Der Fuhrmann des Todes

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Der Fuhrmann des Todes
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Der Fuhrmann des Todes

Selma Lagerlöf

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Teil 2

Impressum

Teil 1

I

Eine arme junge Heilsarmeeschwester lag im Sterben.

Ihre Tätigkeit hatte sie in die »slums«, die verrufenen Viertel der Stadt, geführt; dann hatte sie die galoppierende Schwindsucht bekommen, und jetzt nach einem Jahre ging es zu Ende. Solange wie irgend möglich war sie ihren gewohnten Pflichten nachgekommen, und als alle ihre Kräfte aufgebraucht waren, schickte man sie in ein Sanatorium. Dort hatte sie einige Monate gelegen und war gut gepflegt worden; aber es wurde nicht besser mit ihr, und als sie schließlich begriff, wie hoffnungslos krank sie war, verlangte sie nach Hause zu ihrer Mutter, die in einer der Vorstädte in einem eigenen Häuschen wohnte. Nun lag sie da in ihrem Stübchen, demselben Stübchen, das sie als Kind und als ganz junges Mädchen bewohnt hatte, und wartete auf den Tod.

Angstvoll und tiefbetrübt saß die Mutter an ihrem Bett; aber sie ging in all der Pflege, deren die Tochter bedurfte, so vollständig auf, daß sie keine Ruhe zum Weinen fand.

Eine andere Heilsarmeeschwester, die Arbeitsgefährtin der Kranken, stand am Fußende des Bettes und weinte ganz leise vor sich hin. Ihre Augen waren voll inniger Liebe auf das Gesicht der Sterbenden gerichtet, und wenn ihr die Tränen den Blick verdunkelten, wischte sie sie mit einer heftigen Bewegung ab.

Auf einem niederen unbequemen Stuhl, den die Kranke besonders lieb gehabt und den sie überall hin mitgenommen hatte, wo auch immer ihre Wohnstätte gewesen war, saß eine hochgewachsene Frau, auf deren Halskragen ein großes H gestickt war. Man hatte ihr einen anderen Sitzplatz angeboten; aber sie blieb eigensinnig auf dem schlechten Stühlchen sitzen, wie wenn sie das für eine Aufmerksamkeit gegen die Kranke hielte.

Der Tag, an dem unsere Erzählung beginnt, war nicht ein Tag wie alle anderen, sondern es war Silvesterabend. Draußen hing der Himmel schwer und grau herab, und so lange man im Zimmer war, meinte man, das Wetter sei unfreundlich und kalt. Wenn man aber hinauskam, fand man es überraschend warm und mild. Auf den Wegen lag kein Schnee, kahl und schwarz verloren sie sich in der Dunkelheit. Ganz vereinzelte Schneeflocken fielen sachte auf die Straße herab, wo sie sofort schmolzen. Es sah aus, als hänge der Himmel voller Schnee, der sich aber nicht recht losmachen könnte, ja es schien fast, als fänden es der Wind und der Schnee nicht der Mühe wert, sich im alten Jahre noch anzustrengen, und als wollten sie lieber ihre Kräfte für das neu heraufziehende Jahr sparen.

Und ungefähr ebenso war es bei den Menschen, auch sie schienen sich nichts mehr vornehmen zu wollen. Auf den Straßen war kein Getriebe und in den Häusern keine eifrige Arbeit im Gang. Gerade vor dem Häuschen, wo die Sterbende lag, war ein Platz, auf dem ein Haus gebaut werden sollte. Am Morgen waren ein paar Arbeiter dahergekommen und hatten den großen Rammbock unter den gewöhnlichen grellen Arbeitsrufen heraufgezogen und wieder hinunterfallen lassen. Aber sie waren der Arbeit bald überdrüssig geworden, und so hatten sie sie eingestellt und waren ihres Weges gegangen.

Und bei allem andern war es gerade so. Eine Zeitlang waren Frauen mit Körben vorübergeeilt, die zum morgigen Feste einkaufen wollten; aber schon nach kurzem hatte diese Geschäftigkeit wieder aufgehört. Kinder, die auf der Straße spielten, waren hereingerufen worden, weil sie ihre Sonntagskleider anziehen und dann zu Hause bleiben sollten. Pferde, die sonst Lastwagen zogen, wurden an dem Häuschen vorbei nach dem am äußersten Ende der Vorstadt gelegenen Stall geführt, damit sie da einen vollen Tag ausruhen konnten. Je weiter der Tag voranschritt, desto stiller wurde es draußen, und so oft wieder irgendeine Art Geräusch verstummte, fühlten die in dem Krankenzimmer Anwesenden eine wahre Erleichterung.

