METAMORPH

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S. H. FLEISCHMANN

Natürlich für KB,

der beeindruckendsten Frau der Welt.

Metamorph

Diese Geschichte ist Fiktion. Selbst wenn sich Namen, Personen, Ortschaften oder Gegebenheiten mit real existierenden Faktoren decken, so sind diese dennoch frei erfunden und entsprechen nicht der Wirklichkeit.

>>Willst du wirklich wissen,

wo deine Grenze aufhört

und meine anfängt!?<<

Frank Hellenbeck

01 - Unloyale Übernahme

>>Es gibt zwei Dinge, für die Menschen fast alles tun würden. Sex und Geld. Ersteres würde ich auf Instinkt zurückführen. Gefühle kann man irgendwie unterdrücken, aber der Instinkt ist angeboren. Warum wohl können viele Priester nicht widerstehen?! Wenn die Kirche einem vorschreibt, dass man sein Leben lang keine Frau haben darf, weil man mit Gott verheiratet ist, dann ist es kein Wunder, dass die irgendwann ausflippen. Und wie viele Priester tun das höchstwahrscheinlich immer noch, ohne dass jemand davon weiß?! Es ist einfach unvorstellbar! Für mich siedeln diese Menschen irgendwo zwischen einer Kakerlake und dem weißen Zeug, das sich in den Mundwinkeln ansammelt, wenn man so richtig durstig ist. Ein bisschen hatte ich gehofft, dass so jemand heute in der Bank gewesen wäre. Aber wie es meistens der Fall ist, kommt es ganz anders. Ein verdammter Jammer. Ich hätte es wirklich genossen, einem dieser verdammten Hurensöhne ein Pfund zwischen die Augen zu jagen. Die sind doch wirklich verachtenswert, findest du nicht?!<<

Spielerisch ließ der Mann eine Zigarre durch seine Finger gleiten. Für mehrere Sekunden herrschte Stille, als wolle er eine Antwort abwarten. Dann nahm er den Flachschneider in Bicolor-Optik vom Tisch und setzte ihn an das verschlossene Ende der Havanna. Für einen kurzen Moment glitt sein Blick von der ihm gegenübersitzenden Person zur Tabakware in seinen Händen. Kräftig drückte der Mann den Zigarrenschneider zusammen. Zwei Millimeter vor der Begrenzung des Deckblatts trennte die scharfe Klinge das Mundstück ab. Dann wandte er sich erneut seinem Gegenüber zu.

>>Na, wie auch immer. Den zweiten Punkt jedoch finde ich noch bemerkenswerter. Geld. Ist es nicht erstaunlich, was Geld in einem Menschen verändern kann?! Man ist plötzlich zu Dingen fähig, an die man vorher niemals gedacht hätte. Wenn der Preis stimmt, natürlich. Ich finde es immer noch unglaublich, dass das alles mit einem Scherz begonnen hat. Hey, was wäre eigentlich, wenn...? Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern. Es war vor etwas mehr als einem Jahr. Da haben wir ein bisschen Blödsinn geredet... aber irgendwann - ich kann gar nicht mehr sagen, was der Grund dafür war - wurde es ernst. Wir hatten beschlossen, das wirklich durchzuziehen. Jeder für sich; in Gedanken, allein. Aber es war allen klar, wenn wir das tun, dann gibt es kein Zurück mehr. Tja, und hier sind wir nun. Es war eine fantastische Zeit. Wir haben sogar unsere Psyche gegenseitig soweit bearbeitet, dass wir im Falle einer notwendigen Exekution niemals zögern würden. Gefühle sind hinderlich, wenn es ums Geld geht.<<

Der Mann steckte sich die Zigarre in den Mund und entzündete ein Streichholz. Danach wartete er mehrere Sekunden, bis der Schwefel vollends verbrannt war. Für diese Zeit herrschte abermals absolute Stille. Anschließend führte er das Streichholz in einem Neunzig-Grad-Winkel an die Havanna und zog einige Male kräftig, während er sie drehte, bis sie rundherum gleichmäßig entzündet war. Genüsslich stieß der Mann eine Rauchwolke aus.

>>Eine Fat Lady ist genau das Richtige nach einer so erfolgreichen Aktion<<, hauchte er angetan. Jetzt sah er der Frau gegenüber kalt in die Augen und festigte seinen Blick.

