Das Kreuz im Apfel

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12

1829-1830, Böhmen und Wien

Wegbereitend für die Begegnung mit dem einflussreichsten Mann Europas war die schicksalhafte Begegnung mit Friedrich von Gentz, seinem Sekretär, an jenem 13. August 1829 im westlichsten Böhmen. Am Abend dieses Tages servierte Mila dem Sekretär des österreichischen Staatskanzlers Speis und Trank im Wirtshaus ihres Vaters. Er und sein Begleiter waren auf ihrer Heimreise von Marienbad nach Königswart von einem heftigen Gewitter überrascht worden. Der Kutscher hatte offenbar den Weg verfehlt und sich bis nach Kuttenplan verirrt. Während der Rest der Expedition, darunter Fürst Metternich, wohlbehalten nach Königswart zurückkehrte, irrte die Kutsche von Friedrich Gentz in der Dunkelheit umher. Ein schnell aufziehendes Gewitter zwang die Reisenden, in einem Wirtshaus in Sichtigfür Unterschlupf zu suchen. Der Staatssekretär rümpfte die Nase, ob des elenden Eindruckes der Gaststätte. Umso angenehmer war er überrascht, als das Mädchen mit dem fülligen Busen an ihren Tisch trat.

»In Wien kann einem so etwas nicht passieren. Da kennen die Fiaker ihre Wege«, sagte Gentz.

»Was führt Sie nach Böhmen?«, erkundigte sich Mila.

»Wie unhöflich von mir, eine Dame in ein Gespräch zu verwickeln, ohne mich vorzustellen«, bedauerte Gentz theatralisch. »Hofrat Friedrich von Gentz, Sekretär und Reisebegleitung des werten Staatskanzlers Fürst Metternich.« Nie zuvor hatte sich jemand vor ihr verbeugt, außer man rechnete sich vor ihr übergebende Gäste mit ein. Davon hatte es tatsächlich einige gegeben. In Böhmen war der Name Clemens Fürst von Metternich bekannt. Er besaß seit Jahren das Schloss Kynžvart, ein Geschenk seines Vaters zum Geburtstag.

»Verraten Sie mir Ihren entzückenden Namen.«

»Mila. Eigentlich Milleta, nach meiner Mutter. Aber alle nennen mich Mila.«

»Fräulein Mila, waren Sie schon in unserer wunderschönen Residenzstadt? Wien ist mit keiner anderen Stadt vergleichbar, glauben Sie mir. Ich bin viel herumgekommen.«

In dieser Stadt schien alles möglich zu sein. Wie gerne ließe sie all das hier hinter sich, das elende Wirtshaus, den betrunkenen Vater, die Trauer um ihre Mutter. Seitdem ihre Mutter vor drei Jahren verstorben war, war der Vater, der deutsche Wurzeln hatte, nicht mehr er selbst. Von dem tüchtigen Wirten, der er zu ihren Lebzeiten war, blieb nur ein trinkender Schatten seiner selbst, der in seinem Suff häufig die Hand gegen seine Kinder erhob. Mila hatte zwei Brüder. Der ältere verließ sein zukünftiges Erbe vor mehr als einem Jahr. Mila und der jüngste Sohn blieben und hofften, den Vater durch gutes Zureden vom Saufen abzubringen. In Mila war diese Hoffnung mittlerweile gänzlich gestorben und sie hatte mehrmals versucht, ihren Bruder dazu zu überreden, es dem ältesten gleichzutun und irgendwo ein neues Leben zu beginnen. Welcher Ort käme dafür besser in Frage als diese wunderbare Stadt, die der Staatssekretär in bunten Farben beschrieb?

»Das Herz Wiens würde höher schlagen bei Ihrem Liebreiz«, schmeichelte Gentz und fixierte die Bedienung begehrlich. Nachdem sich das Gewitter nach Südosten verzogen hatte, brach die Kutsche mit dem Staatssekretär zum ursprünglichen Ziel auf.

Die geplante Abreise des Staatskanzlers nach Wien am zweiten Septembertag wurde durch den seit einigen Tagen andauernden Regen und der daraus entstandenen Überschwemmung in Pilsen um einen Tag verzögert.