»Wie gut, daß sie beim Herannahen eines Festtages sterben darf!« sagte die Mutter. »Bald hört man nichts mehr, das sie stören könnte.«

Die Kranke hatte schon seit dem Morgen bewußtlos dagelegen, und die drei, die um ihr Lager versammelt waren, mochten sagen, was sie wollten, sie hörte es nicht. Trotzdem sahen alle drei wohl, daß die Leidende nicht in einem starren Schlummer befangen war. Ihr Gesicht hatte während des Vormittags mehrere Male den Ausdruck gewechselt; es hatte überrascht und ängstlich ausgesehen, hatte bald einen flehenden, bald einen äußerst gequälten Ausdruck angenommen; jetzt trug es seit einer guten Weile das Gepräge einer heftigen, zornigen Erregung, die die Züge bedeutender aussehen ließ und sie zugleich auch verschönte.

Die junge Heilsarmeeschwester sah dadurch so verändert aus, daß sich ihre Freundin, die am Fußende des Bettes stand, zu der großen Frau, die auch zur Heilsarmee gehörte, niederbeugte und flüsterte:

»Sehen Sie, Hauptmännin, wie schön Schwester Edith wird! Sie sieht aus wie eine Königin.«

Die hochgewachsene Frau stand von dem niederen Stuhl auf, um besser sehen zu können.

Sie hatte die kranke Heilsarmeeschwester bis jetzt sicherlich noch nie anders als mit der demütig frohen Miene gesehen, die sie, wie müde und krank sie sich auch fühlen mochte, immerfort beibehalten hatte, und sie war jetzt so überrascht über die Veränderung in dem Gesicht der Kranken, daß sie sich nicht mehr niedersetzte, sondern unwillkürlich stehen blieb.

Die Kranke hatte sich mit einer ungeduldigen Bewegung so hoch auf das Kissen hinausgeschoben, daß sie nun halb aufgerichtet im Bett saß. Auf ihrer Stirne lag ein Zug unbeschreiblicher Hoheit, und obgleich sie den Mund geschlossen hielt, sah es aus, als drängen Worte der Strafe und der Verachtung über ihre Lippen.

Die Mutter richtete ihren Blick auf die beiden überraschten Gefährtinnen.

»So abwesend ist sie auch schon in den letzten Tagen gewesen,« sagte sie. »Hat sie nicht für gewöhnlich um diese Tageszeit ihre Runde gemacht?«

Die andere jüngere Heilsarmeeschwester warf einen Blick auf die kleine abgenützte Uhr der Kranken, die auf dem Tischchen neben dem Bett tickte.

»Jawohl,« sagte sie, »um diese Zeit pflegte Schwester Edith zu den Elenden zu gehen.«

Doch sie hielt rasch inne und führte das Taschentuch an die Augen; sobald sie etwas zu sagen versuchte, konnte sie die heißen Tränen fast nicht mehr zurückhalten.

Die Mutter nahm eine der harten kleinen Hände ihres kranken Kindes zwischen die ihrigen und streichelte sie zärtlich.

»Es ist wohl eine allzu schwere Aufgabe für sie gewesen, in diesen Höhlen Sauberkeit und Ordnung zu schaffen und den Armen wegen ihrer Schlechtigkeiten Vorhalte zu machen,« sagte sie mit einem gewissen unterdrückten Ärger in der Stimme. »Wenn man eine zu schwere Aufgabe zu verrichten gehabt hat, gelingt es einem nicht, die Gedanken davon abzuwenden. Sie meint, sie gehe jetzt wieder bei den Verworfenen umher.«

»So geht es einem manchmal auch bei einer Arbeit, die man allzusehr geliebt hat,« warf die Hauptmännin der Heilsarmee leise ein.

Die um das Bett Versammelten sahen jetzt, wie sich die Oberlippe der Kranken kräuselte, wie ihre Brauen zuckten und sich zusammenzogen, so daß sich die senkrechte Falte zwischen ihnen immer mehr vertiefte, und alle drei waren ganz darauf gefaßt, daß die Kranke im nächsten Augenblick die Augen öffnen würde, und daß sie von einem zornflammenden Blick getroffen werden würden.

»Sie sieht aus wie ein Engel des Gerichts,« sagte die Heilsarmeehauptmännin in begeistertem Ton.