>>Weißt du, was ich von Deutschland halte?! Es ist ein beschissenes Land. Absolute, unbrauchbare Scheiße! Ich rede von miesen Politikern und oberflächlichem Geschwätz. Die gesetzlichen Richtlinien sind einfach grauenvoll. Vermutlich nennen die meisten Parteien sie Prosa. Ich nenne es Bullshit. Es handelt sich doch eindeutig um den Mangel an Verstand.

Wir alle sind doch ziemlich intelligent, oder nicht!? Warum ist dann kein Politiker zu konkretem Denken fähig? Man sollte doch meinen, dass intelligente Menschen dieses Land zu führen hätten?! Leider ist dies ein kaum beachtetes Element in der deutschen Struktur. Denk nur an die Polizei, zum Beispiel, und was sie vor einigen Stunden geleistet hat. Ich bin sicher, ihr Vorgehen wird als grandiose Arbeit eingestuft.<<

Sein Sarkasmus war nicht zu überhören.

>>Vielleicht sogar Landesbeste. Das würde mich echt interessieren. Ich sollte in den nächsten Wochen häufiger die Nachrichten ansehen. Bin gespannt, was die so erzählen. Jedenfalls haben sie trotzdem versagt. Voll und ganz. Und warum?! Weil sie vorher noch nie einer solchen Entschlossenheit gegenüberstanden.<<

Der Mann zog erneut an seiner Havanna. Ein angenehmer Tabakgeruch schwängerte die Luft. Dann hielt er die Zigarre zwischen zwei Fingern seiner rechten Hand und gestikulierte mit ihr seine folgenden Ausführungen.

>>Die Scharfschützen, das Sondereinsatzkommando, die Vermittler... alles Oberklasse. Aber...<<

Jetzt lehnte er sich nach vorne und stützte seine Ellenbogen auf die Oberschenkel. >>…sie haben ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Sie hatten einfach nicht damit gerechnet, was passieren würde, wenn jemand wirklich versucht, damit durchzukommen. Was passiert dann!? Und das ist der Knackpunkt! Ich denke wirklich, sie standen vorher nie so entschlossenen Menschen gegenüber wie uns. Als wir zum Beispiel angefangen haben, Geiseln zu töten. Einfach so. Ohne Gnade. Erfüllt unsere Forderungen, oder die hübsche Brünette bekommt einen Kopfschuss verpasst. Bum – kaputt! Was, noch kein Fluchtfahrzeug da? Ich bitte euch! Wie viele unschuldige Opfer mussten wir der Polizei vor die Tür legen, bevor sie endlich bei unserer Geiselnahme vernünftig reagierte?! Die Toten gingen einzig und allein auf deren Konto. Hätten sie an uns nicht gezweifelt, hätten wir ihnen nichts beweisen müssen. Aber so... bum, bang, eine Geisel nach der anderen. Absolut kompromisslos. Und wofür das alles?! Ein Auto, einen Helikopter, für vierzehn Millionen Euro, die sowieso versichert sind!? Ich sage dir was, Melanie: Wir haben die Landeszentralbank ausgeräumt. So wie wir uns ausgetobt haben, hat es in Deutschland noch nie jemand geschafft, schätze ich. Und das alles nur durch klaren Verstand und einen strukturierten Plan. Naja, und einiger Waffen.<<

Ein weiterer Zug hielt seine Zigarre am Glimmen. Diese Redepausen genoss er. Es hatte für ihn etwas Künstlerisches.

>>Aber für das, was wir angerichtet haben, gebe ich mich nicht mit knappen drei Millionen Euro zufrieden. Das verstehst du doch sicher!?<<

Der Mann blickte Melanie starr in die Augen und lächelte süffisant. Dann zog er eine weitere Havanna aus seiner Brusttasche und bot sie ohne Worte der Frau an. Lediglich ein Hochziehen der Augenbrauen verlieh seiner Geste Ausdruck. Als Melanie mit keiner Silbe antwortete, fasste der Mann dies als Ablehnung auf.

>>Bist du sicher? Du solltest deine restliche Zeit genießen<<, sagte Thomas Berger in gefühlskaltem Ton und reichte die Havanna weiterhin in ihre Richtung.

>>Ist deine Entscheidung<<, meinte er und steckte die Zigarre schließlich zurück in seine Tasche. Die Tugend der Geduld hatte ihn noch nie ausgezeichnet.

>>Wenn du mich dann entschuldigen würdest, ich habe noch ein Telefonat zu führen.<< Überlegen lächelnd stand Berger auf und verließ mit ruhigen Schritten den Raum. >>Mach's dir bequem. Ich bin bald wieder zurück<<, widmete er sich der Frau mit einem letzten Blick und verschwand hinter dem Durchgang zum Nebenzimmer.

