Wieso Heimat, ich wohne zur Miete

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Sechstes Kapitel, in dem Krishna Mustafa zum Sommerfest der deutschen Gemeinde geht, sein Leichenhemd gesegnet wird und er seine zweite Tafel dunkle türkische Schokolade probiert

Ich suche im Internet nach Beschäftigungen, die keine Touristen anziehen. Touristen wollen ja im Urlaub meistens dasselbe machen, was sie zu Hause machen, nur mehr davon. Sie wollen mehr trinken, mehr feiern, mehr fernsehen, mehr essen, mehr Sex haben und mehr nichts tun. Aber sie wollen auch die Wahrzeichen der Stadt sehen, ihre Museen und Ruinen und all das. Ich glaube, man sagt Touristenmagnet dazu. Aber in erster Linie sind wahrscheinlich die Touristen magnetisch. Die ziehen sich alle gegenseitig an. Und dort, wo sie sich am dollsten anziehen, wurden früher berühmte Gebäude errichtet. Da machen die Touristen dann Fotos, wo sie selber mit drauf sind. Sie kennen die Gebäude nämlich schon von vielen Fotos und wissen, dass es zwar schon genug Bilder davon gibt (Tausende Bilder), aber noch keine mit ihnen drauf.

Wenn du etwas über den Wald lernen möchtest, fragst du dann einen Baum oder fragst du die Vögel? hat Isa gesagt. Ich glaube, er hat das rhetorisch gemeint. Ein Baum kann ja seine Wurzeln nicht sehen. Der Vogel kann die Wurzeln des Baumes aber auch nicht sehen. Isa hat die Maulwürfe und die Regenwürmer vergessen, die Erde und das Wasser.

Die Vögel, die Vögel sind vielleicht die Deutschen, überlege ich. Die fliegen hierher und singen dann ihre Lieder.

Die deutsche Gemeinde in Istanbul veranstaltet ein Sommerfest in Nişantaşı, das ist nicht so weit weg von mir. Alle mit einem Bezug zu Deutschland sind herzlich eingeladen. Das Fest findet heute statt. Manchmal ist es so, als wäre das Leben Lego. Alle Teile passen zusammen.

Manchmal ist das Leben aber auch wie eine Scherbe, die ganz hinten unter den Küchenschrank gerutscht ist. Alle Teile, die passen könnten, sind schon längst im Müll. Und man hat trotzdem etwas, das Glück bringt.

Als Kind bin ich mit meiner Oma in Offenburg ein paarmal auf dem Gemeindefest ihrer Kirche gewesen. Da waren ganz viele alte Frauen, die einem erzählten, wie groß man geworden ist, und die paar anderen Kinder trugen Brillen oder Pullunder, waren dick oder still und jedes hatte ein Tamagotchi, nur ich nicht.

Hier sind mehr Kinder, sie haben iPads oder Smartphones, hier sind mehr junge Eltern, es ist voll und alle scheinen sich zu amüsieren. Ich gehe ein wenig herum, und noch bevor ich jemanden ansprechen kann, fragt mich eine Dame auf Türkisch, was ich denn hier mache.

Ich bin neu in Istanbul, sage ich auf Deutsch, ich war neugierig, wie es hier wohl ist. Und was machen Sie hier?

Ich bin Vorsitzende der Brücke, sagt sie.

Der Bosporus-Brücke?

Nein, des Vereins. Kennen Sie den noch nicht? Wir wollen ein Bindeglied zwischen den Ländern, Menschen, Kulturen und Sprachen schaffen, deshalb der Name Brücke.

Ah, sage ich, ich verstehe. Wie lange sind Sie denn schon hier?

44 Jahre, sagte sie, im Oktober werden es 44 Jahre. Eine lange Zeit, um immer zwischen zwei Kulturen zu leben.

Sie können gut Deutsch, sage ich.

Das verlernt man nicht so schnell, erwidert sie. Und wissen Sie schon, wie lange Sie bleiben möchten?

So ungefähr ein halbes Jahr.

Was machen Sie denn hier?

Ich bin auf der Suche nach meinen Wurzeln.

Es gibt keine Wurzeln, sagt sie, das Leben ist für uns eine Brücke, auf der man die ganze Zeit hin- und herfährt, bis man keinen Sprit mehr hat. Man kommt nicht an.

Ich hatte nie das Gefühl, irgendwo hin- und herzufahren. Und einen Führerschein habe ich auch nicht.