»Was können sie denn gerade heute da draußen vorhaben?« fragte Schwester Maria, die Mitarbeiterin der Kranken, indem sie sich zwischen den beiden anderen am Bett Stehenden durchdrängte, so daß sie der Sterbenden beruhigend über die Stirne streichen konnte.

»Du brauchst dich nicht mehr um sie zu bekümmern, Schwester Edith,« fuhr sie fort und strich ihr noch einmal zärtlich über die Stirn. »Liebe Schwester Edith, du hast genug für sie getan.«

Diese Worte schienen die Kraft zu haben, die Kranke von dem im Geiste geschauten Auftritte, der sie offenbar festgehalten hatte, abzulenken. Die Spannung, die hochgradige zornige Erregung wich aus ihren Zügen, und der sanfte leidende Ausdruck, den ihr Gesicht während der Krankheit beständig getragen hatte, kehrte zurück.

Sie öffnete die Augen, und als sie das Gesicht ihrer Mitschwester über sich gebeugt sah, legte sie dieser die Hand auf den Arm und suchte sie näher zu sich heranzuziehen.

Schwester Maria konnte kaum ahnen, was diese leichte Berührung bedeuten sollte, aber sie verstand den flehenden Ausdruck in den Augen der Kranken, und so beugte sie sich dicht zu den Lippen der Kranken herab.

»David Holm!« flüsterte die Sterbende.

Schwester Maria schüttelte den Kopf; sie war nicht ganz sicher, ob sie recht gehört hatte.

Da strengte sich die Kranke aufs äußerste an, um sich verständlich zu machen, und sie sprach nun die Worte ganz langsam mit einer kleinen Pause zwischen jeder Silbe aus.

»Laß Da–vid – Holm – ho–len!«

Dabei hielt sie die Augen unverwandt auf die Freundin gerichtet, bis sie sicher war, daß diese sie verstanden hatte. Dann legte sie sich wieder zurück, wie um zu ruhen; und schon nach ein paar Minuten war ihr Geist wieder fortgewandert, und sie war nun offenbar bei einem verhaßten Auftritt gegenwärtig, der ihre Seele mit Zorn und Angst erfüllte.

 

Die Heilsarmeeschwester richtete sich aus ihrer vorgebeugten Stellung auf. Jetzt weinte sie nicht mehr, sie war von einer Gemütsbewegung ergriffen, die mächtiger war als die Tränen.

»Schwester Edith will, daß wir David Holm holen lassen,« sagte sie.

Aber mit diesem Wunsche schien die Kranke etwas ganz Entsetzliches begehrt zu haben. Die große grobknochige Hauptmännin wurde nun ebenso erregt wie die anwesende Freundin.

»David Holm!« wiederholte sie. »Das ist doch wohl nicht möglich! Zu einer Sterbenden kann man David Holm nicht kommen lassen.«

Die Mutter der Kranken hatte bisher still am Bett gesessen und hatte auch gut gesehen, wie sich in dem Gesicht ihrer Tochter die entrüstete Richtermiene Bahn brach. Jetzt wendete sie sich an die beiden ratlosen Frauen und fragte, was es gebe.

»Schwester Edith verlangt, daß wir David Holm herbeiholen,« klärte sie die Hauptmännin auf. »Aber wir wissen nicht, ob das angeht.«

»David Holm?« fragte die Mutter der Kranken in unsicherem Ton. »Wer ist David Holm?«

»Es ist einer von denen, die Schwester Edith in ihrem Bezirk sehr viel Not und Arbeit gemacht haben, und um den sie sich besonders bemüht hat; aber der Herr hat sie keine Macht über ihn gewinnen lassen«

»Ach, Hauptmännin, vielleicht ist es Gottes Absicht, gerade jetzt in diesen letzten Stunden durch sie zu wirken!« sagte Schwester Maria zögernd.

Doch die Mutter sah die Freundin ihrer Tochter unfreundlich an und sagte:

»Ihr habt ja meine Tochter so lange gehabt, als noch ein Funke von Leben in ihr war. Darum könntet ihr sie wenigstens jetzt, wo es zum Sterben geht, mir überlassen.«

Damit war die Sache entschieden, und Schwester Maria nahm ihren vorigen Platz am Fußende des Bettes wieder ein. Die Hauptmännin ließ sich wieder auf dem kleinen Stuhl nieder, schloß die Augen und versank in ein leise gemurmeltes Gebet. Ab und zu drang ein etwas lauteres Wort an das Ohr der andern, und sie verstanden, daß die Hauptmännin Gott bat, die Seele der jungen Schwester in Frieden von dieser Welt abscheiden zu lassen, ohne daß sie noch von den Pflichten und Sorgen, die der Welt der Prüfungen angehörten, gequält würde.

