Ein Kleid aus Seide

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

NACHMITTAG

Ezra war mit Saphyr unterwegs.

Wie ausgemacht, hatte er ihn am Parkplatz getroffen. Der Produzent erinnerte ihn immer an einen Flummi. Saphyr war klein und dick und sehr lebhaft. Ezra lernte auf den rasenden Streifzügen durch die Burg und das Haupthaus das ganze Anwesen besser kennen. Die Hälfte der Burg war von einem Wassergraben umgeben. Im Hof gab es eine Meierei, die aber so spät im Jahr nicht mehr geöffnet war. Das Haupthaus war über den Hof zu erreichen.

Beide Gebäude hatten eine Unzahl von Treppen und viele Türen und Tore. Die beiden liefen durch Ein- und Ausgänge hinein und hinaus. In den Hof und wieder in den Garten, bis sie beide sehr außer Atem waren. Schließlich fragte Saphyr in Not nach Luft: „Ja, wo ist sie denn?“

Ezra hatte bei früheren Projekten gelernt, wie mit Saphyr umzugehen war, nämlich passiv. Um sich nicht zu überanstrengen, nicht niedergebrüllt zu werden, keine Aufträge zu erhalten, die extrem belastend bis undurchführbar waren, hieß das Zauberwort Passivität. Absolute Reinheit von jeglicher Initiative. Der Blick musste völlig flach bleiben, ohne den geringsten Funken, ohne Spitze. In dem Moment, wo man irgendwo gezielt hinblickte, etwas sagte oder fragte oder auf andere Art auf sich aufmerksam machte, hatte man irgendeine unmögliche Aufgabe.

Folglich lief Ezra in drei Schritten Abstand hinter dem Eilenden, schweigend und still, und vermied bei jedem Anhalten den Blickkontakt. Auch Blickkontakt konnte als Aufforderung aufgefasst werden, und das war gefährlich. Saphyr schnaufte tief, seine Kondition konnte mit seiner Initiative nicht mithalten. „Ja, wo ist sie denn?“, wiederholte er. Ezra quittierte das mit völlig leerem Blick. „Ich brauch die Ponhomy“, sagte Saphyr, deutlich lauter werdend. Ezra sah die Wand an und wartete. „Sie müssen doch wissen, wo sie ist, schließlich sind Sie lang genug hier im Haus“, stellte Saphyr zu Ezra gewendet fest.

„Nein“, meinte Ezra freundlich und langsam. „Nein, kann ich nicht sagen.“ Keinesfalls durfte man sich in Erklärungen verstricken. Freundliche Absage war das einzig Richtige.

„Vielleicht ist sie gar nicht in der Burg, vielleicht ist sie im Haus.“ Der Produzent raste zum Haus, über eine Brücke, durch den Hof und wieder bei Türen hinein und wieder hinaus. Saphyr hatte es scheinbar gerne, wenn ihm jemand nachlief. Raus auf die Wiese und bei einer anderen Türe wieder hinein. Irgendwie waren sie beim Frühstücksraum gelandet, ganz in der Nähe von dem Ort, wo Rita gestorben war. Es war also gar nicht so schwierig, dort irrtümlich anzukommen.

Ein Buffet mit Brötchen war angerichtet für die Jagdgesellschaft, die auf Anordnung der Polizei noch anwesend war. Ezra hatte Interesse an den Brötchen, Saphyr nicht.