Der Scheunenraum, in dem sich Melanie befand, hatte die Größe eines Einfamilienhauses und war komplett aus Holz gefertigt. Das Gebäude hatte sichtlich einige Generationen überdauert. Stellenweise morsche Balken waren durch neue ersetzt und einige Bodenbretter bereits ausgetauscht worden, was das laute Knarren des Holzes bei jedem Schritt jedoch nicht linderte. Drei dicke Säulen aus Eichenholz stützten das Dachgeschoss. Diese befanden sich an verschiedenen Punkten im Raum und ergaben zusammen einen Neunzig-Grad-Winkel, wenn man sie mit einer imaginären Linie verband. Das riesige, geschlossene Scheunentor war mit Längsbrettern verschalt und hing in einer Laufschiene. Im gegenüberliegenden Bereich erstreckte sich ein kleiner, länglicher Lagerraum, dessen Holzwände in noch gutem Zustand waren. Er musste erst vor Kurzem errichtet worden sein. An der einfachen Tür hing ein billiges Vorhängeschloss, das man selbst mit einem kleinen Bolzenschneider mühelos durchtrennen konnte. In der gesamten Scheune waren Stapel von verschiedenen Brettern und Hölzern verteilt, die bis zur Taille reichten. In genügendem Abstand prangerten mehrere Maschinen - Kreissäge, Abrichte und ein Schleifbock. An der Decke war ein Schienensystem angebracht, mit dem man ohne große Anstrengungen gewaltige Holzbalken transportieren konnte. Allerdings musste man diese Konstruktion gut beherrschen, da einem sonst die tragenden Säulen in den Weg kommen könnten. An der Wand - welche ebenso die Tür zum Nebenraum enthielt - erstreckte sich eine lange, massive Werkbank, auf der einige Kleinmaschinen und eine Vielzahl an Werkzeugen lagerten. Zwei lange Holzböcke befanden sich in großem Abstand parallel nebeneinander an der gegenüberliegenden Wand. Der Platz dazwischen war frei. Dieser Arbeitsplatz wurde verwendet, um Pfetten und Sparren zu bearbeiten. Die gesamte Scheune war staubig und mit Holzspäne überzogen.

 

Melanie Wittenberg saß auf einem alten Holzstuhl mit Armlehnen, gegenüber einem improvisierten Tisch aus zwei Böcken und einer Tischlerplatte. Dahinter befand sich ein weiterer Stuhl der gleichen Art, worauf Berger kurz zuvor gesessen hatte. Die Arme der Frau waren mit Schnüren so fest an die Lehnen gebunden, dass sie bereits ein leichtes Taubheitsgefühl in ihren Händen verspürte. Auch die Füße waren mit derselben Methode an den vorderen Stuhlbeinen fixiert. Einen Knebel hatte sie jedoch nicht im Mund. Ihr war klar, dass es nichts bringen würde, in dieser verlassenen Gegend zu schreien. Allerhöchstens könnte sie dadurch Bergers Wut steigern, sodass der Mann sie auf Anhieb töten würde.

In Melanie brannte unvorstellbarer Zorn. Die Frau atmete so stark, dass sie das Gefühl hatte, gar nicht ausreichend Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen. Sie hatte die Ausführungen von Thomas angehört, ohne ein Wort zu entgegnen. Wenn sie es irgendwie geschafft hätte, wäre sie über den Tisch gesprungen und hätte dem Bastard die Nase ins Gehirn gerammt. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, sich aus den Fesseln zu befreien.

Inzwischen war sie allein in jenem Bereich der Scheune. Melanie wandte ihren Blick noch einmal nach rechts, um sicherzustellen, dass Berger auch tatsächlich außer Sicht war. Dann widmete sie sich abermals den Schnüren um ihre Extremitäten und versuchte, sich mühevoll zu befreien. Sie spürte, wie die Leinen durch ihre Kleidung in die Haut schnitten. Doch das war ihr völlig egal. Durch ihren gewaltigen Zorn und dem dadurch resultierenden Adrenalinschub verspürte sie kaum Schmerzen. Sie musste sich irgendwie von diesem Stuhl lösen, bevor Thomas zurückkehrte - denn das würde für die Frau höchstwahrscheinlich das letzte Wiedersehen werden. Mit zusammengepressten Lippen konzentrierte sich Melanie auf ihr Problem.