Aber ich will wissen, was unter der Brücke ist, sage ich.

Obdachlose, sagt sie, unter der Brücke sind immer nur Obdachlose, die keine Heimat mehr haben, die runtergefallen sind. Wir, wir fahren zum Glück noch, sagt sie und nimmt noch einen Schluck von ihrem Sekt.

Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus, sagt meine Mutter immer. Ich möchte noch fragen, wie das dann wäre, wenn man mit der Fähre auf die andere Seite fährt oder fliegt, statt über die Brücke zu gehen, doch sie winkt jemandem, den sie wohl kennt, sagt Moment und verschwindet in der Menge.

Bald darauf setze ich mich mit einem Stück Schokokuchen vom Buffet und einem Kaffee an einen Tisch. Ich höre zu, wie ein Lehrer sich mit einer zukünftigen Kollegin unterhält, die noch neu in Istanbul ist und im neuen Schuljahr an der Deutschen Schule anfängt. Er schwärmt von seiner Wohnung in Cihangir mit Blick auf das Goldene Horn. Sie erzählt von dem ganzen Papierkram, den sie für ihre Aufenthaltsberechtigung zu erledigen hatte.

Ich weiß, sagt der Mann, ich habe das alles letztes Jahr schon hinter mich gebracht. Nie sind alle Papiere komplett, es fehlt immer noch irgendeine notarielle Beglaubigung, ohne Steuernummer gibt es keine Krankenversicherungsnummer, ohne Krankenversicherungsnummer keine Steuernummer, es ist mühselig. Und mit Englisch kommt man nicht weit.

Ja, sagt die Frau, es ist das Ausländeramt, aber niemand dort kann irgendeine Fremdsprache.

Das gehört sich so für ein Ausländeramt, sage ich. Meine Mutter hat mich früher regelmäßig mit irgendwelchen Leuten aufs Amt geschickt, damit ich für sie übersetze. Das war ihr wichtig, dafür durfte ich sogar Schule schwänzen.

Wir bekommen ja jemanden von der Schule gestellt, sagt die Frau, sonst wäre das unmöglich, diese Aufenthaltsberechtigung zu bekommen.

Für was für Leute haben Sie denn übersetzt? fragt der Mann.

Flüchtlinge, sage ich, Asylanten, von Abschiebung Bedrohte, welche mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus. Meine Mutter war ja ehrenamtlich bei FFB.

FBB?

Eine Flüchtlingsorganisation.

Deutsche Flüchtlinge?

Nein, Türken.

Sie haben für Türken übersetzt? Aber die können doch schon Türkisch.

Ja, Türken können Türkisch. Aber bei der Ausländerbehörde arbeiten ja nur Deutsche.

Bei welcher Ausländerbehörde? Wo sind Sie denn bitte gewesen?

In Freiburg.

Ach so … Jetzt verstehe ich.

Ach so. Emre hatte gesagt, ich soll darauf achten. Ach so.

Weder der Schokokuchen noch der Kaffee schmecken, also lasse ich beides stehen und kaufe später auf dem Heimweg im Supermarkt eine Tafel dunkle Schokolade. Eine andere Marke als letztes Mal. Doch die schmeckt auch nicht. Überhaupt nicht. Warum gibt es hier dunkle Schokolade, wenn sie nicht schmeckt? Die Schokolade schmeckt schlimmer als Cadbury. Wieso kaufen die Leute das? Oder weiß hier jeder Bescheid und die Schokolade steht nur im Regal, damit Leute wie ich sie kaufen? Leute, die sich mit der heimischen Schokolade nicht auskennen? Ich verstehe es nicht.

Ich verstehe vieles noch nicht. Als ich nach Hause komme, sitzt Yunus vor der Konsole und spielt GTA.

Yunus, was ist eigentlich Hirschplauderei? frage ich ihn.

So sagen wir für leeres Gelaber ohne Inhalt, antwortet er.

Ach so, sage ich. Und was bedeutet kefen?

Leichenhemd.

Aha.

Das sagt der Verkäufer am Kiosk unten immer, wenn ich etwas kaufe, kefene bereket. Ich wusste, etwas wurde gesegnet, aber nicht was. Segen deinem Leichenhemd. Das sagen sie wahrscheinlich, damit man sein Geld ausgibt, bevor man tot ist. Vielleicht ist dafür die Schokolade da. Nicht, damit man sie isst, sondern damit man eine Gelegenheit hat, Geld auszugeben.