»Am siebten bei mir, werter Gentz«, verabschiedete sich der Fürst in Elischau. Gentz würde noch einige Tage bei Bekannten verweilen, während er selbst, gestärkt durch das vortreffliche Mittagessen, die Weiterreise nach Wien antrat.

»Wenn nicht noch eine Überschwemmung dazwischenkommt«, scherzte Gentz, »oder eine Verlockung wie dieses Fräulein aus dem Wirtshaus, dann können Sie pünktlich mit mir rechnen.«

»Sie alter Schwerenöter. Werden Sie nicht endlich ruhiger auf Ihre alten Tage?«, tadelte Metternich.

»Erst wenn ich unter der Erde liege, werden mich die Weiber nicht mehr reizen.«

»Ein Wirtsweib sollte Sie ohnehin nicht reizen.«

»Hätten Sie diese Rose selbst gesehen, dann würden Sie anders darüber denken. Das Haar wie Weinblätter im Herbst und dieser wogende Busen«, schwärmte Gentz und verdeutlichte Metternich mit einer Handbewegung den Umfang von Milas ausgeprägten weiblichen Attributen.

»Bleiben Sie anständig, Hofrat.« Metternich tippte sich an den Hut und stieg in die bereitstehende Kutsche. Gentz ließ keine Möglichkeit aus, mit den Damen anzubändeln, und er hatte damit bereits einige Skandale verursacht. Ebenso wenig wie die Weiberei hatte er seine Finanzen unter Kontrolle. Metternich wusste andererseits, welches Juwel er an dem fünfundsechzigjährigen Gentz hatte. Erst vor kurzem hatte er ihn mit der Redaktion seiner Memoiren beauftragt, da er die schriftliche Ausdrucksweise seines Beraters sehr bewunderte. Sollten dem alten Gentz sonst schon keine Tugenden angeboren sein, glänzte er zumindest als Publizist.

Tatsächlich traf Gentz um einen Tag verspätet in Wien ein, da er sich bei seinem Aufenthalt in Frauenberg der Fürstin Luise Schönburg nicht erwehren konnte. Schweren Herzens und nahe dran, in seinem Entschluss wankend zu werden, trat er die Weiterreise nach Wien am nächsten Tag an und erschien zum Abendessen en famille beim Fürsten.

»Irgendwann übernehmen Sie sich, das sehe ich kommen. Die Weiberei wird Sie noch ins Grab bringen«, prophezeite Metternich dem grinsenden Gentz nach dem Diner.

Beeindruckt stand Mila vor der Hofkanzlei, in welcher Metternich mit seiner Familie wohnte und sein Sekretär sich täglich zur Arbeit einfand. Staunend blickte Mila an dem imposanten Gebäude, unweit der Hofburg, nach oben.

»Ist ganz Wien so eindrucksvoll?«, fragte Mila einen vorbeigehenden Herrn.

»Erst am Abend, mein Täubchen. Wo finde ich dich?«, entgegnete er verschwörerisch. Mila blickte ihn verständnislos an. Der elegante Herr setzte seinen Weg achselzuckend fort, drehte sich jedoch noch einige Male nach ihr um.

»Wo finde ich dich«, wiederholte Mila. Das war eine gute Frage. Sie hatte keine Ahnung. Sie stand noch einige Minuten unentschlossen an der Ecke der Hofkanzlei, bevor sie in die Schaufler Gasse einbog und sich unter die Leute mischte.

Mila schaute sich einige Tage nach einer Arbeitsmöglichkeit um. Ohne Kontakte und mit deutlich hörbarem böhmischem Akzent blieb dieses Unterfangen ohne Erfolg. Wie beeindruckt und überwältigt sie an ihrem ersten Tag gewesen war! Einige Tage später war der strahlende Glanz der Stadt eher ein trüber Schein. Neben all dem Wohlstand zeigte sich das Elend vieler Menschen mit seiner grässlichen Fratze. Die Stadt war hoffnungslos überfüllt mit Leuten, die auf Arbeitssuche waren. Die ärmlichsten Zimmer waren überteuert und trotzdem rar. Die Armen suchten sich ihr Quartier deshalb lieber gleich vor den Stadtmauern oder in der Kanalisation, wenn sie überhaupt kein Geld mehr hatten.