Wittenberg war eine schlanke, sportliche Frau, die viel Wert darauf legte, als Polizistin durchweg fit zu bleiben. Sie hatte tiefblaue Augen, dessen intensive Farbe von zahlreichen Menschen für Kontaktlinsen gehalten wurde. Ihre kurzen, blonden Haare - die sie normalerweise mit einem Fransen-Pony sehr modisch trug - waren in diesem Fall mit viel Gel nach hinten gestylt und stark an die Kopfhaut angepresst. Damit bezweckte die Frau, kein einzelnes Haar am Tatort zu verlieren und so einer chemischen Analyse des Kriminallabors vorzubeugen.

Melanie war komplett in Schwarz gekleidet, wie auch ihr momentaner Gegenpart Thomas. Über ihren Lederstiefeln trug sie eine Rocky-Lane-Skinny-Hose mit einem starken Gürtel, an dem sich ein Holster zu ihrer Rechten und eine Messerscheide an ihrer Linken befanden. Jedoch war beides ohne Inhalt. Ein eng anliegender Pullover mit V-Ausschnitt und langen Ärmeln bis zu den Lederhandschuhen bot ihr jegliche Bewegungsfreiheit. An Wittenbergs Hals war noch immer das Kehlkopfheadset ihres Funkgeräts mit einem Nackenbügel angebracht. Jedoch hatte Berger das notwendige Equipment bereits an sich genommen. Der perfekt angepasste Ohrhörer war für Melanie daher vollkommen nutzlos. Lose baumelte der MIC-S1L-Stecker von ihrem Körper.

Die sechsunddreißigjährige Frau war durch die Vorkommnisse der letzten Stunden schweißgebadet. Staub und Sägespäne klebten auf ihrer feuchten Haut. Das Nasenbein war gebrochen und verheerend entstellt. Aus einer kleinen Wunde unterhalb der Wurzel formten sich zwei Bahnen aus inzwischen geronnenem Blut bis zu ihrem Kinn. Nasenöffnung, Mundpartie und Hals waren vollständig blutverkrustet. Melanie hatte noch immer den metallischen Geschmack auf der Zunge.

Krampfhaft versuchte sie ihre Hände aus den Schlingen zu lösen. Jedoch gruben sich die Schnüre nur tiefer in ihre Haut. Als Berger sie fesselte, hatte sie ihre Handgelenke angespannt. Daher existierte nun ein winziger Spielraum, wenn sie ihre Muskeln lockerließ. Mit drehenden Bewegungen zog sie ihre Arme zurück, doch an den Handballen scheiterte die Aktion. Abermals blickte sie zu der Tür, durch die Thomas verschwunden war. Noch immer nichts von ihm zu sehen.

Jetzt konzentrierte sich die Frau erneut auf ihre Arme. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, einen ihrer Daumen auszukugeln. Wenn sie das schaffen würde, hätte sie eine gerade Fläche vom Arm zu den Fingern und könnte sich höchstwahrscheinlich befreien. Doch wie sollte sie das anstellen?! Die zweite Hand einzusetzen war unmöglich und da die Finger über die Armlehne hinausragten, gelang es ihr nicht, den Daumen kräftig genug gegen das Holz zu drücken. Ihre Situation schien beinahe aussichtslos.

Nun beugte Melanie ihren Oberkörper nach vorne und nahm die Zähne zu Hilfe. Beide Reihen Schneidezähne schlossen sich um eine Windung der Schnur. Kraftvoll biss sie darauf. Die Frau neigte ihren Kopf von einer zur anderen Seite, um einen durchtrennenden Effekt zu erzielen. Währenddessen versuchte sie sich auf Geräusche zu konzentrieren, die Bergers Ankunft verrieten. Noch war alles still. Wittenberg konnte fühlen, wie sich einzelne Sehnen der Schnur lösten. Hoffnung keimte in ihr auf. Sie konnte es tatsächlich schaffen.

Dann zog sie mit den Zähnen kraftvoll an der inzwischen zerschlissenen Schnur. Mit einem Ruck lösten sich die restlichen Verbindungsstücke. Die Schnur riss urplötzlich in zwei Hälften. Melanie wurde von ihrer eigenen Wucht zurück in die Stuhllehne gedrückt - die Leine noch immer zwischen den Zähnen. Eilig spuckte sie diese aus.

