohnhaus hinüber.«

Sigrun fuhr in die Höhe. Ihr Gesicht wurde aschgrau.

»Was meinst du? Was sagst du da? Hat er dich bestochen?«

»Ich glaube wahrhaftig, du bist ganz verrückt, Sigrun.«

»Ja, das ist so, Lotta, ich bin verrückt, vor Schrecken verstört. O, du weißt nicht, was ich durchgemacht habe!«

Und sie begann zu erzählen. Nicht viel, aber doch genügend, daß die andere verstehen konnte. »Wie könnte ich in diese Verhältnisse zurückkehren?« fragte sie.

»Aber das sind doch nur Beweise dafür, daß er dich lieb hat!« warf Lotta ein.

»Ich hab' ihn auch lieb,« sagte Sigrun. »Ich bin ihm nie, niemals, Lotta, das sage ich dir, auch nur mit einem Gedanken untreu gewesen, aber er hat mir niemals getraut, und das tut mir weh. Das tut mir weher als alles andere.«

Lotta Hedman sagte, die Eifersucht sei ein Fehler der Jugend. Wenn die Menschen alt genug seien, verschwinde sie von selbst.

»Nein,« sagte Sigrun, »bei ihm verschwindet sie nicht. Sie ist ein Erbteil; alle seine Verwandten sind ebenso. Glaube nur, er hat mir wieder und wieder versprochen, sie abzulegen. Aber was hat das geholfen? Damit er Ruhe bekommt, sind wir sogar in die Einöde hier heraufgezogen. Nun siehst du, was wir dabei gewonnen haben.

Meinst du vielleicht, ich hätte kein Mitleid mit ihm? Niemand weiß besser als ich, wie er sich quält. Und es geht mit ihm abwärts, Lotta, er predigt schlechter und verliert jedes Interesse. Es ist sehr, sehr schade um ihn.

Aber es ist auch schade um mich. Ich lebe in einer ständigen Todesangst. Ach, wie oft hat er mir jetzt eine Angst eingeflößt, die mir meinen ganzen Mut genommen hat! Du müßtest mich geradezu fesseln und mich dort hineinschleppen. Aber so etwas verstehst du nicht.«

»Was sollen wir denn nur tun, wenn du nicht zu ihm zurückkehren kannst?« fragte Lotta.

Die junge Frau stand auf.

»Wir wollen zu Bett gehen, Lotta,« erwiderte sie mit einem kurzen, bitteren Lachen. »Es geht schon auf elf Uhr, und du mußt morgen zeitig heraus und deine Tiere füttern.«

Die Flucht

Am nächsten Tag lag Sigrun zu Bett und klagte über Halsschmerzen. Kein Mensch außer Lotta durfte zu ihr hereinkommen. Auch bat sie Lotta, ihren Mann darauf vorzubereiten, daß sie lange krank sein werde.

Sie blieb dann den ganzen Tag liegen. Erst nach dem Abendessen, als die Hausbewohner zur Ruhe gegangen waren, stand sie auf, kleidete sich an und kam zu Lotta ins Brauhaus heraus.

»Fühlst du dich jetzt wohler?« fragte diese.

Sigrun lächelte. –»Ja, Lotta, viel wohler,« antwortete sie.

Lotta hatte einen schweren Tag hinter sich. Es war ihr allmählich ein Licht aufgegangen, daß Sigrun ihr Heim verlassen wollte. Und sie hatte sich seitdem unausgesetzt besonnen, wie sie dieses Unglück verhindern könnte.

»Ich habe mir heute etwas ausgedacht,« sagte sie jetzt. »Ich meine, du solltest über Weihnachten heim nach Stenbroträsk fahren. Das wäre viel besser und richtiger, als hier im Brauhaus zu bleiben.«

Sigrun schien nicht ganz abgeneigt zu sein. Zuerst sagte sie nein, aber als Lotta von dem herrlichen Weihnachtsfest in der Propstei zu sprechen begann, war ihr, als sei dieser Vorschlag doch des Überlegens wert.

Auch an diesem Abend wurde es spät. Sigrun saß still da und grübelte über etwas nach, über das sie sich anscheinend nicht recht klar werden konnte, und Lotta wagte nicht, sie zu stören.

Als es einige Minuten nach elf Uhr war, wurde plötzlich die Tür aufgerissen, eine Frau stürzte herein, machte noch ein paar Schritte und sank dann auf den Fußboden, wo sie mit ausgestreckten Händen auf den Knieen liegen blieb.