Mila begann ihre Entscheidung anzuzweifeln. Da beobachtete sie am sechsten Abend eine auffällig gekleidete Frau, die mit wiegenden Hüften über den Graben in Richtung Kohl Markt flanierte. Als sie einem vornehm gewandeten Herrn mit Schnurrbart begegnete, ließ sie wie aus Versehen ein weißes Taschentuch fallen. Der Mann überlegte einige Sekunden und bückte sich dann. Die Szene kam ihr bis dahin nicht ungewöhnlich vor. Ein Herr hob einer Dame das Taschentuch auf. Die beiden wechselten einige Worte, die Frau nahm das Taschentuch lächelnd entgegen und bog in eine Seitengasse ein. Der Mann folgte der Frau mit einigen Schritten Abstand. Dies ließ Mila stutzen und deshalb heftete sie sich an ihre Fersen. Sie musste nicht lange hinter den beiden herschleichen, da steuerte die Frau geradewegs auf eine Tür zu und winkte dem weißhaarigen Herrn auffordernd zu. Kurz darauf hörte Mila eindeutige Geräusche aus der rechten Erdgeschosswohnung, da die Fenster aufgrund des milden Septemberwetters nur angelehnt waren. Mila erinnerte sich an die Worte von Friedrich Gentz, der meinte, sie würde den Männern in Wien mit Sicherheit den Kopf verdrehen. Viel war von ihrem Geld nicht mehr übrig. Die Hure war auffallend exquisit gekleidet, demnach musste sich gutes Geschäft machen lassen. Zudem war sie selbst hübscher und jünger, was ihr jedenfalls nicht zum Nachteil wäre. Besser damit Geld machen, als ein Mannsbild umsonst drüber zu lassen. Sie hatte die elenden Gestalten in den dunkelsten Winkeln der Stadt gesehen. So wollte sie nicht enden.

In den nächsten Tagen ging sie aufmerksam durch die Straßen, seitdem sie die Hure bei ihrem Kundenfang beobachtet hatte, schien es ihr in der Innenstadt vor Frauen aus dem horizontalen Gewerbe nur so zu wimmeln. Sie trieben sich sogar zu den Messen im Stephansdom herum, um dort das eine oder andere Geschäft anzubahnen. Im Dom war die Konkurrenz groß, denn zahlreiche Stubenmädchen und anderes Dienstpersonal versuchten sich während des verpflichtenden Kirchgangs ein Nebengeschäft heranzuschaffen.

Mila suchte sich zwei Seitengassen hinter dem Graben ein ebenerdiges Zimmer. Die Lage war ideal. Nah genug, um die Kundschaft nicht durch die halbe Stadt lotsen zu müssen, und weit genug vom Haupttreiben des Stephans Platzes und Grabens entfernt. Der Hausmeister in seinem speckig glänzenden Wams beglückwünschte Mila trotz des horrenden Zinses zu ihrem Glück und steckte die Miete für die nächsten Wochen gleich in seine Hosentasche. Mila fragte sich, wie viel er selbst davon einstrich.

»Die Wohnung ist erst gestern frei geworden, war jahrelang von Rosalie belegt. Sagt dir nichts? Sie ist eine Legende! Eine der begehrtesten Grabennymphen Wiens. Zumindest war sie das. Ihr Kundenstock ist mit fortschreitendem Alter zunehmend geschrumpft. Ich kannte sie schon zu ihrer Blütezeit. Eine Frau, sag ich dir«, schwärmte der stämmige Mann in seinem fadenscheinigen Jackett. Mit einem Seitenblick auf Mila meinte er: »Du bist auch nicht zu verkennen.«

 

»Was ist aus Rosalie geworden?«

»Das, was aus den meisten Grabennymphen früher oder später wird. Ein Bierhäuslermensch.«

»Ein Bierhäuslermensch?«

»Du weißt schon, so nennt man die Dirnen, die in den Schenken ihr Geld verdienen. Dort machen sie im Prinzip das Gleiche wie vorher, halt für weniger Geld. Statt dem wohlhabenden Bürgertum zählt bei den Bierhäuslermenschern das gemeine Volk, wie du und ich, zum Kundenstock. Der Adel hält es mit den Schauspielerinnen und Tänzerinnen oder anderen Abenteuerinnen. Jeder Schicht seine Hure, sag ich immer. Stell dich darauf ein.«

»Bei mir wird es anders sein«, entgegnete Mila entschlossen. Der Mann griff blitzschnell nach Milas Brüsten und zwickte sie. »Wenn deine Tuttln so fest bleiben, wie sie jetzt sind, dann vielleicht wirklich.«

Mila versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige, griff dem verdutzten Mann in die Hosentasche und zog eine Münze heraus. »So viel kostet bei mir ein Griff an meine Tuttln. Willst du an meinem Zins etwas verdienen, unterlass es in Zukunft.«

»Der griff mir nirgendwo mehr hin«, stimmte Mila in das Gelächter von Sepherl und Katharina mit ein.