Der Chor der Einäugigen stellt sich vor und erzählt die Geschichte, wie ein Teppichhändler über den Tisch gezogen und ein Esel verkauft wird

Schamlos, wie ihr seid, werdet ihr wissen wollen, was denn der Chor der Einäugigen hier soll. Was hat er zu tun mit Krishna Mustafa und was mit unserer Geschichte, die im Pudding Shop ihren Anfang nahm?

Ihr werdet großen Nutzen aus dem Chor ziehen, auch wenn der Einäugige nicht König ist im Land der Blinden, wie gerne behauptet wird. Im Land der Blinden ist der Einäugige der Einzige, der sich nicht im Dunkeln zurechtfindet. Er ist derjenige, der sich am Tisch stößt, an der Tür, derjenige, der den Weg nicht findet, derjenige, der nach Licht fragt, wenn alle anderen keines brauchen. Der Einäugige ist eine bemitleidenswerte Figur im Land der Blinden, weil er ihnen nichts erzählen kann, das von Wert wäre in ihrer Welt. Er ist derjenige, der sich im Dunkeln beim Kochen in die Finger schneidet und stolz darauf ist, dass er Tag und Nacht unterscheiden kann.

Doch der Chor der Einäugigen, liebe Leser, wird euch großen Gewinn bringen, denn er kennt Geschichten. Liebesgeschichten, Gruselgeschichten, Biografien, Fabeln, Märchen, Parabeln, Allegorien und Keinegorien. Die Geschichten des Chors sind wahre Geschichten. Dafür bürgen wir mit unseren Stimmen. Wahre Geschichten wie die folgende, in der ein Amerikaner, ein Türke und ein Esel die Hauptrollen spielen:

Der Amerikaner war ein Experte auf dem Gebiet des Orientteppichs, einer, der schon mehrere Bücher darüber veröffentlicht hatte. Er kam in die Türkei und wohnte bei einem befreundeten einäugigen Türken in Istanbul. Tagsüber zog er allein in die Stadt und abends kam er heim und hatte Teppiche gekauft. Stolz zeigte er sie dem Einäugigen und sagte: Dieser hier ist 12.000 Dollar wert, aber ich habe ihn für 4.000 gekauft. Dieser hier ist 800 Dollar wert, aber ich habe nur 300 dafür bezahlt. Diesen hier kann ich zu Hause für 2.000 verkaufen, aber ich habe den Händler immerhin auf 1.400 runtergehandelt.

Als der Einäugige wissen wollte, wie der Amerikaner das machte, die Teppiche so günstig zu kaufen, sagte dieser nur: Ich habe da so meine Tricks.

Nun ergab es sich, dass der Amerikaner ins Landesinnere fahren wollte, in ein Dorf, das vor einigen Jahren berühmt geworden war, weil man Ruinen in seiner Nähe gefunden hatte. Der Amerikaner interessierte sich für Dinge, die so alt waren, dass niemand mehr wusste, wem sie gehört hatten. So ähnlich, wie sich die Menschen für Jesus interessieren, obwohl sie ihn nicht gekannt haben. Und ihr Vater ihn nicht gekannt hat. Und ihr Großvater ihn auch nicht gekannt hat. Und ihr Großvater nicht mal von jemandem gehört hatte, der Jesus gekannt hat. So ist die Sache mit Jesus, niemand kennt jemanden, der ihn kannte, aber er kreuzt überall auf.

 

In diesem Dorf sah der Amerikaner auf einem alten Esel eine gewebte Satteltasche, die sein Kennerauge sofort als äußerst wertvoll einstufte. Der alte Esel gehörte einem alten Mann, und da hier nicht Istanbul war und der alte Mann kein einziges Wort Englisch konnte, bat der Amerikaner den Einäugigen, zu übersetzen. Nicht bevor er ihm gesagt hatte: Achtung, jetzt zeige ich dir einen meiner Tricks.

Er wollte von dem alten Mann wissen, wie sich seit den Ausgrabungen denn das Dorfleben verändert habe.

Ach, sagte der Mann, frag nicht. Seit ein paar Touristen hierherkommen, ist es vorbei mit dem einfachen Leben, alles geht den Bach herunter.

Ja, ja, wie überall, sagte der Amerikaner.