»Wenn hier Menschen wohnen, dann helft mir!« rief sie. »Ich bin so krank, so krank! Ich habe Feuer im Körper.«

Jetzt war es mit Sigruns Müdigkeit und Kraftlosigkeit vorbei. Im nächsten Augenblick stand sie neben der Frau, half ihr wieder auf die Beine, legte den Arm um sie und stützte sie:

»Kommt mit mir!« sagte sie mit sanfter Stimme. »Kommt um alles in der Welt mit mir zur Lampe hin, damit ich sehe, was Euch fehlt.«

Zitternd vor Kälte und von heftigem Fieber geschüttelt stand die Fremde da. Sie konnte die Füße nicht heben und schleppte sich nur mühsam vorwärts. Und sie wäre wohl ein Mal ums andere umgefallen, wenn Sigrun sie nicht gehalten hätte.

Als Sigrun die Kranke bis zur Lampe hingeführt hatte, sah sie, daß deren Gesicht ganz verschwollen und im höchsten Grad entstellt war. Ganz, ganz dicht bedeckt mit dunkeln, offenen Eiterbeulen! Und an den Händen war es ebenso.

»Lotta!« rief Sigrun mit leiser, zitternder Stimme. »Lotta, was ist das?«

Aber Lotta brauchte ihr nicht zu antworten. Denn Sigrun sah ebensogut wie sie, was für eine Krankheit das war.

Sie wußte wohl auch, daß sie sich in Todesgefahr begab, wenn sie die arme Frau anrührte, aber sie riß ihr doch entschlossen die Kleider herunter, und während Lotta Hedman das Bett zurechtmachte und reine, kühle Bettücher ausbreitete, die dem heißen, schmerzenden Körper wohltun sollten, zog Sigrun der Kranken frische Wäsche an, und bald hatten sie die wimmernde und vor Frost zitternde Frau zu Bett gebracht.

Dann saßen sie bei ihr und bemitleideten sie, während sie sich vor Schmerzen hin und her warf. Sigrun versuchte, ihr Wasser zu geben, aber sie schien nicht schlucken zu können. Dann kehrte die Pfarrfrau zu Lotta zurück, und nun blieben die beiden, angesichts der Macht dieser fürchterlichen Krankheit, Hand in Hand stumm und entsetzt nebeneinander sitzen.

Nach einer Weile atmeten sie etwas auf. Die Kranke wurde zusehends ruhiger, sie schien weniger zu leiden.

Und wieder nach einer Weile, kaum eine Stunde, nachdem sie zu ihnen hereingekommen war, wurde sie ganz still und rührte sich nicht mehr. Die keuchenden Atemzüge waren verstummt.

Die beiden Freundinnen standen auf, legten die Tote im Bett zurecht und drückten sich alsdann, von dem Anblick dieser furchtbar entstellten Toten wie versteinert, von neuem dicht aneinander.

»In einigen Tagen werde ich ebenso aussehen,« dachten sowohl Sigrun als auch Lotta. »Genau so wie diese Frau. Niemand wird mich kennen, niemand wird wissen, daß ich das bin.«

»Wer mag sie sein?« fragte Lotta flüsternd, und Sigrun antwortete ebenso leise, es sei wohl eine arme Obdachlose.

»Ihre Kleider sind nicht gerade schlecht,« sagte sie, »aber sehr abgetragen. Ihre Stiefel sind naß und ausgetreten. Sie muß lange im Schnee gewandert sein, die Krankheit hat sie dann auf der Landstraße überfallen, und sie ist in ihrem Fieberwahn auf den weiten öden Feldern umhergeirrt. Schließlich hat sie wohl der Schein unserer Lampe hierher geführt.«

Wieder saßen sie schweigend da und schauten starr auf die Tote. Und da, da erwachte ein schrecklicher Gedanke in Sigrun.

»Wenn nun ich hier läge!« dachte sie zuerst. »Warum sollte ich es nicht so einrichten können, daß ich es bin?« fuhr sie fort.

Es war, als hätte Lotta Hedman ihre Gedanken gehört. Sie wendete sich plötzlich nach Sigrun um und schaute sie erschrocken und in atemloser Spannung an.

»Niemand weiß, wer sie ist,« begann Sigrun mit einer Stimme, die nicht mehr leise und flüsternd, sondern fest und entschlossen klang. »Niemand weiß, woher sie gekommen ist, niemand hat sie zu uns hereingehen sehen. Sie ist eine arme Wandrerin ohne Haus und Heim.«

 

Lotta sagte kein Wort. Sie wollte nicht verraten, was sie befürchtete. Wenn Sigrun nicht selbst an so etwas dachte, dann war es am besten, sie schwieg.