»Am nächsten Tag ging ich zum ersten Mal auf Kundenfang und Gentz hatte recht. Die wohlhabenden Männer Wiens lagen mir zu Füßen. So wurde ich in kurzer Zeit eine begehrte Grabennymphe«, schloss Mila diesen Teil ihrer Erzählung.

»Spann das arme Mädchen nicht auf die Folter«, forderte Sepherl. »Sie ist brennend daran interessiert, wie du Metternich kennengelernt hast.«

Katharina bestätigte dies eifrig nickend.

»Es war Anfang November. An diesem Abend strich ich vom Graben über die Kärnthner Straße bis zum Kärntnerthor-Theater. Obwohl ich hier immer recht zufriedenstellende Geschäfte anbahnen konnte, wollte es an diesem Abend nicht klappen. Deshalb beschloss ich, meinen Rundgang auszuweiten. Und tatsächlich hielt eine Kutsche neben mir.«

»Ich traue meinen Augen kaum. Das Fräulein Mila aus Böhmen!« Mila blickte überrascht in das erfreute Gesicht des Hofrates. »Wie klein die Welt ist! Hat Sie mein Bericht über unsere schöne Stadt tatsächlich angelockt. Wohin des Weges?«

»Nach Hause«, stotterte Mila, ob der Überraschung, den alten Mann hier zu treffen.

Gentz drehte sich in das Innere der Kutsche um und verkündete aufgeregt: »Fürst, das ist das bezaubernde Mädchen aus dem Wirtshaus, von dem ich Ihnen einst vorgeschwärmt habe.«

Mila versuchte im Dunkeln der Kutsche den Staatskanzler auszumachen. »Wir alten Ehrenmänner können so ein hübsches Fräulein nicht unbegleitet lassen. Noch dazu bei dieser Kälte! Sie wird sich noch erkälten.«

»Es ist nicht weit«, beeilte sich Mila. Gentz, der einem ansehnlichen Frauengesicht offensichtlich schnell erlag, schwatzte dem Staatskanzler nach einem enthusiastischen Monolog die Zustimmung ab, das liebe Fräulein Mila in seiner Kutsche mitzunehmen. Und so saß sie am vierten November des Jahres 1829 dem österreichischen Staatskanzler und seinem Sekretär in einer Kutsche gegenüber, von denen der eine sie ignorierte und der andere unentwegt auf ihren Busen starrte und nicht aufhörte zu reden.

»Fürst, dieses entzückende Geschöpf erhellt diesen tristen Tag, nicht wahr?« Clemens Fürst von Metternich drehte kaum merklich den Kopf in Milas Richtung. Mila lächelte höflich, obwohl sie es dem Fürsten am liebsten gleichgetan und nicht auf das Geplauder seines Sekretärs reagiert hätte. Nach endlos erscheinenden Minuten blieb die Kutsche stehen und Gentz wurde unsanft aus seinem Redeschwall gerissen.

»Ach Herrje«, rief er enttäuscht aus, als er das Gebäude erkannte, »den Besuch bei Gräfin Taaffe und Fürstin Hohenzollern habe ich ganz vergessen! Wie schade, dass ich Ihrer angenehmen Gesellschaft beraubt werde. Die Verpflichtungen, Sie verstehen. Nennen Sie mir Ihre Adresse für den Kutscher.«

»Ich kümmere mich darum, Gentz«, wimmelte Metternich den alten Schwerenöter ab. Er wusste genau, worauf sein Sekretär aus war. Er wollte die Adresse des Mädchens erfahren, um ihr bei nächster Gelegenheit einen Besuch abzustatten. Von diesem Fehltritt würde er seinen unbedachten Berater abhalten. Der liebe Gentz hatte sich verkalkuliert. Gentz verbeugte sich vor Mila und tätschelte ihr väterlich die Hand. »Ich hoffe, wir begegnen uns bald wieder«, bemerkte er dabei, weitaus weniger väterlich. Als sich die Kutsche in Bewegung setzte und die Stille im Inneren des Gefährtes nur durch das Klacken der Pferdehufe untermalt war, wünschte sich Mila sehnsüchtig das Geplauder des alten Sekretärs zurück. Sie fühlte sich unwohl in Metternichs Gegenwart, der noch immer kein Wort an sie gerichtet hatte. Warum auch?

