Mörderhölzli

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

1. Das Leben in der Schweiz um 1900

2. Die Akten

3. Das Böse. Mitte Februar 1906

4. Im Pfarrhaus in Altikon

5. Strenge Sitten

6. Anna Müller

7. Elefantengedächtnis

8. Hinterhof

9. Am Brunnen vor der Türe

10. Ein Automobil. Donnerstag, 22. Februar 1906

11. Modenschau

12. Schlachtplatte

13. Gefallen

14. Nachtmahr. Mittwoch, 21. März 1906

15. Der erste Frühlingstag

16. Die Macht des Weibes

17. Gewalt

18. Bloss kein Kind. Sonntag, 1. April 1906

20. Mäuse und Chüngel

21. Karwoche. 13. April 1906

22. Karfreitag. 15. April 1906

23. Ostersonntag. Mittwoch, 18. April 1906

24. Ein dummer Tag. Mittwoch, 25. April 1906

25. Rache. Anfang Mai 1906

26. Ein bisschen Ruhe. Sonntag, 6. Mai 1906

27. Ein heikles Thema

28. Unheil. Zweite Maiwoche 1906

29. Es geschah am helllichten Tag. Aus den Akten

30. Der Mord

31. Späte Erkenntnis. Aus den Akten

32. Die Zeugen. Aus den Akten

33. Polizei und Bezirksanwaltschaft nehmen die Ermittlungen auf. Sandra Gatti ermittelt

34. Oberleutnant Locher und der erste motorisierte Verkehr im Kanton

35. Ausnahmezustand. Aus den Akten

36. Der Steckbrief eines Verdächtigen. Aus den Akten

37. Die Section. Sandra Gatti ermittelt

38. Die Spur führt nach Dinhard. Aus den Akten

39. Der Verdächtige Ulrich. Aus den Akten

40. Die Zigarre des Täters. Aus den Akten

41. Die Belohnung. Aus den Akten

42. Der Verdächtige Ernst Altwegg

43. Totenglocken 16. Mai 1906

44. Abschied

45. Und ein Wiedersehen

46. In der Höhle des Löwen

47. Abendstimmung. Aus den Akten

48. Der Verdächtige Wohlgemuth. Aus den Akten

49. Irreführung der Rechtspflege. Aus den Akten

50. Der Verdächtige Heinrich Rüeger. 18. Mai 1906

51. Emma ermittelt

52. Familiengeschichten

53. Am Tatort

54. Noch eine Leiche. Wochenende vom 19./20. Mai 1906

55. Sämi im Verhör. 21. Mai 1906

56. Ausgewandert

57. Antworten. Aus den Akten

58. Die Ermittlung in den folgenden Jahren. Aus den Akten

59. Das familiäre Umfeld des Opfers. Sandra Gatti ermittelt

60. Die Alibis der Familienangehörigen. Sandra Gatti ermittelt

61. Warum wurde der Fall nie geklärt? Sandra Gatti ermittelt

62. Das Pfarrersmädchen. Sandra Gatti ermittelt

63. Wer war es? Sandra Gatti ermittelt

64. Leonhardts Selbstladepistole. Sandra Gatti ermittelt

65. Zwei Zeitzeuginnen aus der Familie. Sandra Gatti ermittelt

66. Nur ein Gerücht oder schreckliche Tatsache? Sandra Gatti ermittelt

67. Was aus der restlichen Familie Müller wurde

68. Der Mörder entging der irdischen Gerechtigkeit. Sandra Gatti ermittelt

69. Was Albert Einstein mit der ganzen Sache zu tun hatte

Bilddokumente

Nachwort und Dank

Quellenangaben

Sandra Gatti-Müller

Mörderhölzli

Der Lustmord an Anna Müller von 1906

Impressum

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© Copyright by Sandra Gatti-Müller

Vertrieb: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

E-Book-Programmierung: Dr. Bernd Floßmann, Berlin

«Solltest du wirklich die Augen öffnen und sehen,

du würdest dein Ebenbild in allen Bildern erblicken.

Und solltest du deine Ohren öffnen und hören,

du würdest deine eigene Stimme in allen Stimmen hören.»

Khalil Gibran, 1883 – 1931

Für meine Kinder

Virginia und Manuel

Vorwort

Wir schreiben das Jahr 1906 in Altikon, einer kleinen Landgemeinde am Rande des Zürcher Weinlandes. Im Mai jenes Jahres wurde eine junge Frau auf bestialische Art und Weise getötet. Diese junge Frau war die Schwester meines Urgrossvaters.