Keiner interessiert sich mehr für den anderen, alle sind nur noch hinter dem Geld her, dem schnellen Gewinn, alle wollen Touristen irgendwelches billiges Zeug andrehen. Diesen Tonkrug habe ich beim Pflügen meines Feldes gefunden, er ist bestimmt 4.000 Jahre alt, sagen sie. Dabei haben sie nur einen nagelneuen Krug vier Tage in ihrem Garten eingegraben. Sie verkaufen Fleisch, das schlecht geworden ist, indem sie es stark würzen, und preisen es als lokale Spezialität an. Sie verkaufen Wasser aus dem Brunnen in Plastikflaschen, sie verkaufen alles, was sie zum vierzigfachen Preis verkaufen können, und tun so, als wären sie ehrliche, gastfreundliche Dorfbewohner. Das Geld hat sie alle verdorben.

Ja, das kenne ich, sagte der Amerikaner. So ist es überall auf der Welt. Sobald die Leute ein paar Scheine sehen, ist alles hinüber.

Sie merken gar nicht, dass sie ihre eigene Zukunft verkaufen, sagte der alte Mann, sie machen sich alles kaputt, obwohl sie klug genug sein müssten, um zu wissen, dass ihre Rechnung nicht aufgehen wird.

Das ist der Gang der Welt, sagte der Amerikaner, so ist es überall. Ohne Ausnahme. Das Geld zerstört die alten Werte. Wovon lebst du denn, wenn ich fragen darf, bist du auch im Touristengeschäft tätig?

Nein, nein, sagte der Mann, ich kaufe und verkaufe Esel. Das ist mein Beruf.

Ah, sagte der Amerikaner freudig überrascht. Das trifft sich ja gut. Ich würde nämlich gerne deinen Esel kaufen.

Meinen Esel. Ach, der ist alt, der lahmt, der ist störrisch, der bricht fast zusammen, wenn er nur einen Sack Mehl tragen soll, ich glaube nicht, dass du den haben möchtest, sagte der Mann.

Doch, doch, sagte der Amerikaner. Der Esel gefällt mir.

Ach, das ist doch nur ein alter Esel, der kaum noch ein halbes Jahr zu leben hat.

Er gefällt mir, sagte der Amerikaner.

Was willst du denn mit ihm?

Mit nach Amerika nehmen.

Wieso, habt ihr bei euch zu Hause keine Esel?

Doch, doch, aber dieser hier, ich weiß auch nicht, er gefällt mir. Was willst du dafür haben?

Er ist nicht zu verkaufen, Herr.

Wie viel?

Nicht zu verkaufen.

Alles hat einen Preis. Wie viel?

Er ist nicht zu verkaufen, Herr. Wirklich nicht.

Hab dich nicht so. Nenn einen Preis. Dann können wir verhandeln.

1.400 Dollar.

Wie viel? fragte der Einäugige, der die ganze Zeit übersetzte.

1.400 Dollar, sagte der Mann.

Aber …

Ich habe gesagt, er lahmt, er ist alt, er ist störrisch, er hat nicht mehr lange zu leben. Aber er will ihn trotzdem haben, dann muss ja irgendetwas Wertvolles an diesem Esel dran sein, das mir entgeht.

Aber ich kann ihm jetzt doch nicht wirklich sagen, dass du 1.400 Dollar für einen Esel möchtest. Was ist das Tier denn wert?

Vielleicht 5 Dollar.

Aber …

1.400.

Das gehört sich doch nicht, das kann ich nicht übersetzen. Was soll der Gast denn von uns denken?

1.400. Da lasse ich mit mir nicht verhandeln.

Ich kann doch nicht …

1.400.

Der Einäugige übersetzte. Der Amerikaner war einige Sekunden sprachlos, fing dann aber an zu handeln. Nach einer Dreiviertelstunde hatte er den alten Mann auf 1.250 Dollar heruntergehandelt und gab zähneknirschend auf. Sie schlugen ein. Bevor der alte Mann dem Amerikaner die Zügel des Esels gab, nahm er ihm die Satteltasche ab. Der Amerikaner konnte sich gerade noch so beherrschen.

Nichts anmerken lassen, zischte er dem Einäugigen zu, nahm die Zügel und sie gingen einige Schritte.

Moment, Moment, rief der alte Mann, ihr habt etwas vergessen.

Die beiden blieben stehen und drehten sich um. Der Amerikaner lächelte dem Einäugigen zu. Siehst du, flüsterte er, die Satteltasche ist bestimmt 2.000 wert, immerhin 750 Gewinn.

Ihr habt den Pflock vergessen, um den Esel anzubinden, sagte der Mann und gab ihnen einen Eisenpflock. Der Esel ist alt und läuft nicht weg, aber man weiß ja nie.