»Für den heutigen Abend sind Sie erlöst von unserem lieben, leider notorisch geschwätzigen Freund«, sagte Metternich. In seiner Stimme lag nicht ein Funken witzelnden Spottes. Mila fühlte sich ertappt und errötete beschämt über ihre Undankbarkeit. »Offensichtlich ist uns vor sich hin greisenden Männern zumindest eine Eigenschaft gemein.« Mila blickte ihn verständnislos an. »Die Vorliebe für junge Dinger.« Metternich legte das Buch, welches die ganze Zeit auf seinem Schoß lag, auf die gut gepolsterte Bank. Mila wusste nichts darauf zu erwidern und so sprach Clemens von Metternich weiter, viel mehr zu sich selbst als an sie gerichtet. »Über mich zerrissen sich die Leute das Maul, als ich Antoinette ehelichte. Sie war einundzwanzig, als sie vor zwei Jahren meine zweite Frau wurde. Dreiunddreißig Jahre war sie jünger als ich. Gestorben ist sie vor mir. Antoinette starb vergangenen Januar, zehn Tage nach der Niederkunft mit einem kräftigen, gesunden Jungen an Kindbettfieber.« Metternich starrte aus dem Fenster.

»Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, alleine zu sein«, sagte Mila.

»Wahr gesprochen, Fräulein«, stimmte Metternich zu. »Und wie es aussieht, hat der Tod noch nicht genug aus meiner Familie an sich gerissen.« In diesem Moment hielt die Kutsche erneut und noch bevor Mila erfahren konnte, von wem Metternich sprach, schickte sich der Staatskanzler dazu an auszusteigen.

»Der Kutscher bringt Sie, wohin Sie wollen. Guten Abend«, verabschiedete er sich, als das Personal auf ihn zukam und ihn in Empfang nahm. Obwohl es ihm gut gelang, die Stimme des Volkes zu unterbinden, war er sich nicht sicher, ob er das Getratsche seines Personals genauso gut unter Kontrolle hatte. Wer wusste schon, was man ihm in diesem Fall andichten würde. Mila blickte ihm hinterher und sah in diesem Moment nicht den einflussreichen Staatsmann. Gerne hätte sie noch länger mit ihm in seiner Kutsche gesessen.

»Und seid ihr euch wiederbegegnet?«, erkundigte sich Katharina.

»Ungeduldig, was?«, spöttelte Sepherl.

»Ich wünschte, das Schicksal hätte anderes für mich vorgesehen gehabt«, sagte Mila. »Der Spätherbst und der Winter werden von den Grabendirnen trotz des feuchtkalten Wetters besonders herbeigesehnt.« Mila erschauerte, als friere sie gegenwärtig. »Die besten Geschäfte kann man während der Ballsaison machen.«

Mitte November war es abrupt kalt geworden und der erste Schnee verzierte die Straßen Wiens. Nachdem sich der Geschäftsmann, von Mila runtergewälzt hatte, begann er erbärmlich zu zittern.

»Die Leute werden sich totlachen! Ofenfabrikant erfriert beim Vögeln«, jammerte er.

»Du kannst gerne zu einer gehen, die einen Ofen hat», konterte Mila, »oder du hörst auf, dich zu beschweren, und schickst mir einen«. Der frierende Ofenfabrikant blieb nicht lange liegen. »Und vergiss nicht, genügend Brennholz mitzuliefern!«, rief ihm Mila hinterher, bevor er die Tür des Zimmers zuwarf. Sie fragte sich, ob der Jammerlappen ihrer Aufforderung tatsächlich nachkäme. Ihre Antwort bekam sie bereits am nächsten Tag, als zwei Männer mit schwieligen Pranken und Rußspuren im Gesicht einen gusseisernen Ofen von einem Pferdefuhrwerk hievten. Es war ein Prachtstück von einem Herd. Die umstehenden Weiber blickten neiderfüllt auf das gute Stück, welches, so wie Mila später vom Spender erfuhr, der Prototyp eines neuen Kohlesparherdes war. Dem Ofen verdankte Mila einen guten Teil ihrer großen Kundschaft. Es sprach sich herum, dass es am Busen der Böhmin wohlig warm war.