Da kam Frau von Ponhomy bei der Türe herein. Sie war im Mantel, mit einer von Udos Samenkapseln auf dem Kopf, in Grün. Jagd ist grün. Sie wirkte ausgeglichen, fast zu ruhig, dachte Ezra. Sie wirkte künstlich ruhig. Die sonst bei ihr spürbare Hektik war der Haltung der Hausfrau gewichen, die sich um Gäste kümmern musste. Sie hatte es vermieden, in Schwarz aufzutreten. Das Leben musste weitergehen, wichtig waren die Gäste. Sie sprach höflich interessiert mit einem Ehepaar und brachte eine Salz- und Pfeffergarnitur zu einem Tisch, an dem ein kleiner älterer Herr saß. Dann erst zog sie den Mantel aus und reichte ihn zum Wegbringen einem herum eilenden Kellner. Saphyr hatte sie in dem Augenblick erreicht. „Ich muss mit Ihnen wegen dem Filmprojekt sprechen.“

„Ach ja“, sagte Frau von Ponhomy höflich interessiert. Udos Samenkapsel hatte sie aufbehalten. War wahrscheinlich in der Hektik nicht beim Friseur gewesen. Es schauten schicke, dunkelblonde Ponyfransen aus der Hülle. Sie wirkte ruhig, mit viel Überblick, fiel dem aufmerksamen Ezra auf.

Mit der Samenkapsel überragte sie Saphyr um fast zwei Köpfe, eine Erscheinung! Und sie ließ sich nicht einkochen. Saphyr wollte zwischen Gästen und Brötchen günstigere Vertragsbedingungen, aber sie setzte dem freundlich harte Grenzen. Ja, die Verträge würde sie gerne übernehmen. Sie müsse sich erst klug machen, was da ausgemacht war, aber sicher, ja, das würde genauso weiterlaufen. „Kann ich Ihnen helfen, Herr Baumeister?“ Sie ging auf einen Mann zu, der mit panisch suchendem Blick bei der Türe stand.

„Ich suche meine Frau“, sagte der, und seine Kiefermuskeln arbeiteten unter dem Dreitagebart.

„Ich bilde mir ein, die habe ich gerade vor einer viertel Stunde noch hier gesehen, sie kann nicht weit sein“, sagte Frau von Ponhomy mit suchendem Blick. In Ezras Ohren rastete ein Marker ein – hier wurde gelogen. Warum? Vor einer viertel Stunde war Dame Ponhomy noch gar nicht im Raum, war doch gerade erst gekommen.

Es schien eine gute Art, mit dem Herrn Baumeister umzugehen. Seine verkrampfte Haltung löste sich ein wenig. „Möchten Sie nicht einen Aperitif nehmen? Vielleicht kommt sie gleich wieder.“ Sie führte ihn sanft und unmerklich zur Bar und lieferte ihn dort ab. Da kam die kräftige Dame mit der weißen Mesche im schwarzen Haar auf sie zu, Ezra hatte am Vortag kurz mit ihr gesprochen. „Oh, Frau von Salten“, sagte die Gräfin von Ponhomy, und Ezra fragte sich, ob der Adel nun abgeschafft war oder nicht. „Wo ist Edi?“, fragte die dröhnende Stimme der Frau von Salten. Suchte die auch ihren Mann?

Ezra hatte inzwischen ganz stark das Gefühl, einen Vorstoß starten zu müssen, einen Versuch, mehr über die Dame Ponhomy zu erfahren. Informationen sammeln war angesagt, alles, was Wolfgang helfen konnte. Er schaute zu Saphyr. Der trat von einem Fuß auf den anderen, er war mit Frau von Ponhomy noch nicht fertig. Ezra entschuldigte sich kurz und lief auf den Gang.

Ein Kellner kam mit einem Teller. „Wo ist jetzt doch gleich die Garderobe?“, fragte Ezra. „Ich glaube, ich habe mich schon wieder verlaufen.“ Der Kellner bestätigte höflich, dass das in dem Haus sehr üblich war, und wies auf einen Raum ein Stück den Gang hinunter.

Ezra fand eine kleine Kammer vollgestopft mit Kleiderständern. Er suchte einen grünen Mantel, ein bestimmtes Grün, kein Loden, wo war der? Sein Auge überflog den See von Mänteln aller Farben – ein mittleres, ein wenig blaustichiges Grün. Er wanderte um die Ständer herum, es sollte ihm nur keinesfalls jemand helfen kommen. Schließlich fand er ihn ganz hinten. Schneller Blick, lauschen, nein, keine Schritte. Oder doch Schritte? Ja, deutlich, Schritte.