»Das sind die schwarzen Pocken, das weißt du wohl,« fuhr Sigrun im selben Ton fort. »Jetzt liegt die Tote in meinem Bett, dieses und das ganze Brauhaus muß desinfiziert werden, und wir können nicht mehr hier bleiben. Wir müssen ins Wohnhaus übersiedeln. Es ist ja möglich, daß sie mich angesteckt hat, und daß ich an dieser Krankheit sterbe, und dann wäre ja alles gut. Aber es kann auch sein, daß ich am Leben bleiben muß, und dann bin ich wieder mitten in meinem alten Elend.«

»Aber es wird gewiß jetzt besser nach all dem Schweren, das ihr durchgemacht habt,« sagte Lotta eifrig. »Dein Mann sieht sein Unrecht dir gegenüber ein. Er wird sich mehr zusammennehmen.«

Sigrun stand auf, griff nach der Lampe und trug diese ins Brauhaus.

»Wir wollen die hier nicht stören,« sagte sie.

»Ihr habt noch viele schöne Jahre vor euch,« fuhr Lotta fort. »Sobald ihr nur ein bißchen älter seid, bekommt ihr Ruhe. Und er ist doch ein so prächtiger, tüchtiger, hervorragender Mann.«

Sigrun stand im vollen Lampenschein, und Lotta Hedman sah sie staunend an. In wenigen Minuten war ihre ganze Schönheit wiedergekehrt, ja, mehr als das: strahlender Glanz, Hoheit und Macht lag über ihr. Unabweisbar überkam Lotta das Gefühl, Sigrun sei besser als andere Menschen, und sie müsse vor allen anderen beschützt und geliebt werden.

»Lotta,« sagte Sigrun, »du verstehst doch wohl, daß du nur deshalb von Stenbroträsk hierher geschickt wurdest? Du solltest mir dabei helfen.«

Diese Art Sprache verstand Lotta gut, aber sie ließ sich nicht so leicht fangen.

»Es könnte sich auch anders verhalten,« bemerkte sie. »Vielleicht hab' ich hierher gemußt, um dich daran zu hindern.«

Sigrun bat Lotta, sie möge sich in den einen Korbstuhl setzen; dann kniete sie vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und sagte mit einer von tiefster Überzeugung durchdrungenen Stimme:

»Ich habe Eduard einst gelobt, ihn nicht zu verlassen, bis der Tod uns scheidet. Und deswegen hab' ich ihn auch bis jetzt nicht verlassen. Und diese ganze Woche hindurch hab' ich Gott angefleht, mich lieber sterben zu lassen, als daß ich mein Gelübde zu brechen brauchte. Selbst jetzt, wo es mir vor ihm graut und ich hätte gehen müssen, hat mich dieses Gelübde zurückgehalten. Du verstehst mich, Lotta, nicht wahr?«

Lotta nickte zögernd.

»Jetzt aber, Lotta, jetzt hat Gott meine Gebete erhört. Er hat den Tod zu mir geschickt. Auf diese Weise kann ich gehen, ohne mein Wort zu brechen. Ach, begreifst du denn gar nicht, daß das Gottes Wille ist?«

»Ich will nichts mehr von dieser Sache hören, Sigrun,« entgegnete Lotta, indem sie einen Versuch machte, aufzustehen; aber Sigrun hielt sie in dem Korbstuhl zurück.

»Gott selbst ist es, der mir hilft, Lotta,« sagte sie. »Auf diese Weise kann ich gehen, ohne Eduard unglücklich zu machen. Eduard wird mich betrauern, das glaube ich gewiß, ein oder zwei Jahre wird er um mich trauern, und es wird eine Trauer ohne Bitterkeit sein. Wie aber, wenn ich Eduard jetzt davonliefe? Meinst du, er würde sich zufrieden geben? O nein! Er würde nach mir suchen, und wenn er mich fände, würde er mich vielleicht töten. Und wenn ich mich von ihm scheiden ließe, würde er sich zu Tode grämen. Aber wenn ich aus dem Leben schiede ... Das wäre nur ein Schmerz für ihn. Auf den Tod brauchte er nicht eifersüchtig zu sein. Verstehst du nicht, Lotta, wie viel besser das für ihn wäre, als alles andere?«

»Für ihn,« antwortete Lotta, »das mag sein; aber für dich?«

»Für mich,« sagte die junge Frau mit einem Lächeln, indem schon ein Abglanz des Himmels lag, »für mich ist jetzt alles gut, was für ihn gut ist.«

»Das beste für ihn wäre, dich behalten zu dürfen,« erwiderte Lotta hartnäckig.