Wie viele andere Grabennymphen streifte Mila ab Jänner abends vorwiegend im Bereich der Hofburg umher, um etwaige Geschäfte mit den Besuchern der Hofgalas anzubahnen. Die Grabennymphen träumten davon, es dadurch zur persönlichen Mätresse eines wohlbegüterten Adeligen mit eigenem Häuschen in der Vorstadt zu bringen. Mila hatte sich etwas Besonderes überlegt. Sie hatte roséfarbene Visitenkarten mit einer nackten, weiblichen Silhouette auf der Rückseite in Auftrag gegeben. Der Direktor einer namhaften Druckerei hatte sie auf diese Idee der Anpreisung gebracht. Sie hoffte nur, er bildete sich nicht ein, sie würde ihm weiterhin für seine ausgefallenen Schweinereien zur Verfügung stehen. Als Bezahlung für den Satz Visitenkarten hatte er von ihr verlangt, dass sie ihn fatschen sollte, während er das Weinen eines Säuglings imitierte. Danach sollte sie seinen Kopf anheben und ihn an ihrem Busen stillen, bis er vermeintlich zufrieden in tiefen Schlaf entschlummerte. Mila wollte sich eben das Hemd überziehen, als der Direktor erneut wie ein unzufriedener Säugling zu greinen anfing. Mila war entnervt. Wie lange gedachte er, das Rollenspiel fortzusetzen? Als sie immer noch barbusig vor den Direktor trat, bedeutete er ihr, sie solle die Wickel lösen. Mila tat, wie ihr geheißen, und war froh, das Ende des lächerlichen Theaterstückes in Aussicht zu haben. Als sie die letzte Lage von dem sabbernden Mann wickelte, nahm dieser sein Glied in die Hand, ließ den Urin laufen und pisste auf ihre Brüste. Mila wollte nach hinten ausweichen, doch mit der freien Hand hielt er sie fest und ließ sie erst los, nachdem er sich auf ihr erleichtert hatte. Mila fluchte und wischte den Urin mit einem fadenscheinigen Fetzen von ihrem Körper. Der Direktor saß währenddessen auf ihrem Bett und schüttelte seinen Schwanz, während er Mila dabei beobachtete, wie sie ihre von ihm beschmutzte Haut trocknete. Den nächsten Satz Karten würde sie bei einer anderen Druckerei gegen harte Währung in Auftrag geben, das stand jedenfalls fest.

Mila hatte an diesem Abend einigen Herren ein Kärtchen diskret zugesteckt, als eine Kutsche hielt und Clemens Fürst von Metternich ausstieg. Natürlich war der Kanzler der Monarchie auf diesem Ball anwesend. In den folgenden Sekunden überlegte sie sich fieberhaft ihre nächsten Schritte. Würde er sie erkennen? Entschlossen durchschritt sie die Menschenmasse und ließ den Staatskanzler dabei nicht aus den Augen. Sie war lediglich durch einige Soldaten von ihm getrennt. In diesem Augenblick hob Metternich den Blick und sah das Leuchten von Weinblättern im Herbst zwischen den Köpfen der Männer, die zu seiner Sicherheit abgestellt waren. Diese Farbe, sie war unverkennbar. Mila fing den Blick auf und bangte ob seiner Reaktion, die sie in seinem Gesicht möglicherweise läse. Mila streckte ihren Arm nach oben, sodass er die Karte sehen konnte. Der Kanzler gab einem der Soldaten den Befehl, der Dame die Karte abzunehmen, welche ihm vorgeblich eben aus der Tasche gefallen war. Dann verschwand er in der Menschenmasse. Für Mila war der Kundenfang mit dieser Begegnung beendet. Aufgewühlt kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Er hatte sie ganz offensichtlich erkannt. Und er hatte die Karte genommen!