Altikon (dazu gehören auch die Weiler Herten, Feldi, Schneit und zahlreiche Siedlungen) liegt rund zehn Kilometer nördlich von Winterthur und grenzt direkt an den Kanton Thurgau. Es ist der Fleck im Kanton Zürich, wo die Leute «nid» statt «nöd» sagen und deshalb von den Stadtmenschen belächelt werden, wo sich der Löwenzahn «Puggele» nennt, der Wald «Holz» und das Wäldchen «Hölzli» heissen und wo der Nebel auch im Mai noch bis zum Mittag dick und feucht in der Luft kleben kann.

Die Gegend ist sehr ländlich, Felder, Wälder und Wiesen umgeben die Gemeinde. Nach Süden in Richtung Winterthur ist das Dorf durch einen lang gezogenen Hügel von Rickenbach­ und Dinhard getrennt. Der Blick der Altiker muss zwangsläufig nach Norden schweifen, hinunter zur Thur, welche die Kantons- und Gemeindegrenze bildet, dann zügig weiter westwärts fliesst und bald darauf in den Rhein mündet. Trotz der Nähe zu Winterthur und Frauenfeld war Altikon zu jener Zeit eine kleine Welt für sich, friedlich und beschaulich. Die Uhren ticken hier noch heute etwas gemächlicher.

Rund vierhundert Menschen lebten damals in Altikon, mehrheitlich waren es Bauersleute und Handwerker. Viele waren Selbstversorger, mithelfen mussten alle, Kinder ebenso wie die Grosseltern, jeder nach seinen Möglichkeiten. Freizeit war ein Fremdwort. Nur der Sonntag wurde, so gut es ging und wenn es das Wetter zuliess, arbeitsfrei gehalten.

In jener Zeit war die Kindersterblichkeit hoch: Allein im ersten Lebensjahr starben mehr als 15% der Säuglinge. Viele Krankheiten waren bedrohlicher als heute, die Erfindung des Antibiotikums lag ja noch in ferner Zukunft. Die Frauen gebaren viele Kinder und dieses Ereignis war ein grosses Risiko für Mutter und Kind.

Der Tod war deshalb wohl oder übel ein akzeptierter und respektierter Gast in der Gesellschaft um die Jahrhundertwende, wenn auch nicht dergestalt, wie er den Altikern in jenem Frühling urplötzlich begegnete. Die heile Welt bekam einen Riss.

Der brutale Mord an der 21-jährigen Anna Müller erschütterte das Dorf und die ganze Region. Danach war nichts mehr wie vorher. Und der Tatort, das Wäldchen, wo dieses schreckliche Verbrechen begangen wurde, heisst auch mehr als hundert Jahre danach noch Mörderhölzli.

Eine andere junge Frau, sie hiess Emma Bachmann, spielte eine wichtige und dramatische Rolle in dieser ganzen Geschichte. Sie war viele Jahre als Dienstmädchen beim Altiker Pfarrer tätig und mit Anna befreundet. Sie trug – wenn auch gezwungenermassen und unwissentlich – entscheidend zum Mord bei. Geschähe dieses schreckliche Verbrechen heute, die Polizei würde umgehend bei Emma vorsprechen und sie befragen. Damals geschah nichts dergleichen. Niemand verhörte Emma, sie war ja nur eine Dienstmagd. Aber eben, die Polizei kam nicht weiter und der Mörder ungeschoren davon. Der Fall blieb offiziell ungeklärt.

 

Auch wenn schon mehr als hundert Jahre vergangen sind: Heute finden wir Antworten auf die Fragen, die damals nicht gestellt wurden. Kommen Sie mit und lernen Sie die arme Anna, die Dienstmagd Emma und das alte Altikon kennen. Begleiten Sie mich auf die Reise ins Jahr 1906 und die spannende Suche nach dem Mörder.

Sandra Gatti-Müller

1. Das Leben in der Schweiz um 1900

Um die Jahrhundertwende lebten in der Schweiz rund drei Millionen Menschen. In Mitteleuropa herrschte seit etwa dreissig Jahren Friede und das Wort «Weltkrieg» gab es noch nicht. Der technische Fortschritt war in vollem Gange: Elektrisches Licht war erfunden, Dieselmotoren wurden gebaut, Fahrzeuge und Maschinen ersetzten nach und nach die Muskelkraft. Im Jahr 1899 vermeldete das Patentamt in New York, dass jetzt «alles Erfindbare» erfunden sei.