Ezra stand im Raum und ordnete Dinge in seinen Hosentaschen. Alles, was man so eben tut, wenn man seinen Mantel gerade ausgezogen hat. Ein Mann kam eine Jacke holen und ging wieder.

Schnell durchsuchte er wie geplant die Taschen des grünen Mantels. Autoschlüssel, Fahrschein markiert, ein Päckchen Bilder – stellten alle das gleiche dar. Er ging unter die Lampe, alle stellten Frau Ponhomy in einer roten Robe dar. Und dann war da ein Brief. In einer wackeligen und unsicheren Schrift: … und du gibst es am Friedhof zum Grabstein und fragst nicht lang, und ich will auch nicht, dass du‘s irgendjemandem sagst. - Fast wie von einem Kind geschrieben wirkte das.

Ezra stopfte alles wieder zurück. War das ein Erpressungsschreiben? Wer erpresste hier wen? Warum hatte sie gelogen? Sie wollte wohl den Herrn Baumeister beruhigen. Warum musste er beruhigt werden?

Als Ezra zurückkam, war Saphyr euphorisch. Er hatte zwar nichts zusätzlich verdienen können, aber das Projekt war gesichert, wie ursprünglich geplant. Sie gingen in den Garten.

Sie standen am Teich und sahen aufs Wasser, vis a vis die Burgmauer, aus großen Steinblöcken gebaut, dunkelgrau, grob.

Ruhe zog im Produzenten ein und seine Vermarktungsabteilung begann, langsam zu blühen. „Ein Film ist nicht nur ein Drehbuch, eine Kamera, Schauspieler und eine Abrechnung. Ein Film ist etwas ganz anderes“, sagte er leise. „Ein Film ist eine Parallelwelt. Er ist eine eigene Lebensform, ein besonderes Biotop. Es schläft. Man muss es erwecken. Filme haben eine eigene Kultur, wie Inseln. Jeder eine andere. Man muss ihm schnell helfen, seine Kultur sichtbar zu machen, weil er meist eine kurze Jugend hat. Allein schon an den Kostümen und den Gesichtern der Schauspieler, die man aussucht, entstehen die Regeln dieser Welt. Sie entstehen an der Farbe. Und wie beladen die Bilder sind. Vollgeräumte oder leere Bilder, grau oder strahlend, die Parallelwelten schwimmen in einem Meer von Farbe oder Nicht-Farbe mit Spiegelungen der Realität.“

Er schaute um sich. „Wir haben hier eine Burg als Bild. Grauer Stein ist die Kulisse, das Drehbuch eine Vampirsache, das geht im Moment sehr gut. Die Erotik des Ausgesaugt-Werdens ist in. Ich glaube, irgendwo hier gibt es auch einen Friedhof. Damit sind alle bekannten Artefakte versammelt, alle Normen für Vampire. Und jetzt beginnt das Biotop zu blühen. Jetzt könnte sich der Vampir aus einem Fenster oder von der Burgmauer runterlassen, in einem schwarzen, aufgeblähten Mantel und jeder rutscht sich in seinem Sessel bequem zurecht und weiß, was da kommen wird. Aber da setzt die Kunst der Werbung ein: Man muss mehr draus machen, das Ganze ist so noch B-Movie, reines B-Movie. Wahre Kunst und der große finanzielle Erfolg sind nur dann gegeben, wenn man mit dem Geld für B-Movies eine neue Welt herstellt, die aber vielleicht noch ein bisschen etwas von der alten hat – damit sie jeder versteht.

Dieser Film, an dem wir da arbeiten, hat das Zeug zum großen Erfolg, denn er beginnt mit zwei echten Morden hinter der Kamera – nicht vor ihr. Das Drehbuch ist wohl noch B-Movie, aber wir machen etwas draus. Wir werden ein neues Paradies für Kinogeher herstellen.