Jetzt versuchte die Frau ihren Arm abermals aus den Schlingen zu ziehen. Doch es funktionierte nicht. Ratlos starrte sie auf die anderen vier Windungen der Schnur und versuchte zu verstehen. Sie hatte es doch geschafft!? Sie konnte sie durchtrennen! Warum war es ihr nicht möglich, ihre Hand herauszuziehen?! Dann begriff Melanie es endlich. Als Thomas sie gefesselt hatte, verknotete er jede Windung einzeln. Das hatte die Frau aufgrund ihres Zorns gar nicht wahrgenommen. Erneut loderte die Wut über Berger in ihrem Körper auf. Sie musste jede verfluchte Drehung der Schnur separat durchbeißen. Ohne länger darüber nachzudenken, senkte sie erneut ihren Oberkörper und machte sich an die Arbeit.

Schweißperlen tropften von ihrer Nasenspitze auf den staubigen Boden. Ihr Unterkiefer begann zu schmerzen. Adern traten auf ihrer Stirn hervor. Hals und Nacken verkrampften sich vehement. Die Zeit bereitete der Frau höchsten Stress. Wie lange würde es noch dauern, bis Thomas zurückkehrte?! Wenn sie sich bis dahin nicht befreit hatte, wäre es vermutlich ihr Ende. Unter ständigem Druck steigerte sie sich immer mehr in ihre Befreiung hinein. Ihr Kiefer war inzwischen die Hölle. Doch sie vermochte es, den Schmerz zu unterdrücken. Ihr Überlebenswille war stärker. Ohne nachzulassen kaute Melanie weiter auf der nächsten Schnur herum. Dann endlich schaffte sie es. Ein weiteres Stückchen Leine fiel zu Boden. Jetzt blieben nur noch drei, bis sie ihre rechte Hand zu Hilfe nehmen konnte.

Wittenberg atmete einmal kräftig durch und beugte sich anschließend wieder über ihr Handgelenk. Ständig bewegte sie ihren Unterkiefer hin und her, um so einen größeren Schneideeffekt zu erzielen. Unbewusst vergaß die Frau, sich ebenso auf die Umgebung zu konzentrieren. Doch inzwischen hatten die Fesseln ihren Geist vollkommen vereinnahmt.

Plötzlich stoppte Melanie in ihrer Aktion. Die Frau hielt inne. Sie machte keine Bewegung mehr. Langsam ließ sie die Schnur aus ihrem Mund gleiten. Nur mit den Pupillen sah sie sich zur Seite um. Schwarze Schuhe. Wittenberg verspürte einen heftigen Druck oberhalb ihrer Schläfe. Sie wusste auf Anhieb, worum es sich handelte. Es war der Schalldämpfer von Bergers Smith & Wesson Sigma.

Die Mitte der neunzehnhundertneunziger Jahre entwickelte Pistole hatte einen Kunststoffgriff, was sie sehr leicht machte. Mit einem Gewicht von siebenhundertdreißig Gramm lag sie sehr gut in der Hand. Die Waffe besaß keine manuelle Sicherung und hatte ein vierziger Kaliber. Der Abzug der halbautomatischen Sigma mit ihrem fünfzehn-Patronen-Magazin war teilgespannt, wodurch der Widerstand stets gleich ausfiel. Der Schlitten war silberfarben - im Gegensatz zum schwarzen Unterstück - und verfügte über eine besonders korrosionsbeständige Oberflächenbeschichtung.

>>Aber, aber, aber<<, nuschelte Berger in leiser Monotonie mit seiner Havanna im Mund. Melanie bewegte sich nicht. Die Frau blieb weiterhin vornübergebeugt, solange sie die Waffe an ihrem Kopf spürte.

>>Du beleidigst meine Gastfreundschaft<<, fügte Thomas hinzu.

>>Das nennst du Gastfreundschaft?!<<, presste Melanie leise hervor. Die Wut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

>>Du bist doch noch am Leben, oder!?<<, erwiderte der Mann und senkte seine Pistole. Jetzt nahm er abermals auf dem Stuhl gegenüber Platz und legte seine Waffe auf den Tisch. Die Mündung zeigte jedoch weiterhin auf Wittenbergs Brustkorb. Melanie richtete ihren Torso langsam auf und blickte ihrem ehemaligen guten Freund hasserfüllt in die Augen. Dieser wirkte gelassen und zufrieden. Ein feines Lächeln zierte seine Lippen.