Vorhin hatte der Amerikaner sich noch im Griff gehabt, aber nun konnte er sein Gesicht mehr halten. Er bedankte sich dennoch und ging wieder einige Schritte, bevor er stehenblieb, als sei ihm etwas eingefallen. Langsam drehte er sich zu dem Eselhändler um.

Der Esel ist wirklich alt und ihm scheint kalt zu sein, möchtest du ihm nicht diese Satteltaschen umlegen, damit er nicht friert?

Nein, nein, sagte der Mann, der stirbt ja ohnehin bald.

Mir tut der Esel leid, ich möchte nicht, dass er in seinen letzten Tagen friert. Die Nächte sind kalt hier, wie du weißt. Und sieh, diese Satteltasche, sie ist alt, sie ist dreckig, was ist die schon wert? Ich gebe dir 10 Dollar dafür. Ach, komm, lass es 20 sein. Dafür muss der arme Esel dann nicht frieren. Hab doch Erbarmen mit ihm.

Nein, nein. Ich bin doch nicht verrückt und verkaufe diese Satteltasche. Die bringt mir Glück. Seit fünf Jahren verkaufe ich nun schon alte, lahmende Esel, wenn sie diese Satteltasche tragen. Manche sterben mir weg, bevor ich sie loswerde, andere verkaufe ich mit viel Gewinn. Das Eselgeschäft ist das einzig ehrliche Geschäft in diesem Dorf, das mache ich mir doch nicht kaputt, indem ich diese segensreiche Satteltasche verkaufe.

So kennt der Chor der Einäugigen diese Geschichte, und wenn er sie erzählt hat, singt er am Ende immer:

Der Ami und der Esel

die hatten großen Streit

wer wohl am klügsten wäre

zur schönen Ferienzeit

Der Ami sprach: Das bin ich

und fing an die Zählerei

ich aber zähle besser

fiel gleich der Esel ein

Das klang so schön und lieblich

so schön von fern und nah

sie zählten alle beide

Dollar, Dollar i-a, i-a

Dollar, Dollar, i-a

Siebtes Kapitel, in dem Isa das Problem der arabischen Welt erklärt, Yunus einen Film schneidet und Krishna Mustafa Nesrin zum zweiten Mal sieht

Isa ist zurück aus İzmir, seine Großmutter hat sich wieder erholt.

Jetzt ist die gute Frau schon gut über neunzig, aber sie flucht wie ein Mann und ist stur wie ein Esel, manchmal glaube ich, sie wird einfach gar nicht gehen, sagt er. Und du, will er wissen, was hast du getrieben, bist du vorwärtsgekommen, hast du ein wenig gegraben nach den Wurzeln?

Ja, sage ich und erzähle von dem Gemeindefest. Dabei fällt mir auf, dass keiner der Deutschen etwas über die Türken gesagt hat, alle haben nur von sich geredet.

Ich weiß nicht, wie ich von den Deutschen auf die Araber komme, aber ich erzähle auch von den vielen Arabern, die ich auf den Straßen sehe. Die Männer tragen Shorts, Flipflops und Sonnenbrille und haben ein, zwei, drei oder vier Frauen in Burkas, die viele Tüten mit Einkäufen tragen.

Sie tragen keine Burka, sie tragen ein Çarşaf, die Augen sind nicht verschleiert, korrigiert Isa mich. Aber das ist ja eigentlich auch egal. Araber sind hier nicht besonders gut angesehen, auch wenn sie Geld bringen. Weil sie dreckig sind, sagen die Leute, weil sie sich nicht benehmen können, weil sie alles kaputt machen, weil sie geizig sind, aber das sind nur Vorurteile. Man kann die Leute nicht danach beurteilen, wie ihre Touristen sich benehmen. Das arabische Problem liegt woanders. Die verstehen sich untereinander nicht. Und warum verstehen sie sich nicht? Weil sie alle Mohammed oder Ali heißen. Das kann so nichts werden. Hallo Mohammed, wie geht’s? Gut, ich soll dich von Ali grüßen. Von welchem Ali? Von dem Bruder von Mohammed. Von welchem Mohammed? Na der, der neulich einen Sohn bekommen hat. Welcher von den beiden, der, der seinen Sohn Ali genannt hat, oder der, der seinen Sohn Mohammed genannt hat? Der, der ihn Mohammed genannt hat. Ach so, du meinst den Schwager von Ali. So reden die miteinander, glaub mir, so kann das nichts werden. Wenn die Araber sich verstehen würden, dann sähe die ganze Welt anders aus.