»Aber gerade das kann ich eben nicht!« rief Sigrun mit verzweifelter Stimme. »Du weißt nicht, was es heißt, ständig bewacht zu sein, niemals irgendeine Freiheit zu haben. Du weißt nicht, wie entsetzlich diese ewigen Auftritte, Versöhnungen und Gelübde der Besserung sind, die niemals gehalten werden und nur Verdruß und Erbitterung im Gefolge haben. Du weißt nicht, was es heißt, immer fürchten zu müssen, es werde etwas Entsetzliches geschehen, immer zu Notlügen gezwungen zu sein, obgleich man nur tut, was gut und recht ist. Nein, du weißt nicht, was das alles heißt, sonst würdest du mich nicht ermahnen, zurückzukehren!«

»Nein,« sagte Lotta Hedman, »nein, mein liebes Herz. Ich wußte ja nicht, daß du es so schwer gehabt hast. Erst gestern und jetzt hast du mir davon erzählt. Aber gibt es denn keinen anderen Ausweg?«

Die junge Frau stand auf.

»Es gibt einen Ausweg,« sagte sie mit großem Nachdruck. »Gott hat ihn mir gezeigt, aber Lotta Hedman will nicht erlauben, daß ich ihn gehe.«

Kein Mensch kann die geradezu überwältigende Macht von Sigruns Schönheit beschreiben, wenn sie Worte wie diese sagte. Es ging eine Zauberkraft von ihr aus, deren sie sich wohl bewußt war, und die sie niemals so schonungslos und so erfolgreich auszuüben gewagt hatte, wie in dieser Nacht.

»Ich will ja nichts Unrechtes tun, Lotta,« fuhr Sigrun fort. »Ich will in den Krieg ziehen und den Verwundeten helfen. Mein ganzes Trachten geht darauf aus. Ich schäme mich, weil ich hierbleibe und niemand etwas nütze. Du weißt, wie ich mich gerade danach mein ganzes Leben lang gesehnt habe. Gott hat mir geholfen, Lotta. Warum willst du es nicht auch tun?«

Was konnte die arme Lotta Hedman sagen? Noch niemals hatte sie Sigrun so geliebt wie in dieser Nacht. Sie leistete auch nur noch Widerstand, weil sie wußte, daß Sigruns Mann aus einer Selbstmörderfamilie stammte. Vielleicht würde er sich töten, wenn er seine Frau verlor. Aber wie dem auch sein mochte, sie wagte Sigrun nichts davon zu sagen. Denn sie meinte, es würde Sigruns Angst vor ihrem Manne noch steigern.

»Aber du hast doch deine Eltern –« war alles, was sie über die Lippen brachte.

»Ich bin von den Pocken angesteckt und kann jetzt nicht zu meinen Eltern reisen,« sagte Sigrun.

Damit ging sie auf Lotta zu und drückte sie aufs neue in den Korbstuhl nieder.

»Lotta, ich bin sehr unglücklich,« begann sie wieder. »Jeder Tag ist mir eine Qual. Soll ich mein ganzes Leben lang so leiden müssen?«

»Aber Sigrun, warum willst du uns allen einen solchen Kummer bereiten?«

»Kummer?« sagte Sigrun. »Kummer? Was ist das? Trauer um eine Tote? Was ist das? Was ist das im Vergleich zu der Trauer um einen Lebenden? Ich bin gezwungen, um Eduard zu trauern. Erinnerst du dich nicht mehr, was für ein Mann er war, als ich ihn kennen lernte? Er wußte sich zu beherrschen, war glücklich, strebsam. Er war ein guter Prediger, seine Gemeinde liebte ihn. Und jetzt? Siehst du nicht, wie verändert er ist? In der Armut und Einsamkeit hier geht er zugrunde. Ich muß von ihm fort, Lotta. Wäre ich tot, so würde er sich um eine andere Gemeinde bewerben. Und er würde das werden, was er zu werden versprach, ehe er das Unglück hatte, mir zu begegnen.«

»Du kannst mich niemals zu der Ansicht bekehren, du müssest so etwas Entsetzliches tun.«

Sigrun zuckte die Achseln.

»Ich will dir auch nicht vormachen, daß ich es nur seinetwegen tue. Ich tue es, weil ich unglücklich bin und dieses Unglück nicht länger ertragen kann. Ach, Lotta! Wenn ich doch nicht wirklich sterben darf! Ich weiß, das wäre das Beste. Aber das Nächstbeste für mich ist, zu verschwinden. Ich gehe unter, ich werde wahnsinnig! Ich bin vielleicht schon jetzt wahnsinnig.«

»Und mich willst du überreden, dir dabei behilflich zu sein, daß ich dich nie mehr sehen kann?« sagte Lotta in ihrer Verzweiflung. Sie hatte nicht von sich selbst sprechen wollen, aber sie mußte alle Gegengründe anführen, die es gab.