Ich habe schon die nötigen Informationen aufgeschrieben. Morgen geht es an die Presse: Hier wurde alles für einen mystischen Film vorbereitet, habe ich geschrieben. Der Beginn der Dreharbeiten wurde durch die Morde überschattet, beunruhigend, als ob ein Fluch über dem Ort läge.

 

Und dann tatsächlich: Während der Vorbereitungen wollten wir ein altes Steinbecken als Kulisse verwenden, so wie dieses dort am Haus.“ Er geriet ins Träumen. „Wir haben es aus der Mauer genommen. Dahinter kam ein Skelett zum Vorschein. – mit einem Loch im Kopf. Genau wie bei dem Mordopfer.“ Seine Hände formten Skelett hinter der Mauer, bildhaft, fast zärtlich. Schließlich setzte er große Hoffnungen in den angeblichen Fund. Er hielt inne, dachte nach. „Ist leicht zu beschaffen, ist vielleicht aber auch zu erwarten“. Der Gedanke enttäuschte ihn. „Skelette findet man immer an solchen Plätzen. Ich denke, wir finden besser die Mumie eines Hundes, auch wenn die schwerer zu beschaffen ist, mit einem Loch im Kopf. Das Loch im Kopf ist die Verbindung zur Wirklichkeit“, erklärte er Ezra. „Hunde sind gut. Die Leute erleben Hunde wie eh und je sehr zwiespältig, wie Vampire auch. Auch Hunde sind Erotik, aber nicht zwischen Tod und Leben wie Vampire, sondern Schutz und unbezähmbare Gewalt. Ist viel besser als ein Skelett. Wir nehmen den mystischen Hund als Symbol. Das passt auch gut, weil ja der eine Mord mit einem Stein in Form eines Hundes begangen wurde. Ich muss das umschreiben.“

Ezra kam kurz der Gedanke, ob Saphyr Rita am Gewissen hatte, Mord für eine Werbekampagne. War das zu weit gedacht?

Saphyr arbeitete laut an seinen Gedanken. „Wir müssen den Hund nur ins Drehbuch einfügen. Aber das kann nicht das Problem sein“, sagte er endgültig. Dann spann er seine Werbekampagne weiter. Seine sehr kleinen, dicken Hände machten Gesten der Geheimhaltung, als ob eine Decke über alles gebreitet werden sollte. „Es herrschte hier die ganze Zeit eine seltsame Anspannung, alle Beteiligten spürten es, die Vorahnung. Es wurde das Grauen ans Tageslicht geholt, in Bewegung gebracht. Alte Geschichten tauchen auf, Vergangenheit, die nicht bewältigt wurde…“ Saphyr arbeitete an seinem eigenen Skript. „Was könnte das sein?“

Irrtümlich brach Ezra seine Saphyr–Regel und fragte: „War da nicht ein Drehbuch?“

„Ach ja, sorgen Sie bitte dafür, dass genügend Exemplare vorhanden sind, das wird benötigt, auch wenn wir uns nicht bedingungslos daran halten.“

Verdammt, das hatte er davon.

SPÄT

Herr Watz irrte durch die Burg. Seit dem Nachmittag vorher war er wirklich beunruhigt. Etwas belastete ihn sehr, war nicht aus seinem Kopf zu bekommen. Sonst immer verdrängte er Gefühle gut. Konnte er nicht brauchen, diese Unpässlichkeiten in der Brust. Immer, wenn ein Gefühl ihn bedrohte, kümmerte er sich ums Geschäft.