Als die Heilsarmeeoffizierin so im Gebet versunken dasaß, wurde sie plötzlich aus ihrer Andacht gerissen, weil ihr die junge Heilsarmeeschwester die Hand auf die Schulter legte.

Sie schaute hastig auf und sah, daß die Kranke noch einmal zum Bewußtsein gekommen war. Aber jetzt sah sie nicht mehr so freundlich und demütig aus wie zuvor. Etwas drohend Düsteres lag auf ihrer Stirne.

Die junge Schwester beugte sich rasch über die Sterbende und hörte nun ganz deutlich die vorwurfsvolle Frage:

»Schwester Maria, warum hast du David Holm nicht holen lassen?«

Höchst wahrscheinlich war die Freundin auf dem Punkt, Einwendungen zu machen, aber in den Augen der Kranken stand ein Ausdruck, der sie zum Schweigen zwang.

»Ich werde ihn zu Schwester Edith holen,« sagte sie dann, und sich wie entschuldigend an die Mutter wendend, fuhr sie fort: »Ich habe Edith nie etwas abschlagen können, wenn sie mit einer Bitte zu mir kam, und ich kann es auch heute nicht.«

Da schloß die Kranke die Augen mit einem Seufzer der Erleichterung, und die junge Heilsarmeeschwester verließ die kleine Kammer, in der nun dieselbe Stille herrschte wie zuvor. Die Heilsarmeehauptmännin verharrte angsterfüllt in stillem Gebet. Die Brust der Sterbenden arbeitete immer härter, und die Mutter rückte näher an das Bett heran, wie um einen Versuch zu machen, ihr armes Kind vor Qualen und dem Tod zu beschützen.

Nach einer kleinen Weile schaute die Kranke wieder auf. Ihr Gesicht trug noch immer denselben ungeduldigen Ausdruck; aber als sie den Platz, wo die Freundin gestanden hatte, leer sah und also begriff, daß ihr Wunsch auf dem Wege der Erfüllung war, brach sich in ihren Zügen ein weicherer Ausdruck Bahn. Sie machte keinen Versuch mehr zu sprechen und versank auch nicht wieder in die frühere Bewußtlosigkeit, sondern hielt sich wachend.

Jetzt hörte man die äußere Tür gehen, und da richtete sich die Sterbende beinahe aufrecht im Bett auf. Gleich darauf erschien Schwester Maria an der Tür, an der sie aber nur einen ganz kleinen Spalt öffnete.

»Ich wage nicht hereinzukommen, denn ich bin zu kalt,« sagte sie. »Würden Sie nicht so gut sein, einen Augenblick zu mir herauszukommen, Hauptmännin Andersson?«

Sie sah wohl, wie erwartungsvoll die Augen der Kranken auf sie gerichtet waren, und so fügte sie noch hinzu:

»Ich hab ihn nicht finden können, bin aber mit Gustavsson und ein paar anderen von den unsrigen zusammengetroffen, und sie haben mir versprochen, ihn herbeizuschaffen. Wenn es überhaupt möglich ist, so bringt ihn Gustavsson zu dir, Schwester Edith.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als die Sterbende schon wieder die Augen schloß und wieder in den hellseherischen Zustand versank, in dem sie schon den ganzen Tag befangen gewesen war.

»Sie sieht ihn ganz gut,« sagte die Heilsarmeeschwester, und ihre Stimme hatte einen etwas entrüsteten Klang; aber sie faßte sich rasch und fuhr fort: »Halleluja, es ist kein Unglück, wenn das geschieht, was Gottes Wille bestimmt hat.«

Damit zog sie sich leise ins äußere Zimmer zurück, und die Hauptmännin folgte ihr dahin.

Da draußen stand eine Frau, die kaum dreißig Jahre alt sein mochte, aber ein so graues und gramdurchfurchtes Gesicht, so dünnes Haar und eine so abgemagerte Gestalt hatte, daß sie viel älter und gebrochener aussah als manche hochbetagte Greisin. Überdies war sie äußerst ärmlich gekleidet, und es sah fast aus, als hätte sie sich in ihre jämmerlichsten Lumpen gehüllt, weil sie die Absicht gehabt hatte, zu betteln.