>>Weißt du, Mel... im Grunde tut mir dass alles wirklich leid. Aber du kennst ja das Sprichwort: Bei Geld hört die Freundschaft auf.<<

>>So einfach ist das bei dir?!<< Wittenbergs Aussprache war weiterhin leise und angespannt. Ihre Lippen begannen zu beben. Dies lag nicht an der Angst vor dem Tod, sondern vielmehr an dem Zorn, den sie ihrem Gegenüber empfand.

>>Naja... ja.<<

Melanie konnte darauf nichts erwidern. Verachtend sah sie Thomas an. Der Mann nahm seine Zigarre aus dem Mund und hielt sie zwischen zwei Fingern, bevor er abermals das Wort ergriff.

>>Glaubst du etwa, du bist was Besseres, Mel? Wie viele Menschen hast du vorhin getötet, hm? Drei, oder vier?! Das kümmert dich doch auch kein bisschen. Du hast es für eine Sache getan - mit Überzeugung. Und jetzt tue ich das Gleiche.<<

Melanie schüttelte langsam den Kopf. Es wirkte beinahe wie in Zeitlupe. Gleichzeitig wandte sie ihren Blick zu Boden. Sie konnte es nicht ertragen, Berger in die Augen zu sehen. Die Lippen waren stark zusammengepresst.

>>Tom<<, sagte eine Stimme seitlich der Frau. Sie neigte langsam ihren Kopf in jene Richtung, obwohl sie bereits wusste, wer es war.

>>Ja<<, erwiderte Berger.

>>Es ist soweit.<<

>>Bin gleich da.<< Damit wandte sich Tom von dem glatzköpfigen Mann im Türsturz ab und widmete sich erneut Melanie. Nachdem die Person wieder im Nebenraum verschwunden war, sah Wittenberg zu ihrem Peiniger auf. Sie wusste, was jetzt passieren würde. Er hatte alle Vorbereitungen getroffen und brauchte nun keine Versicherung mehr - womit sie selbst gemeint war.

>>Unser Arrangement neigt sich allmählich dem Ende zu<<, sagte Thomas mit ruhiger, entschlossener Stimme.

Berger war achtunddreißig Jahre und hatte den Großteil seines Lebens als Berufssoldat bei der Bundeswehr verbracht. Vor über einem Jahr hatte er jedoch den Dienst quittiert, als die Idee des Bankraubs Gestalt annahm. Seine drei Millimeter kurzen Haare und die kräftige Statur, gepaart mit einer Körpergröße von einem Meter neunzig, verliehen ihm eine ehrfurchterregende Erscheinung. Der Mann war glattrasiert, hatte jedoch eine längliche Brandnarbe an seinem Hals, die mehrere Jahre alt war. Diese zog er sich bei einem Auslandseinsatz zu. Während ein Soldat nach Gebrauch des Maschinengewehres den heißgeschossenen Lauf austauschte, wurde Berger von einem anderen zu Boden gedrückt und landete mit dem Hals auf dem beinahe glühenden Metall. Die Hitze war derart intensiv, dass sich seine Haut sofort löste und an dem Lauf kleben blieb. Obwohl er unfassbare Schmerzen erlitt, war er Daniel Kett dafür dankbar, denn so entging er einer Salve Kugeln, die für ihn bestimmt war.

Berger hatte eine dunkle, raue Stimme, war äußerst arrogant und überheblich sowie absolut gewissenlos. Er war ein Mann, dem man durchaus die Führungsposition eines solchen Clous zuschreiben würde. Er hatte Ahnung von Waffen und wusste sich zu verteidigen. Über sein Langarmshirt mit körpernaher Passform und Rundhalskragen trug Thomas ein Schulterholster für die Sigma. Zwei Ersatzmagazine steckten noch immer in den dafür angepassten Vorrichtungen. Sein Beinkleid bestand aus einer Airborne-Vintage-Trousers-Surplus mit vier seitlichen Taschen. Das KM3000-Messer an seinem Gürtel verfügte über eine durchgehende Klinge mit Kalgard-Beschichtung, dessen Griff aus glasfaserverstärktem Kunststoff bestand. Seine feuerfesten Kampfstiefel waren für jegliches Gelände geeignet und hatten zudem eine stählerne Vorderkappe, sowie Ferse.

 

>>Noch irgendwelche letzten Worte?<<, fragte Thomas, während er einen weiteren Zug seiner Havanna nahm. Genüsslich blies er den Rauch in Wittenbergs Richtung.