Der Luxus der Stromversorgung war erst in einigen grösseren Städten verfügbar. In den ländlichen Gebieten der Schweiz lebten die Menschen nach wie vor ohne elektrisches Licht; man hatte Petrol- oder Gaslampen und Kerzen. Auch Kühlschränke gab es zum Beispiel noch nicht. Die Milch hielt sich im kühlen Keller höchstens zwei bis drei Tage. Geheizt und gekocht wurde mit Holz.

Tagwach war auf dem Land mit der Morgendämmerung, Feierabend zwangsläufig bei Einbruch der Dunkelheit. Die Kirchenglocken halfen bei der Zeiteinteilung. Die Menschen arbeiteten körperlich und waren viel auf den Beinen. Sport war deshalb schlicht unnötig. Die meisten Distanzen wurden zu Fuss zurückgelegt, denn auch Velos waren bei der einfachen Bevölkerung nicht sehr verbreitet. Dafür besassen die Bauern Ochsen, manchmal auch Pferde, die Fuhrwerke zogen und bei der strengen Arbeit auf dem Feld halfen.

Bei der Arbeiterschaft in der Stadt verschlang die Ernährung den grössten Teil des Einkommens. Der Stundenlohn betrug je nach Branche und Geschlecht des Arbeitnehmers um die 30 Rappen, ein Wochenlohn bewegte sich bei rund 20 Franken. Die Hälfte ihres Einkommens mussten die Menschen damals für Nahrungsmittel ausgeben. Heute sind es hierzulande weniger als 10%. In nur einer halben Stunde haben wir unser tägliches Brot bereits verdient.

Das war um 1900 ganz anders: Ein Liter Milch kostete etwa 22 Rappen, ein Kilogramm Kartoffeln 9 Rappen, ein Kilogramm Rindfleisch 1 Franken 57 Rappen und ein Kilo Bohnenkaffee sogar 1 Franken 80 Rappen. Und wenn ein neues Paar Schuhe wirklich dringend nötig wurde, so bezahlte man dafür rund 10 Franken. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass auf dem Land die Kinder den Grossteil des Jahres barfuss gingen.

2. Die Akten

Der Frühling des Jahres 2012 war mehr nass als wonnig, als ich dem Verbrechen im Mörderhölzli überraschend auf die Spur kam. Die offiziellen Ermittlungsakten zum «Lustmord an Anna Müller» aus dem Jahr 1906 existierten immer noch!

Meine Grossmutter aus Altikon blieb Ende der Siebzigerjahre, auf den schrecklichen Namen dieses Wäldchens angesprochen, vage: Vor sehr, sehr langer Zeit sei da ein Mädchen ermordet worden. Punkt. Ein Schauder lief mir über den kindlichen Rücken und ich wartete gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte. Meine Grossmutter wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Und dann, fast nebenbei, bemerkte sie, beim Opfer könnte es sich eventuell um eine entfernte Verwandte von uns gehandelt haben. Damit war die Fragestunde definitiv beendet. Ich spürte, dass sie glaubte, bereits zu viel erzählt zu haben. So blieb ich allein mit meinen Fantasien und mit meiner Neugier. Irgendwann geriet die Geschichte wieder in Vergessenheit.

Mehr als dreissig Jahre später führte mich eine Reise nach Wien zwangsläufig auch in die Kaiserzeit von Sissi und Franz Josef und weckte in mir überraschend glühendes Interesse für die Zeit um 1900.

Ein paar Tage später sass ich wieder mit meinen Kindern am Esstisch und schwärmte von meinen Erlebnissen. Nach den obligaten «Was wäre wenn?»-Fragen meiner Tochter landeten wir wieder einmal beim Geheimnis um das Mörderhölzli.­ «Ich weiss nicht einmal, wann dieser Mord passiert ist», klagte ich. Alle drei starrten wir gedankenversunken vor uns hin. Da fiel der Satz, der bei mir alles in Gang setzte. Mein Sohn sagte: «Man sollte halt zumindest mal einen Anhaltspunkt haben.»

So einfach, so klar. Ich begann zu fragen und zu forschen. Und wer sucht, der findet.

Also stattete ich dem Staatsarchiv meinen ersten Besuch ab. An einem trüben Samstagmorgen füllte ich am Empfang eine Registerkarte aus. Beim Forschungsthema schrieb ich: «Verbrechen im Kanton Zürich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Die junge Mitarbeiterin am Empfang instruierte mich gewissenhaft: «Sie lassen bitte alle Sachen wie Tasche und so weiter hier in der Garderobe. Die Akten dürfen fotografiert werden, aber ohne Blitz. Es hat Stromanschlüsse für Ihren Laptop. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Aufsichtsperson, ansonsten herrscht im Lesesaal Ruhe.»