Er hatte sich aber nicht wirklich ums Geschäft kümmern können, wegen der Morde. Man ließ ihn nicht weg. Er hatte natürlich mit der Buchhaltung und dem Lieferhof telefoniert. Den Vertrag mit dem Hotel nochmals besprochen… Alle bestehenden Verträge mussten tadellos erfüllt werden. Die neue Schiene „Hotelbetreuung Sanitär“ funktionierte. Er hatte so viele Aufträge, dass er sich kaum erwehren konnte. Aber wichtig war bei dem Paket die Verlässlichkeit. Das hatte er geregelt, und das war gut, und jetzt war er wirklich sehr beunruhigt. Die Beunruhigung hatte ihn fest im Griff seit diesem Nachmittag gestern.

Während er mit seiner Firma beschäftigt war, hatte sich die Unruhe nur leise immer wieder gemeldet, hatte leichte Verstörtheit in seinem Hinterkopf erzeugt, immer wieder angefragt, ob er der Sache bereits nachgegangen war.

Nein, so etwas konnte man nicht auf sich beruhen lassen. Das war eine Verpflichtung, ein Muss. Man konnte einen so jungen Flüchtling nicht in so einem Puff arbeiten lassen. Für Herrn Watz waren Mode und Präsentation von Mode ganz nahe an der Rotlichtszene angesiedelt. Er kannte das Mädchen nicht, hatte ja nur kurz mit ihm gesprochen, gestern im Hof, als der tote Ponhomy ins Haus gebracht wurde. Er hatte aber das Gefühl, dass die Sache etwas mit Zwangsprostitution zu tun hatte. Da konnte er nicht zuschauen. Es war seine Bürger- und Menschenpflicht, das in Ordnung zu bringen, wie wusste er noch nicht.

Er kam durch die Halle mit den Käfern und den Rüstungen und fand schließlich den Ort, an dem Udo kreativ war. Theresa stand vor ihm und er schlang Stoffbahnen um sie. Sie hatte nur ein graues Spitzenhöschen und silberne Socken an, weil Udo versuchte, ein einseitig schulterfreies Minikleid zu kreieren. Als Herr Watz in den Raum platzte, sahen ihn alle verwundert an. Udo machte weiter und setzte Theresa eine neue Kopftuchkreation auf. Rod steuerte auf den Installateur zu.

Herr Watz stand wie angewurzelt. Er hatte gerade eben, in diesem Moment, die Bestätigung aller Befürchtungen erhalten, als er Theresa nackt – für ihn völlig nackt – dort stehen sah. Zwangsprostitution, er hatte es geahnt. Er war zu erfahren, auch zu intelligent, um laut zu schreien, große Anschuldigungen zu erheben. Aber in dem Moment wurde Gewissheit, was er die ganze Zeit befürchtet hatte. Hier musste eingegriffen werden.

Rod meinte höflich, dass in diesen Räumen die Modefirma Sanguin arbeite und es wäre leider nicht möglich, hier zuzusehen, obwohl er natürlich verstehe, wie interessant das sei. Nur, die Mode sollte nicht zu sehen sein, bevor sie fertig war. War ein Geheimnis.

Nach Herrn Watz´ Meinung hatten Rod und wahrscheinlich die ganze Firma die Moral einer Laus. Aber ihm eins in die Fresse zu hauen, war nicht zielführend. So sagte er, dass er die junge Dame nur auf ein spätes Dinner einladen wollte.

Rod hatte natürlich sofort Klarheit. Der Alte war hinter Theresa her. Das war kein Problem. Wenn er kurz draußen warten würde, würde sich Rod sofort darum kümmern. Er transportierte den alten Herrn geschickt vor die Türe und ging Theresa fragen: „Dein alter Herr will noch ein Dinner mit dir nehmen?“

Theresa hatte keine Vorstellung, wer ihr alter Herr sein könnte. Es machte sie aber neugierig. Vielleicht ein neues Angebot? Gut bezahlt und mit dem geschwollenen Knie zu schaffen? Schwierig war nur, Udo zu fragen, wann sie weg konnte. Der wollte solche Fragen nicht, wenn er kreativ war. „Sag, ich ruf ihn an, wenn ich fertig bin. Er soll dir seine Handynummer lassen.“

Udo brauchte immer zwischendurch kreative Pausen. Das war der Moment, an dem Rod ein anderes Model besorgte, und Theresa konnte weg. Ella sprang ein. Ella war ein wenig dunkler als Theresa, farbiger, ein wenig rötlich-braun. Theresa hoffte, Udo konnte das verkraften, war in seiner Kreation nicht zu sehr auf ihre Blässe fixiert.