>>Fick dich, Verräter-Sau!<<, stieß Melanie durch ihre zusammengepressten Zähne aus und spuckte anschließend in Toms Richtung. Ein zäher Speichelfaden klatschte in dessen Gesicht und verteilte sich auf Wange und Mund. Berger schloss reflexartig die Augen, blieb ansonsten jedoch ruhig. Er machte keine Anstalten, dieser Attacke auszuweichen. Selbst von Wittenbergs Unterlippe dehnte sich noch ein dünner Speichelfaden aus und haftete an ihrem Kinn. Die Frau war jedoch so voller Zorn, dass sie es gar nicht bemerkte. Thomas hob die rechte Hand und wischte sich die Spucke aus dem Gesicht. Erst danach öffnete er wieder die Augen.

>>Eloquente Worte. Beinahe poetisch<<, sagte Berger schließlich, steckte sich die Zigarre in den Mund und korrigierte den Sitz seiner dünnen Lederhandschuhe. Dann erhob er sich und griff nach seiner Waffe auf dem Tisch. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, richtete der Mann die schallgedämpfte Sigma auf Melanies Kopf. Die Mündung befand sich nur Zentimeter vor ihrem Haupt entfernt und zielte direkt auf die Schädelbasis zwischen den Augen, wo Stirn- und Schläfenbein zusammenliefen. Es war die weichste Stelle, wo der Hirnstamm ins Rückenmark überging und eine Kugel den meisten Schaden anrichten würde. Die perfekte Exekution eines Menschen.

Berger zögerte nie lange, den Abzug zu drücken. Jedoch kam es Melanie wie eine Ewigkeit vor. Ihr Blick haftete weiterhin in den Augen von Thomas. Doch alles, was sie erkannte, war emotionslose Kälte. Dieser Mann verspürte rein gar nichts in den Sekunden, bevor er eine gute, langjährige Freundin töten würde. Wittenbergs Atmung wurde heftiger. Mit hörbaren Zügen saugte sie die staubige Luft in ihre Lungen und stieß sie ebenso laut wieder aus. Das Herz begann so heftig zu pulsieren, dass es sich anfühlte, als würde es der Frau gleich aus der Brust springen. Adrenalin breitete sich in ihrem Körper aus, was Melanie dazu veranlasste, ihre ausweglose Situation noch deutlicher wahrzunehmen. Angstschweiß bildete sich auf ihrer Stirn und rann stellenweise sogar in ihre Augen. Blinzelnd versuchte Wittenberg, den Blickkontakt zu halten.

Obwohl sie sich innerlich bereits auf ihr Schicksal vorbereitet hatte, konnte sie die aufkeimende Todesangst nicht unterdrücken. So mussten sich auch ihre Opfer gefühlt haben, kurz bevor Melanie sie exekutierte. Erst in diesem Moment wurde ihr das gesamte Ausmaß der Panik klar, welche man verspürte, wenn man den Tod unmittelbar vor Augen hat. Das Blut wurde so stark durch ihre Adern gepumpt, dass die Venen im Körper sichtbar pulsierten. Die Frau war so dermaßen angespannt, dass es ihr nicht mehr gelang, den dickflüssigen Speichel in ihrem Mund hinunterzuschlucken. Eine warme, zähe Masse legte sich auf ihrer Zunge ab. Für einen winzigen Moment - den man nicht einmal in Sekunden messen könnte - fragte sich Wittenberg, ob sie das Mündungsfeuer noch sehen würde, oder ob die Kugel ihren Schädel vorher zerfetzt?! Könnte sie den Schuss überhaupt hören, oder wäre das Projektil aus dieser kurzen Entfernung immer noch schneller als der Schall? Unter einem Höchstmaß an Anspannung wartete sie auf den finalen Blitz aus dem Lauf der Sigma. Stille. Nur die heftigen Atemzüge der Frau waren zu vernehmen.

Plötzlich löste sich ein Schuss. Der Schalldämpfer ließ die unterdrückte Explosion sofort verhallen. Anschließend folgte abermals Stille. Keine Atemgeräusche waren mehr zu hören. Es war vollkommen ruhig. Dann - nach einer weiteren Sekunde - sackte ein Körper leblos zu Boden und schlug unsanft auf die Holzbretter. Das Leben eines weiteren Menschen wurde auf brutale Weise genommen.

Melanies gesamter Körper war noch während des Schusses zusammengezuckt. Reflexartig kniff sie ihre Augen zusammen, obwohl sie es eigentlich hätte kommen sehen wollen. Ein sich plötzlich ausbreitender Schockzustand lähmte ihre Lungen. Kein Atemzug war der Frau in diesem Augenblick möglich.