Für meine hinterlegte Identitätskarte bekam ich einen Badge – den Schlüssel zur Wahrheit. Begleitet von elektronischem Piepsen gelangte ich dann durch zwei schwere Türen in den Lesesaal, wo zwei ältere Herren mit noch viel älteren Büchern beschäftigt waren. Gespannt setzte ich mich an einen freien Platz in der Nähe des Fensters und wartete.

«Ich möchte Sie warnen», hatte mir die zuständige Archivarin im Vorfeld geschrieben, «der Fall ist ziemlich heftig. Bringen Sie starke Nerven mit.»

Da durchschnitt wieder das Piepsen die Stille. Eine Tür im hinteren Teil des Raumes öffnete sich und ein Angestellter schob einen Wagen geräuschlos vor sich her. Das ernste Gesicht des Mitarbeiters und seine gemessenen Schritte erinnerten mich an den Transport einer Leiche. Die «Bahre» war an der Stirnseite mit «Gatti» beschriftet. Auf dem obersten Tablar befanden sich zwei grosse graue Archivschachteln.

Nachdem sich der «Totengräber» zurückgezogen hatte, hob ich vorsichtig die erste Schachtel vom Wagen. Behutsam legte ich sie auf den Tisch und öffnete sie. Der Geruch von altem Papier, Staub und Geschichte umwogte mich.

Statt durch die erhofften Fotos kämpfte ich mich erst einmal stapelweise durch Papier. Viele Dokumente waren in einer alten, schwer leserlichen Handschrift abgefasst. Dazwischen fanden sich auch sauber mit der Maschine getippte Aktenstücke. Zeitungsartikel erweckten meine Aufmerksamkeit, die Berichte von Polizei und Bezirksanwaltschaft und eine Menge Haftakten. Waren die etwa alle von Verdächtigen? Ich blätterte aufgeregt weiter. Da! Der Bericht des Arztes über die «Section». Der Amtsarzt hatte von den Verletzungen am Hals des Opfers eine Zeichnung angefertigt. Etwas weiter unten stiess ich auf das einzige Foto in den gesamten Akten.

Die grausame Tat lag jäh als düsteres, leicht vergilbtes Foto vor mir.

Im halbdunklen Hintergrund stehen zwei Männer mit Arztkitteln. Beherrscht wird das Bild von einer jungen Frau. Sie liegt auf einem Bett. Vermutlich ist es ein Doppelbett, denn daneben ist ein voluminöses Kopfkissen zu erkennen. Die Tote ist nackt, ihr Kopf ruht auf einem runden Stück Holz. Der eine Arm zeigt angewinkelt nach oben, als ob sie es sich am Strand bequem gemacht hätte. Ihr Gesichtsausdruck erscheint neutral, aber ihre Augen, im Tod erloschen, sind weit aufgerissen. Vom Brustbein bis zu ihrem Schambereich führt ein langer tiefer Schnitt. Die Därme quellen aus dem Dunkel des Bauches heraus und hängen auf ihrer rechten Seite bis fast auf das weisse Laken.

Ich zwang meinen Blick weg vom Bild. Die Aufsichtsperson vorne im Saal war mit einer Schreibarbeit am Computer beschäftigt, liess ihren Kontrollblick aber in regelmässigen Abständen durch den Saal schweifen. Rechts oben von der Ecke aus beobachtete mich eine Kamera, das rote Licht blinkte aufmerksam. Der Staat beschützt seine Akten gut.

Meine Gedanken schweiften ab zum Haus unterhalb der Kreuzstrasse in Altikon, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte und wo auch Anna und ihre Familie gelebt hatten. Ich stand der Familie damals sehr nahe. Und jetzt stand ich wieder vor ihrer Geschichte und ihrem Schicksal. Niemand vor mir hatte das schreckliche Verbrechen an Anna Müller gesühnt. Ich spürte eine offene Wunde, die nie verheilt war. Immer tiefer tauchte ich in die Geschichte ein und langsam erwachten Anna und ihr Umfeld wieder zum Leben.

3. Das Böse

Emma spürte etwas Bedrohliches, Böses. Es war da, hier zwischen den Bäumen in den Dämmerstunden dieses Wintertages. «Es ist der Tod», ging es Emma durch den Kopf, und sie nahm diese Gewissheit mit Demut hin, so, als ob es sie nicht weiter kümmern müsste.