Als die Heilsarmeehauptmännin diese Frau betrachtete, stieg plötzlich ein heftiges Angstgefühl in ihr auf. Nicht die Lumpen, in die das Weib gehüllt war, und nicht die vorzeitig gealterte Gestalt waren das Schlimmste an der ganzen Erscheinung, sondern die starre Teilnahmlosigkeit ihrer Gesichtszüge. Diese Frau war allerdings ein Mensch, der sich bewegte, der ging und stand, aber sie schien durchaus keine Kenntnis davon zu haben, wo sie sich befand. Sie hatte offenbar so entsetzlich gelitten, daß ihre Seele jetzt vor eine Art Wendepunkt stand; im nächsten Augenblick schon konnte der Wahnsinn ausbrechen.

»Dies ist David Holms Frau,« sagte die junge Heilsarmeeschwester. »Ich habe sie in diesem Zustand in ihrer Wohnung gefunden, als ich den Mann holen wollte; da wagte ich nicht, sie allein zu lassen, und so nahm ich sie mit hierher.«

»Ist das David Holms Frau?« rief die Heilsarmeehauptmännin. »Ich muß sie bestimmt früher schon gesehen haben, kann mich aber nicht erinnern, wo. Was mag ihr denn geschehen sein?«

»O, man sieht wohl, was ihr geschehen ist,« erwiderte Schwester Maria heftig, wie von übermächtigem Zorn erfaßt. »Der Mann quält sie einfach zu Tode.«

Die Heilsarmeehauptmännin betrachtete die Frau immer wieder prüfend: Die Augen der Unglücklichen standen weit offen, und die Pupillen starrten fortgesetzt geradeaus ins Leere. Sie hielt die Hände zusammengepreßt, einige ihrer Finger drehten sich unaufhörlich umeinander, und ab und zu drang ein schwaches zitterndes Stöhnen über ihre Lippen.

»Was hat er ihr getan?« fragte die Hauptmännin.

»Ich weiß es nicht,« antwortete die junge Schwester. »Als ich kam, saß sie auf einem Stuhl und stöhnte gerade wie jetzt. Die Kinder waren nicht daheim, und so konnte ich niemand fragen. Ach, du lieber Gott, daß dies auch gerade heute kommen muß! Wie soll ich jetzt für sie sorgen, wenn ich doch an nichts anderes denken kann als an Schwester Edith.«

»Er hat sie wohl geschlagen?« fragte die Hauptmännin.

»Ach, es muß etwas viel Schlimmeres gewesen sein. Ich habe oft solche gesehen, die geschlagen worden waren, aber so sahen sie nicht aus. Nein, nein, es muß etwas viel Schlimmeres gewesen sein,« wiederholte sie mit zunehmendem Entsetzen. »Wir haben ja auf Schwester Ediths Gesicht gesehen, daß etwas Furchtbares geschehen ist.«

»Allerdings,« stimmte jetzt auch die Hauptmännin bei. »Nun können wir auch verstehen, daß sie das gesehen hat. Und Gott sei Dank, daß Schwester Edith es gesehen hat, dadurch bist du, Schwester Maria, noch hingekommen, ehe es zu spät war. Ja, Gott sei Lob und Dank! Es ist sicher seine Absicht, daß wir ihren Verstand vor dem Untergang bewahren sollen.«

»Aber was soll ich denn mit ihr anfangen?« fragte Schwester Maria. »Sie folgt mir wohl, wenn ich sie bei der Hand nehme, aber sie hört nicht, was ich sage. Die Seele ist entflohen, wie sollen wir sie wieder einfangen? Ich habe keine Macht über sie. Vielleicht gelingt es Ihnen besser, Hauptmännin Andersson.«

Die hochgewachsene Hauptmännin nahm das arme Weib bei der Hand und redete mit ihr; sie versuchte es mit freundlichen und versuchte es mit strengen Worten, aber auf dem Gesicht der Ärmsten zeigte sich keine Spur von Bewußtsein.

Mitten unter diesen fruchtlosen Bemühungen steckte die Mutter der Kranken den Kopf durch die Tür und sagte:

»Edith wird unruhig; es wäre gut, wenn Sie wieder hereinkämen.«

Die beiden Heilsarmeeschwestern eilten zurück in die kleine Kammer, wo sich die Kranke jetzt unruhig in ihrem Bett hin und her warf. Aber ihre Aufregung schien viel eher von einer seelischen Anfechtung als von körperlichen Leiden herzukommen. Sie wurde auch sofort ruhiger, als sie ihre beiden Freundinnen auf den gewohnten Plätzen sah, und ihre Augen schlossen sich aufs neue.