Sie war inzwischen sehr erschöpft. Manche Teile schmerzten immer noch. Das späte Dinner war ihr eigentlich zu viel, sie wäre lieber schlafen gegangen. Ein wirklich weiches, warmes Bett war eine wundervolle Hoffnung, aber ein eventuell gutes Geschäft konnte sie nicht auslassen. Weil sie keine Ahnung hatte, worum es ging, musste sie zupacken.

Als sie in den Speisesaal kam, erkannte sie ihn sofort. Was wollte er ihr wohl anbieten? Der war nicht aus der Modebranche. Sie hatte also richtig entschieden, nicht im Arbeitslook aufzutreten, kein Design. Sie hatte sich nicht getraut, die ganz bequemen Sachen anzuziehen, war aber aus Müdigkeit auch nicht mehr in der Lage, perfektes Styling zu betreiben. So kam sie in bequemen, weichen Hosen, kaum geschminkt, nur die schlimmen Stellen übertüncht, dünn und blass.

In der Zeit bis zu ihrem Eintreffen hatte sich im Kopf, im Bauch, in den Händen von Herrn Watz eine wahnsinnige Wut aufgebaut, denn der buntschillernde Fleck auf ihrem Oberarm war nicht zu übersehen gewesen. Er hätte nicht gedacht, dass diese Mode- Gesellschaft so mafiös war, dass die Gewalt anwendeten, um sich junge Mädchen, fast noch Kinder, gefügig zu machen.

Aber jetzt wusste er es.

Wahrscheinlich konnte sie nicht so mutig sein und dort einfach aussteigen, überlegte er. Er musste die Sache vorsichtig angehen, sie Schritt für Schritt aus diesem Sumpf herauslösen.

Sie setzte sich zu ihm, ganz ruhig, denn ihrer Meinung nach war das ein Geschäftsessen, auch wenn sie sich das Geschäft dahinter noch nicht recht vorstellen konnte.

„Arbeitet ihr immer so spät?“, eröffnete er.

„Oh ja, vor einer Show geht’s oft die ganze Nacht durch und man muss aufpassen, dass man dann am nächsten Tag keine Ringe unter den Augen hat. Dafür brauche ich immer die Menge Abdeckung“, meinte sie fröhlich.

Sie hatte Probleme mit der Speisekarte, - zwei cm mehr, das ging nicht „Udo zwingt mich morgen, ein Kilo Abführmittel zu nehmen, wenn ich das alles esse“, erklärte sie ihm.

Seine Wut stieg. Das Kind war nur Haut und Knochen und dann durfte sie nicht essen! Der Gedanke war ihm unerträglich. Aber er hatte noch nicht wirklich eine Strategie, wie er mit der ganzen Sache umgehen konnte. Deshalb fragte er: „Hast du dir wenigstens gute Verträge ausgehandelt?“

Sie stocherte auf ihrem Teller und überlegte, ob sie ihm solche Dinge erzählen wollte. Vorsichtshalber hängte sie ihren dummen Blick ein, damit sie Zeit zum Nachdenken hatte.

Er fand die Situation wie erwartet. Ja genau, wie er vermutet hatte: Sie konnte nicht darüber sprechen, weil sie sonst noch mehr Prügel bezog. Vorsichtig meinte er: „Es gibt Jobs, die nicht so schwierig sind.“

Sie war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass sie ihm sehr wohl von den Finanzen erzählen würde. Erstens sah er nicht gefährlich aus und zweitens wollte sie ihm Einblick in ihre Gage hier in der Burg geben, damit er sich danach richtete bei einem Angebot.