Dann schlug Melanie die Augen auf.

Langsam.

Überrascht.

Sie war noch am Leben. Erneut blickte sie zu Thomas auf. Jener hatte die Waffe noch immer auf ihren Kopf gerichtet, legte seine Aufmerksamkeit jedoch in eine andere Richtung. Er blickte zur Tür, in welcher der glatzköpfige Mann vorher aufgetaucht war. Jetzt verstand auch Wittenberg die Situation. Der Schuss kam aus dem Nebenraum. Dort hatte jemand eine Waffe abgefeuert, noch bevor Berger die seinige betätigen konnte. Melanie sah nun ebenfalls in die entsprechende Richtung. Durch den geöffneten Türrahmen war niemand zu sehen. Nur eine Tischkreissäge und die dahinter befindliche Werkbank befanden sich in ihrem Blickfeld.

>>Daniel?!<<, rief Thomas in den Nebenraum. Seine Stimme war nicht viel lauter als sonst. Aber diesmal konnte Berger seine Unsicherheit nicht unterdrücken. Er wartete ein paar Sekunden. Keine Antwort. Jetzt ließ der Mann von Melanie ab und nahm seine Waffe in beide Hände, nachdem er die Havanna einfach hatte fallen lassen. Thomas bildete eine gerade Linie zwischen Kimme und Korn der Waffe und seinen Augen. Anspannung legte sich über seinen Körper. Mit fest umschlossenem Griff richtete er die Sigma auf die Türöffnung und schritt langsam darauf zu. Der Zeigefinger seiner rechten Hand war stetig mit leichtem Druck um den Abzugsbügel gekrümmt.

Irgendetwas stimmte dort drüben überhaupt nicht. Und das machte ihn nervös!

02 - Am Leben

Der Tag neigte sich dem Ende und der Horizont verschlang mit jeder Minute ein Stück mehr der Sonne. Die unbebauten Wiesen und Ackerfelder erstreckten sich großflächig in der Umgebung. Ein dichter Waldrand zeichnete sich in einigen Kilometern auf einer Erhöhung ab. Seine Nadel- und Laubbäume breiteten sich wie ein Meer aus Pflanzen am Horizont aus. Eine schmale Straße aus Kieselsteinen durchschnitt die Felder und schlängelte sich in zwei Richtungen. Sie war gerade so breit, dass ein einzelnes Auto problemlos darauf fahren konnte. In der gesamten Umgebung gab es keine Häuser oder anderweitige Gebäude, welche auf Zivilisation hindeuteten. Es war eine Ackerlandschaft zwischen zwei kleinen Dörfern, welche sich jedoch versteckt hinter der hügeligen Gegend verbargen.

Der Mann schlug die Augen auf. Sofort spürte er heftige Schmerzen in seinem Brustbereich. Ohne sich zu erheben, neigte er den Kopf in beide Richtungen und sondierte das Gelände. Das saftig grüne Gras der Wiese kitzelte seinen Hals, während der warme Sommerwind in kurzen Brisen sein Gesicht streifte. Er war allein. Für einen Moment genoss er die Ruhe, um sich wieder zu sammeln.

Dann unternahm der Mann einen Ansatz, sich zu erheben. Doch bereits nach einer kleinen Bewegung stockte er in seiner Aktion. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Brust. Ruckartig biss er die Zähne zusammen und ließ sich erneut rückwärts zu Boden sinken. In der Wiese liegend atmete er weitere Male tief durch und entschloss sich zu einer anderen Methode.

Diesmal rollte er sich auf den Bauch und stützte sich mit den Händen ab. Langsam gelang es ihm schließlich, sich zu erheben. Nun überblickte der in Schwarz gekleidete Mann das Gebiet erneut. Er wusste, wo er sich befand. Er wusste es ganz genau. Und er erinnerte sich, was mit ihm passiert war.

Nachdem er den Lederhandschuh seiner rechten Hand ausgezogen hatte, glitten seine Finger unter die Kevlarweste und betasteten den Brustkorb, von dem ein permanentes, unangenehmes Ziehen ausging. Als er sie wieder herauszog, begutachtete er die Fingerspitzen. Kein Blut. Es mussten lediglich starke Prellungen und Blutergüsse sein. Einen gebrochenen Rippenbogen konnte der Mann ebenfalls nicht feststellen. Es war also nichts, was in den nächsten Tagen nicht verheilen würde.