Die Hauptmännin machte Schwester Maria ein Zeichen, bei der Kranken zu bleiben, sie selbst aber stand leise auf, um sich wieder hinauszuschleichen. In demselben Augenblick öffnete sich indes die Tür, und David Holms Frau trat ein.

Sie näherte sich dem Bett der Kranken und blieb da mit ausdrucklosen starren Augen stehen, sie schauderte und stöhnte noch immer wie zuvor und verdrehte ihre harten Finger, daß sie in den Gelenken knackten. Eine gute Weile war nicht zu merken, ob sie wußte, was sie vor sich sah, aber ganz allmählich milderte sich die Starrheit ihres Blicks. Sie beugte sich vor und neigte ihr Gesicht immer tiefer über die Sterbende.

Dann aber bemächtigte sich etwas Drohendes, Unheimliches der Frau. Ihre Finger öffneten sich und krallten sich wieder zusammen, und die beiden Heilsarmeeschwestern sprangen voller Angst, sie würde sich auf die Sterbende stürzen, rasch auf.

Nun schlug die junge sterbende Schwester die Augen auf, und ihr Blick fiel auf die fürchterliche, halb wahnsinnige über sie gebeugte Gestalt. Da richtete sie sich im Bett auf, umschlang sie mit beiden Armen, zog sie mit der ganzen Kraft, deren sie noch fähig war, zu sich herab und küßte sie, küßte sie auf Stirne, Wangen und Mund, während sie dabei flüsternd hervorbrachte:

»Ach, arme Frau Holm! Arme, arme Frau Holm!«

Die arme vom Unglück geschlagene Frau schien zuerst zurückweichen zu wollen, aber dann lief ein Zittern durch ihren Körper. Sie brach in heftiges Schluchzen aus und sank, den Kopf noch immer dicht an der Wange der Sterbenden, neben dem Bett in die Knie.

»Sie weint, Schwester Maria, sie weint!« flüsterte bewegt die Hauptmännin. »Sie wird nicht wahnsinnig.«

Schwester Maria preßte die Hand fest um das mit Tränen getränkte Taschentuch und erwiderte mit einer verzweiflungsvollen Anstrengung, ihre Stimme fest zu machen:

»Sie allein kann so etwas tun, Hauptmännin Andersson. Ach, was wird aus uns werden, wenn sie nicht mehr da ist!«

Im nächsten Augenblick fingen die beiden einen flehenden Blick von der Mutter der Kranken auf und verstanden ihn.

»Ja gewiß, wir müssen sie fortschaffen,« sagte die Hauptmännin. »Und es wäre wohl auch nicht gut, wenn sie der Mann hier anträfe, falls er noch kommen sollte. Nein, nein, Schwester Maria,« fuhr sie fort, als die junge Heilsarmeeschwester gleich das Zimmer verlassen wollte, »bleibe du hier bei deiner Freundin, ich werde für sie sorgen.«

II

An demselben Silvesterabend, aber so spät, daß es finstere Nacht ist, sitzen drei Männer in der kleinen Anlage, die die Stadtkirche umgibt, und trinken eifrig Bier und Branntwein.

Die drei haben sich unter einer Lindengruppe, deren schwarzes Geäste vor Feuchtigkeit glänzt, auf einem verdorrten Rasenplatz niedergelassen. Zuvor haben sie in einem Bierkeller gesessen; aber da dieser zur Polizeistunde geschlossen worden ist, machen sie nun im Freien fort. Sie wissen recht wohl, daß es Silvesterabend ist, und gerade deshalb haben sie sich hierher in die Kirchenanlagen begeben. Sie wollen nämlich der Kirchturmuhr so nahe sein, daß sie es ganz sicher hören, wenn es Zeit ist, Prosit Neujahr zu rufen und darauf anzustoßen.

 

Die drei Zechbrüder sitzen da nicht im Dunkeln, sondern sind von dem Schein, den die hohen elektrischen Lampen der anstoßenden Straßen auf die Kirchenanlage werfen, ziemlich hell beleuchtet. Zwei von ihnen sind von kleiner Gestalt, alt und abgelebt, ein paar unglückliche Landstreicher, die sich in die Stadt geschlichen haben, um ihre erbettelten Kupfermünzen zu vertrinken. Der dritte ist ein Mann im Anfang der Dreißiger. Auch er ist wie die andern sehr unordentlich gekleidet, aber groß und gut gewachsen und scheint noch im Besitze seiner vollen ungebrochenen Kraft zu sein.