Esra kommt ins Zimmer.

Mohammed kann ich ja noch verstehen, sage ich, aber wieso Ali?

Das war der Schwiegersohn, antwortet Isa.

Wessen Schwiegersohn?

Na, Mohammeds.

Er lacht.

Was machst du? fragt Esra. Füllst du seinen Kopf mit Scheiße? Lass den armen Jungen doch in Ruhe.

Sie wendet sich an mich.

Nimm nichts ernst, was Isa sagt, er redet alles schlecht, in seiner Brust ist kein Funken Hoffnung.

Definier mal Hoffnung, entgegnet Isa, in einem Land, in dem die Kinder Klebstoff schnüffeln, weil er das Einzige ist, was ihnen Halt gibt. Definier mal Hoffnung in einem Land, in dem der Berater des Präsidenten live im Fernsehen sagt: Vergessen wir mal die Politik, die gesellschaftlichen Ereignisse, das ganze Tagesgeschäft, ich möchte Ihnen etwas sagen, wovon ich als Mensch, ich betone, als Mensch, überzeugt bin: Es gibt ausländische Kräfte, die Tag und Nacht daran arbeiten, unseren Präsidenten per Telekinese außer Gefecht zu setzen. Sie wollen ihn lähmen, sie wollen ihn paralysieren, sie wollen ihn handlungsunfähig machen, aber der Präsident steht seinen Mann, er lässt sich nicht unterkriegen.

Er sieht mich an.

Das ist wirklich passiert, sagt er. Satire ist nicht mehr möglich in diesem Land. Und ohne Satire gibt es auch keine Hoffnung. Leute wie Esra und Yunus versuchen deinen Kopf mit Scheiße zu füllen, nicht ich. Das sind die Nachwirkungen vom Tränengas, denen sind die ganzen Tränen ins Gehirn gesickert und jetzt stauen sich die Gedanken und sie glauben, das heißt, es würde irgendwann ein Damm brechen, und dann würde Demokratie dieses Land überfluten.

Isa liegt auf dem Sofa, während er das sagt. Esra lächelt ihn an und schüttelt den Kopf auf eine Weise, als wollte sie sagen, dass er noch ein Kind ist.

Wir schneiden gerade einen Film, wendet sie sich an mich, über die Proteste letztes Jahr. Willst du mal schauen? Dann siehst du, was die Menschen hier bewegt. Isa liegt eh nur auf dem Sofa. Dass er innerhalb von einer Woche in İzmir und in Bursa war, grenzt an ein Wunder.

Luft, sagt Isa, die bewegen nur Luft. Weil sie atmen. Das halten sie dann für revolutionär.

Ich gehe mit Esra. Yunus sitzt in seinem Zimmer vor dem Rechner und hat diesen konzentrierten Ausdruck, den er immer hat, wenn er dort sitzt, egal ob er spielt, ob er chattet, ob er programmiert oder im Internet surft. Yunus sitzt vor dem Rechner, wie er immer vor dem Rechner sitzt, aber die Bilder, die er mir zeigt, kenne ich noch nicht.

Ich habe letztes Jahr viele Clips im Internet gesehen (Tausende Clips), die meisten Bilder kennt man irgendwann, doch Esra und Yunus haben Sequenzen im Intro ihres Films, die ich noch nie gesehen habe. Man sieht, wie Vermummte Graffiti sprühen, wie Menschen vor lauter Tränengas keine Luft mehr bekommen, ich sehe, wie Katzen und Hunde auf das Gas reagieren, ich sehe, wie Menschen auf der İstiklal gemeinsam das Fasten brechen, ich sehe, wie Tränengaspatronen zurückgeworfen oder in Kanister gesteckt werden, ich höre einen Mann auf einer Veranstaltung vor Tausenden Menschen mit heiserer Stimme brüllen.

Ist das Erdoğan? frage ich.

Ja, lacht Esra, das ist Recep Tayyip.

Der sieht ganz anders aus, viel heller und weniger freundlich.

Dann kommt ein schwungvoller Schriftzug, GPB, dann steht da Gezi Parkı Belgeselı, Untertitel werden eingeblendet: Gezi Park Documentary.