Aber dann bekam das Böse eine Gestalt. Ein grosser Vogel schwebte auffallend langsam und nur wenig über dem Boden durchs Unterholz herbei, die Flügel fast unmerklich bewegend. Ein Rabe? Sein Blick schien in weite Ferne gerichtet und Emma wusste, dass er sie nicht wahrnahm. Aber seine Botschaft war unmissverständlich.

Verzweifelt raffte Emma ihre Röcke zusammen und lief weg, immer tiefer in den Wald hinein. Hinter sich «hörte» sie förmlich die unheimliche Stille, denn die Singvögel und Insekten des Waldes waren verstummt. Kein Schrei, kein Flügelschlag. Sogar der Eichelhäher hielt sich geduckt. Sie spürte nur den sanften Luftzug, der von den Schwingen des Raben herrührte. Emma wagte nicht, nochmals hinzuschauen. Sie drehte sich ab, begann zu laufen, zu rennen, hinein in eine Dunkelheit, die sie immer schwärzer umfing – bis sich ihr rechter Fuss im Unterholz verhedderte. Sie stolperte und fiel hin.

Einen Moment lang blieb sie fast erlöst liegen. Ihr Atem ging stossweise und ihr Herz pochte. Als sie sich wieder aufrichtete, lauerte ihr der Vogel noch immer auf. Unter dem Astwerk des Haselgesträuchs, in das sie gefallen war, fühlte sie sich für einen Augenblick fast ein bisschen geborgen. Aber nicht lange. Mit schwarz glänzendem Gefieder und spitzem Schnabel fixierte er sie mit seinen glühenden Knopfaugen. Emma sprang auf, wollte schreien, mit blinder Hoffnung auf Hilfe. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, aus ihrer Kehle kam nur ein atemloses Stöhnen …

Mitte Februar 1906
4. Im Pfarrhaus in Altikon

Emma erwachte schweissgebadet und bemerkte erstaunt, dass sie leise vor sich hin wimmerte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtfand. Durch das Fenster schimmerte der Schnee im Mondlicht und machte sie glauben, es dämmere schon. Mit heftig klopfendem Herzen tastete sie nach den Streichhölzern und zündete die Öllampe auf ihrem Nachttisch an. Ein flackernder Lichtschein breitete sich in ihrer Kammer aus und beleuchtete das Zifferblatt ihrer Taschenuhr: Es war halb fünf.

Emma sank ins Kissen zurück. Ihr Atem bildete Wölkchen im kalten Raum. Sie geisterten wie kleine Nebelschwaden durch das Licht und lösten sich dann auf. Nach und nach verloren sich auch die schrecklichen Bilder des Alptraumes. Trotzdem war an Schlaf nicht mehr zu denken.

Emma Bachmann hatte kürzlich ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Seit fünf Jahren war sie beim Altiker Pfarrer als Dienstmagd angestellt, als Mädchen, wie es im Volksmund hiess. Über ihre Arbeit und ihre Lebensumstände wollte sie nicht klagen. Sie schlief in einer eigenen Kammer, in einem Bett mit einer richtigen Matratze. Reinster Luxus, wenn man bedachte, dass sie sich mit ihren Geschwistern Stroh- und Laubsäcke hatte teilen müssen. Ihre wenigen Kleider und Habseligkeiten waren in einer alten Kommode verstaut, darauf standen eine Waschschüssel und ein Krug aus Porzellan, die Ränder mit rosa Blümchen verziert. Das Wasser darin war an diesem frühen Wintermorgen vermutlich wieder angefroren. Und neben dem Fenster, an dem sich Eisblumen gebildet hatten, stand ein einfacher Schreibtisch mit einem zu kurzen Bein. Emma hatte das Manko mit gefaltetem, inzwischen vergilbtem Zeitungspapier ausgeglichen.

Hatte sie es hier nicht wirklich gut? Besser gesagt, gut gehabt. Bis der Pfarrer diese Spitzmaus geheiratet hatte. Emma schüttelte sich angewidert, sodass ihre Nachthaube verrutschte. Dann begannen die Kirchenglocken zu dröhnen, und Emmas Herz verkrampfte sich wieder. Hier im Pfarrhaus konnte man das Glockengeläut wirklich nicht verschlafen.