Sie haben Angst, hier von einem Schutzmann entdeckt und fortgejagt zu werden, und um sich recht leise, ja fast flüsternd unterhalten zu können, sitzen sie ganz nahe beieinander. Der jüngere von ihnen führt das Wort, und die beiden andern hören ihm so aufmerksam zu, daß sie die Flaschen schon eine gute Weile ganz unberührt neben sich liegen lassen haben.

»Ich habe einmal einen Kameraden gehabt,« sagt der Sprecher, und seine Stimme hat dabei einen ernsten, fast geheimnisvollen Klang, während ein arglistiger Funke in seinen Augen aufleuchtet, »der am Silvesterabend immer wie umgewandelt war. Nicht etwa, daß er an diesem Tag große Berechnungen angestellt hätte und etwa von dem Jahresverdienst unbefriedigt gewesen wäre; o nein, sondern weil er gehört hatte, daß einem an diesem Tag etwas Fürchterliches und Unheimliches widerfahren könnte. Ich versichere euch, ihr Herren, daß er sich an dem Tag vom Morgen bis Abend ganz still und ängstlich verhielt und von einem Schnaps nicht einmal etwas hören, geschweige denn einen trinken wollte. Sonst war er gar kein Spielverderber, aber es wäre vollständig unmöglich gewesen, ihn an einem Neujahrsabend zu so einem kleinen Spaß wie diesem hier verleiten zu wollen, gerade wie es für euch, ihr Herren, eine Unmöglichkeit wäre, mit dem Landeshauptmann Schmollis zu trinken.

Ja so, meine Herren, ihr fragt, wovor er sich denn gefürchtet habe? Ja, das war nicht so leicht aus ihm herauszubringen, aber einmal hat er sich doch verschnappt. Aber ihr möchtet es wohl heute lieber nicht hören, wie? Es ist ein wenig gruselig in so einer Kirchenanlage, die einstens sicher ein Kirchhof gewesen ist, oder meint ihr etwa nicht?«

Die beiden Landstreicher erklären natürlich sofort, daß sie von Gespensterfurcht nichts wüßten, und so fährt der dritte fort:

»Er, von dem ich spreche, stammte von besseren Leuten ab. Er hatte einstens auf der Universität zu Upsala studiert, so daß er ein bißchen mehr wußte als wir. Und seht nun, ihr Herren, am Neujahrsabend hielt er sich vollständig nüchtern, nur damit er nicht zufällig in eine Schlägerei verwickelt werden oder ihm sonst ein Unglück zustoßen sollte, das ihm an diesem Tag das Leben kosten könnte. An jedem andern Tag wäre ihm das ziemlich einerlei gewesen; aber an einem Neujahrsabend durfte ihm nichts Tödliches zustoßen, denn er glaubte, daß er sonst gezwungen wäre, den Totenkarren zu fahren.«

»Den Totenkarren?« wiederholen die beiden Zuhörer zugleich in fragendem Tone.

Der große Mann macht sich ein Vergnügen daraus, die Neugier seiner Gefährten aufzustacheln, indem er noch einmal fragt, ob sie denn auch wirklich in Anbetracht des Platzes, wo sie säßen, die Geschichte hören wollten; aber sie verlangten eifrig die Fortsetzung, und so nimmt der andere wieder das Wort.

»Nun also, dieser mein Kamerad behauptete ganz fest, es gäbe einen alten, alten Karren von der Art wie ihn die Bauern gebrauchen, wenn sie ihre Waren auf den Markt fahren, er sei aber in so trostlosem Zustande, daß er sich eigentlich auf einer Landstraße gar nicht sehen lassen dürfte. Erstens sei er von Lehm und Straßenstaub so überzogen, daß man kaum noch sehen könne, aus welchem Material er gemacht sei. Dann seien die Räderachsen gebrochen, die Radkränze säßen so lose, daß sie klapperten, die Räder seien seit Ewigkeit nicht geschmiert worden und knirschten und ächzten, daß es einen verrückt machen könnte. Der Karrenboden sei verfault und der Polstersitz zerlumpt und die halbe Einfassung um den Wagensitz sei weggerissen. Zu dem Karren gehöre ein alter, alter Gaul, eine einäugige Schindmähre, die so mager sei, daß das Rückgrat wie ein Sägeblatt unter der Haut aufrage und man alle ihre Rippen zählen könne. Sie sei steifbeinig und faul und störrisch und bewege sich nicht rascher als ein Kind, das auf dem Boden kriecht. Und zu dem Gaul gehöre ein Geschirr, das ganz abgeschabt und zerfressen sei und alle seine Schnallen und Haken verloren habe, so daß die Riemen jetzt nur noch mit alten Schnüren und Birkenweiden zusammengebunden seien. Nicht ein einziger silberner oder messingener Beschlag sei noch daran, nur noch ein paar spärliche, schmutzige Garntroddeln, die mehr zur Unzier als zur Zier dienten. Und die Leitseile paßten genau zum Geschirr, denn sie bestünden aus lauter Knoten, einer am andern, und seien so oft wieder zusammengeknüpft worden, daß nun niemand mehr etwas daran ausbessern könnte.«