Die ersten paar Minuten erzählen von den Anfängen der Proteste, es sind noch wenige Menschen, die versuchen, einen Bulldozer zu stoppen, der erste Bäume im Park entwurzelt. Wenn man die späteren Bilder kennt, wirkt alles harmlos und klein. Dann sieht man die Frau in dem roten Kleid, wie sie von einem Polizisten mit Tränengas besprüht wird, dieses Bild, das überall im Netz war. Doch die Gewalt eskaliert erst danach, als die Polizei den Park zum zweiten Mal gewaltsam räumt.

 

Es wird eine Schrift eingeblendet: Die drei Aggregatzustände der staatlichen Gewalt.

Als Nächstes kann man lesen: Fest. Man sieht Polizisten mit Knüppeln auf Demonstranten einprügeln und Zelte zerstören.

Flüssig. Die Aufnahme eines Menschen, der allein mit gewölbter Brust vor einem Wasserwerfer steht, bevor der Strahl ihn meterweit nach hinten schleudert.

Gasförmig. Ich sehe die schweren Tränengasschwaden, doch sie wirken wie Disconebel, weil man darin Menschen mit Gasmasken tanzen sieht. Einer hat ein Derwisch-Kostüm an und dreht sich auch wie ein Derwisch.

Das ist ein Derwisch, sagt Esra, das ist kein Kostüm.

Der Derwisch bleibt abrupt stehen und verbeugt sich in Richtung der Polizei, die weitere Tränengasgranaten abfeuert.

Man sieht einen Polizeiwagen, auf dem steht: Halk İçin Emniyet, Adalet İçin Hizmet, Sicherheit für das Volk im Dienst der Gerechtigkeit. Dann wird zu einem Polizeiwagen übergeblendet, bei dem jemand die Schrift teilweise übermalt hat: Halk İçin Eziyet, AKP İçin Hizmet steht auf diesem. Qualen für das Volk im Dienste der AKP.

Weiter sind wir noch nicht, sagt Yunus, das ist so ungefähr das erste Viertel oder Fünftel. Der Rest ist noch im Rohschnitt. Das hier wird die nächste Szene.

Ich habe auf YouTube bereits gesehen, wie Beşiktaş-Fans mit einem geklauten Bagger einen Wasserwerfer in die Flucht schlagen, aber das waren ganz schlechte Aufnahmen, die hier sind viel besser.

Woher habt ihr das?

Ich bin ja selber Beşiktaş-Anhänger, sagt Yunus. Ich kenne ein paar Leute von Çarşı.

Çarşı heißt Markt und Esra versteht wohl, warum ich so komisch gucke. Sie lächelt.

Çarşı ist der Fanclub von Beşiktaş, sagt sie, die sind ziemlich bekannt. Sie haben den Demonstranten geholfen, sie kennen sich aus mit der Polizei.

Du interessierst dich nicht für Fußball, sagt Yunus, während er etwas auf der Tastatur tippt.

Nein.

Wer sich für Fußball interessiert, kennt Çarşı, die haben einen internationalen Ruf. Schau hier: 2007 gegen Liverpool, das ist Çarşı.

Man sieht die Fans und hört sie singen, die Kraft ist überwältigend. Es ist wie beim Film vorhin, ich fühle mich, als sei ich bis zur Unterkante der Schädeldecke angefüllt mit Energie und Freude.

Sind das meine Wurzeln, dass ich bewegt bin, als könnte ich alle meine Blätter schütteln? Sind das meine Wurzeln, dass ich sofort wieder an Laura denke und mich ein Schmerz packt? Sind das meine Wurzeln und wachsen die Bäume besser, wenn man sie mit Tränengas gießt? Sind das meine Wurzeln, dass sich die Haare auf meinen Armen aufrichten, als wollten sie sich einer Ungerechtigkeit entgegenrecken? Habe ich zu viele Gedichte gelesen in diesem Buch? Was macht mein Kopf nur, wenn ich ihn alleine lasse?

Wir können kein Deutsch, sagt Esra.

Habe ich etwas gesagt?

Die beiden sehen sich an, lächeln und dann lächeln sie mich an, während Yunus nickt.

Was denn?

Wir können kein Deutsch, wiederholt Esra.

Wir sitzen zusammen und ich sehe Yunus und Esra zu, wie sie die nächsten Schnitte machen, Szenen hin- und herschieben, kürzen, verlängern, aufblenden, abblenden. Ich sehe Bilder von Graffiti, Bilder vom Gezi-Park in den Tagen, in denen es dort für alle Essen und Trinken umsonst gab, ich sehe Fußballfans aller drei Istanbuler Vereine zusammen skandieren: Komm, sprüh doch, komm, sprüh doch, komm, sprüh doch Pfefferspray, zieh den Helm aus, lass den Stock los und lerne wie ein Mann zu stehen.