 

Emma schlug tapfer die Decke zurück und stand auf. Sie fror bitterlich in ihrem leinenen Nachthemd. Eilig schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging zur Kommode, um sich zu waschen. Sie durchbrach die dünne Eisschicht im Krug und goss Wasser ins Becken. Es stach ihr wie Nadeln ins Gesicht und vertrieb die letzte Trägheit aus ihren Gliedern. Hastig zog sie ihre wollenen Strümpfe hoch und befestigte sie am Strumpfgurt. Das Nachthemd liess sie gleich an, darüber zog sie ein weisses Hemd und schlüpfte dann in ihr dunkelblaues Alltagskleid. Zuletzt band sie sich noch eine frische weisse Schürze um und zog ihre schwarzen Schnürschuhe an. Sie bürstete ihr kupferrotes Haar und flocht sich zwei artige Zöpfe.­

Emma war eine ausgesprochen hübsche junge Frau, wohlgestaltet und schlank. Ihre Haare fielen offen in leichten Wellen über ihre Schultern, wobei sie diese natürlich geflochten tragen musste, um nicht als hoffärtig zu gelten oder gar als unsittliche Frauenperson aufzufallen. Sie hatte ein zartes, vornehm blasses Gesicht. Bei der geringsten Erregung überflutete Hitze ihre Wangen und brachte diese ganz liebreizend zum Glühen.

Als Emma das Fenster öffnete, verschlug ihr die Kälte fast den Atem. Gegenüber ihrem Fenster stand die alte Tanne, die das Pfarrhaus von weit her sichtbar überragte. Die schneebedeckten Äste hingen schwer zu Boden und hoben sich matt leuchtend von der Dunkelheit ab. Der Schnee lag seit Tagen knöcheltief und dämpfte die frühmorgendlichen Geräusche. Rasch schloss Emma das Fenster wieder, nahm ihre Lampe und verliess leise ihr Zimmer.

Die Öllampe vermochte nicht alle Winkel auf ihrem Weg zur Küche zu erhellen. Emma zog unwillkürlich den Kopf ein. Hinter jeder Ecke schien heute eine dunkle Gestalt zu lauern. Eilig lief sie auf die Küchentür zu und blieb dann abrupt stehen, als sie ein seltsames Geräusch hörte. Sie wagte kaum mehr zu atmen. Ein Kratzen. Stille. Ein vorwurfsvolles Miauen riss Emma aus ihrer Erstarrung.

«Jesses Tigi!», flüsterte Emma erleichtert.

Rasch ging sie zur Hintertür und schob den schweren Riegel zurück. Ein Schwall trockener Winterluft wehte den hungrigen Kater in die Küche. Es störte ihn nicht, dass der Rest der Milch vom Vortag in seiner Blechschüssel gefroren war. Er leckte gierig, als hätte er seit Tagen nichts mehr gefressen.

Als die ersten Flammen im Herd aufloderten und sich langsam Wärme ausbreitete, verschwanden die letzten Irrlichter des Alptraumes aus Emmas Gedanken.

Die rohen Bretter der Kellertreppe knarzten unter Emmas Füssen, als sie hinabstieg, um frische Milch zu holen. Sie hörte oben im Haus Schritte. Vermutlich begab sich Frau Pfarrer auf den Abort. Seit sie in anderen Umständen war, litt sie am Morgen oft an Übelkeit. «Ganz recht», dachte Emma schadenfroh.

Emmas Freundin Anna hatte ihr kürzlich erzählt, dass diese Übelkeit so drei oder vier Monate dauern könne. Ihre grosse Schwester Kathrin hatte das einmal erzählt. Von der älteren Generation durfte man derlei Erklärungen nämlich kaum erwarten. Emma hatte vor Jahren einmal ihre Mutter gefragt, wieso sie denn einen so dicken Bauch habe. Die Mutter hatte beschämt geantwortet, sie hätte eben viele Taschentücher vorne in ihrer Schürze. Erst als der kleine Bruder auf der Welt und die Mutter wieder schlank war, begann Emma langsam zu begreifen, dass das ein ganz heikles Thema war.

Emma ging die Treppe wieder hoch und schloss die quietschende Tür. Zurück in der Küche schnitt sie Brot in Scheiben und setzte Kaffee auf. Glücklicherweise gab es im Pfarrhaus nicht auch noch jeden Tag zum Frühstück Rösti wie bei so vielen Leuten im Dorf. Obwohl Emma Rösti nicht ungern mochte. Das Wasser war inzwischen heiss geworden. Emma goss es vorsichtig in die pfarrherrlichen Waschkrüge. Doch ehe sie das Schlafzimmer erreichte, hörte sie Schritte.