Hier schweigt der Erzähler und streckt die Hand nach der Flasche aus, vielleicht hauptsächlich um den Zuhörern Zeit zu lassen, sich so recht klar zu machen, was sie gehört haben.

Dann nimmt er wieder das Wort und sagt:

»Nun, ihr Herren, das klänge vielleicht nicht so gar merkwürdig; aber sehet, die Sache ist die, daß zu diesem Geschirr und den lumpigen Zügeln auch ein Fuhrmann gehört, der gebückt und jammervoll auf dem wackeligen Brett sitzt und den alten Gaul lenkt. Er hat blauschwarze Lippen und fahle Wangen, und die Augen sind dunkel und wie ein zerbrochener Spiegel. Er trägt einen langen, schwarzen, verfleckten Mantel mit einer großen Kapuze, die er tief ins Gesicht hereingezogen hat, und in der Hand hält er eine rostige schartige Sense an einem langen Stiel. Und seht, ihr Herren, der Mann, der da auf dem Karren sitzt und den Gaul an den zerlumpten Zügeln lenkt, ist kein gewöhnlicher Fuhrmann, sondern steht im Dienst eines gestrengen Herrn, der der Tod genannt wird. Tag und Nacht muß dieser Fuhrmann die Aufträge seines Herrn ausrichten. Versteht ihr wohl, ihr Herren, sobald es bei jemand ans Sterben geht, muß er zur Stelle sein, und dann kommt er auch mit seinem knirschenden alten Karren dahergerasselt, so rasch, wie der lahme Gaul den Karren nur zu ziehen vermag.«

Wieder macht der Erzähler eine Pause und versucht, die Gesichter seiner Kameraden zu unterscheiden, und als er merkt, daß sie ganz so aufmerksam sind, wie er überhaupt verlangen kann, fährt er fort:

»Ihr habt doch gewiß schon irgendein Bild gesehen, das den Tod vorstellen soll, und da habt ihr wohl gemerkt, daß er meistens zu Fuß geht. Aber dieser hier auf dem Karren ist auch nicht der Tod selbst, sondern nur sein Fuhrknecht. Seht, man könnte sich ja denken, daß so ein hoher Herr vielleicht nur die vornehmste Ernte bergen wollte, und für die kleinen erbärmlichen Gräser und Kräuter, die am Wegrand stehen, für die muß dann der Fuhrknecht sorgen. Aber nun, ihr Herren, nun gebt wohl acht, denn jetzt kommt das Allermerkwürdigste an der ganzen Geschichte. Ja, es scheint sich nämlich so zu verhalten, daß bei diesem Geschäft zwar immer derselbe Karren von demselben Gaul gezogen wird, der Fuhrknecht dagegen nicht immer derselbe bleibt. Der letzte Mensch, der in dem laufenden Jahre stirbt, also der Mensch, der in dem Augenblick den Geist aufgibt, wo die Glocke in der Neujahrsnacht die Mitternacht verkündigt, ist zum voraus dazu bestimmt, der Fuhrknecht des Todes zu werden. Sein Leichnam wird zwar begraben, wie der aller anderen Toten auch, aber sein Geist muß den Mantel anziehen und ein ganzes Jahr lang mit der Sense von Haus zu Haus fahren, wo immer ein Toter liegt, bis er in der nächsten Neujahrsnacht endlich abgelöst wird.«

Der Erzähler schweigt und betrachtet die beiden andern mit einem boshaft erwartungsvollen Blick. Er sieht, daß sie die Augen nach oben gerichtet haben und sich vergeblich bemühen, herauszubringen, welche Zeit die Zeiger der Turmuhr angeben.