Ich sehe die Bilder und es fühlt sich an, als könnte man Aufregung durch die Augen inhalieren.

Als es schon dämmert, schlagen die beiden vor, Schluss zu machen und auszugehen, in eine Bar mit Livemusik.

Etwas später sitze ich mit Esra und Yunus an einem Tisch, auf der winzigen Bühne begleitet sich ein Mann auf der Saz und singt dazu traurige Lieder, die von Trennung handeln, von der Fremde und vom Schmerz. Er singt, als wüsste er, was mit Laura und mir passiert ist, er singt, als wollte er mir eine Stimme geben, und ich überlege, Laura anzurufen und dann nichts zu sagen, sondern nur das Telefon in Richtung Boxen zu halten. Ich drehe den Kopf und sehe nach draußen, weil ich so ein Gefühl habe, als wollte ein Engel aus meinen Augen rauspinkeln.

Auf der Straße sehe ich Nesrin. Ich springe auf, laufe raus und versperre ihr den Weg.

Hallo, ich wollte kein Hirschgelaber machen, sage ich. Du erinnerst dich an mich, wir haben uns vor ein paar Tagen vor dem Pudding Shop gesehen. Ich hatte wirklich Dreadlocks. Isa, mein anderer Mitbewohner, ist leider nicht dabei, der könnte dir das bestätigen. Was machst du hier? Bist du auch mit Freunden unterwegs?

Nesrin sieht mich an, sie guckt nicht so böse wie letztes Mal, warum sollte sie auch. Sie sieht mich an, schüttelt den Kopf und geht einfach weiter.

Hey, warte, rufe ich ihr hinterher, aber sie reagiert nicht.

Wenigstens habe ich ein paar Momente lang nicht an Laura gedacht. Ich gehe wieder rein.

Später gehen Yunus, Esra und ich noch in zwei andere Bars. Ausgehen in Istanbul ist anders, es ist laut nachts auf der İstiklal, viel lauter als tagsüber. Tagsüber habe ich gar nicht bemerkt, dass in den oberen Etagen der Häuser Clubs sind. Die haben jetzt ihre Musik aufgedreht, es schallt über die ganze Straße und mitten in der Nacht ist es hier immer noch so voll wie tagsüber, wenn die Geschäfte auf haben. Das liegt vielleicht auch an der Weihnachtsbeleuchtung. Und daran, dass man sein Geld ausgeben soll, bevor man tot ist.

Schließlich stehen wir mitten auf der İstiklal vor einem der Starbucks und wollen langsam nach Hause gehen.

Das Leben ist doch schön, mein Bruder, sagt Esra.

Yunus bleibt stehen, schließt die Augen und sagt: Ich höre Istanbul mit geschlossenen Augen, ich höre die Flüche, die Gesänge, die Lieder, die Plaudereien.

Ich sehe Esra an, ich sehe Yunus an, ich sehe die vielen Menschen, die an uns vorbeigehen. Die einen sind betrunken, die anderen sind auf Drogen. Meistens bin ich lustig, wenn es so ist. Du hast es gut, sagt Hase immer, du wirst schon vom Kontakt high. Die ersten Male habe ich immer verstanden: Du bist schon ein Kontakthai, und gedacht, ein Kontakthai sei jemand wie ich, der viel mit Menschen redet.

Ich verstehe dieses High-Sein nicht. Wenn man vorher nicht lustig ist, kann man auch hinterher nicht lustig sein. Und wenn man vorher und hinterher nicht lustig ist, was soll das dann für eine komische Mitte sein, in die man Bier hineinfüllt und Joints und Pillen? Ich verstehe nicht, wieso sich die Leute immer anders fühlen wollen, als sie sich fühlen. Aber ohne sie wäre Hase ja arbeitslos.

Wir können immer noch kein Deutsch, sagt Esra wieder, was hast du gerade gesagt?

Auch andere Muttersprachen haben schöne Wörter, sage ich.

Die einen sind betrunken, die anderen sind auf Drogen, meistens bin ich lustig, wenn es so ist. Doch heute ist niemand glücklich und ich denke an Laura, an das Lachen und an den Liebeskummer. Ich schlafe ein.

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