Mit vollem Mund meinte sie: „Ich hatte eine Sondernacht – Foto – und die haben 1000 bezahlt. Euro. Und dann hat uns Ponhomy für den Film engagiert und hat sich noch nicht richtig ausgekannt, wie ich ihn gefragt habe. Er wollte nicht, dass wir’s merken, deshalb hat er zu der gleichen Gage zugestimmt. Jetzt ist er zwar tot, aber Udo hat gesagt, das Projekt geht weiter. Die Ponhomy übernimmt die Verträge.“

Sie befasste sich intensiv mit ihrem Teller und Herr Watz war am Denken. Sie setzte fort: „Das heißt, so wie es aussieht, läuft die Gage weiter. Ich bin sehr zufrieden.“ Sie wischte ihre Fingerspitzen ab. „Natürlich geht davon noch etwas weg. Aber es bleibt auch etwas“, meinte sie sachlich.

Musste sie an diese Zuhälter Teile ihres Verdienstes abführen? Aber sie war wohl sehr stolz auf ihre Gage, das sah man ihr an. Er musste sehr vorsichtig sprechen, sie war ja noch so jung und voller Illusionen. Er war schließlich zu einem Entschluss gekommen. „Ich möchte für meine Firma eine neue Werbelinie eröffnen“, leitete er das Projekt Theresa-in-Sicherheit-bringen ein.

„Oh“, sagte sie. „Was ist denn das für eine Firma?“

„Ich bin Installateur.“ Das entsprach nur einem kleinen Teil seiner Firma, es war sozusagen die Grundlage gewesen. Die Sache hatte sich vor allem in den letzten Jahren weiterentwickelt. Aber Installateur war sicher ein Begriff, mit dem sie etwas anfangen konnte, dachte er.

Theresa sah ein nettes, kleines Geschäft an der Hauptstraße, so wie sie es von Bugoyne gekannt hatte. In der Auslage sah man Wasserhähne und einen Boiler und er wollte das Ganze wohl ein bisschen ankurbeln. „In welche Richtung lässt sich denn ein solches Geschäft weiterentwickeln?“, fragte sie mit echtem Interesse.

„Da gibt es schon Möglichkeiten, obwohl die Konkurrenz groß ist.“

Sie überlegte ganz ruhig. „Ja, wahrscheinlich eine ziemliche Konkurrenz aus dem fernen Osten, die können doch viel billiger produzieren.“

Angesprochen auf das Zentrum seiner Überlegungen der letzten Jahre, begann er zu erzählen, und Theresa hörte fast andächtig zu. Er berichtete davon, dass er genau das gesehen hatte. Die schönsten Einrichtungen aus kostbaren Materialien gab es in Fernost billig, extrem billig. Aber Leute suchten sich einen Installateur in der Nähe, um sicher zu sein, dass jemand kam, wenn etwas undicht oder verstopft war. Deshalb hatte er begonnen, an große Firmen, Spitäler und jetzt vor allem Hotels Service zu vermieten, Material mit Überwachung. Verlässlichkeit und Überblick lieferte er gegen Verträge.

„Ja“, sagte sie staunend und bewundernd. „Ich kann mich erinnern, dass bei uns in den Ferienressorts ewig ein Problem mit Wasser und Klo war.“

Die restliche Stunde bis die Bar schloss, berichtete er von seinem Geschäft und hatte eine Zuhörerin, wie er sie noch nie gehabt hatte. Dieses Interesse an einem Geschäft konnte sie gut verstehen. Es stellte sich heraus, dass er auch hier in Burg und Haupthaus alles überwachte, deshalb war er zur Jagd eingeladen gewesen – ein Pflichttermin ohne Begeisterung.