Zwei Stunden später klopfte es an ihrer Tür. Obwohl ihr Geschäft gut lief, konnte sie es sich nicht leisten, einen Stammkunden zu vergraulen. Widerwillig öffnete sie die Tür. Ein großgewachsener schlanker Mann stand mit eingezogenem Kopf und schwarzem, wollenem Umhang, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte, vor ihr.

»Guten Abend, werter Herr«, begann Mila ihre übliche Begrüßung und hoffte, der Vermummte würde sich ihr zu erkennen geben. »Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

»Ich hoffe, Sie sind noch immer so eine gute Zuhörerin, wie vor zwei Monaten«, antwortete Metternich und Mila schlug ihre Hände ungläubig vor den Mund. Schnell schlüpfte Clemens von Metternich in Milas Zimmer und schloss die Tür.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, zu so später Stunde«, sagte er und blickte auf die elegante Karte, die sie ihm auf dem Ball Platz zugesteckt hatte. »Fräulein Bouvard«, las er vor. Sie nahm Metternich den Mantel ab, aus dem er sich geschält hatte, und bedeutete ihm, auf dem gepolsterten Sessel Platz zu nehmen. Dieses gute Stück war ein Geschenk eines Kunden, der die Farbe des Bezuges nach der Haarfarbe der Hure ausgewählt hatte.

 

»Nichts kann jemals der atemberaubenden Nuance Ihrer Locken nahekommen, Fräulein Bouvard«, meinte Metternich beim Blick auf den angebotenen Sessel.

»Ein Kompliment aus Ihrem Munde? Bei unserem ersten Treffen waren Sie für meine Reize nicht allzu zugänglich.«

»Gentz war es umso mehr, befürchte ich«, entgegnete Metternich. »Er hat meinen Kutscher geradezu bedrängt, ihm Ihre Adresse zu nennen. Wenigstens befolgt mein Kutscher meine Anweisungen. Wenn sonst schon alle machen, was sie wollen. Es hat ihm einige Tage sehr die Laune verdorben, dass er Sie entgegen seines Planes nicht ausfindig machen konnte. Doch der alte Gentz ist kein Kind von Traurigkeit und hat schon sein nächstes Objekt der Begierde entdeckt.« Das konnte sich Mila nur zu gut vorstellen. »Eine Balletttänzerin, dieses Mal. Ungefähr in Ihrem Alter. Fanny Elßler, ein Mädchen aus der Vorstadt, dem derzeit scheinbar alle verfallen sind.«

»Vielleicht findet der Hofrat mit dieser Fanny die wahre Liebe und setzt sich zur Ruhe – ich meine in Bezug auf die Weiberei?«, meinte Mila.

»Es spricht die jugendliche Unwissenheit aus Ihnen. Die romantische Liebe bei Greisen nützt den Geist bald ab und führt das Ende schnell herbei.«

»Da muss ich Ihnen widersprechen!«

Metternich winkte ab. Er wollte ihr nicht ihre romantischen Vorstellungen zerstören. »Seien Sie versichert, Fräulein Mila, Ihrer Reize war ich mir bereits damals bewusst. Ich war einige Male selbst versucht, den Kutscher nach Ihrer Adresse zu fragen«, gestand Metternich. Mila hielt den Atem an. Worauf wollte der Kanzler hinaus? »Ein Mann in meiner Position steht unter schärfster Beobachtung, und Sie werden nicht gekränkt sein, wenn ich Ihnen mitteile, dass unmissverständliche Kontakte zu Ihrer Profession mich alles kosten können. Trotzdem konnte ich heute Abend nicht widerstehen, Ihrer Einladung zu folgen. Mich dürstet nach Leben, nach dem sprühenden Leben das aus Ihren Augen, Ihrem Mund perlt.«

»Was ist passiert?«, fragte Mila. »Sie wirken bis auf den tiefsten Grund Ihrer Seele beschwert.«

»Das vergangene Jahr hat mich schwer gezeichnet. Schwer gezeichnet …« Metternich sank in dem Sessel zusammen. Mila trat einen Schritt näher und legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter.

»Sie verstehen es immer noch fabelhaft, einem Mann die heimlichsten Gefühle zu entlocken.« Mila strich mütterlich über seinen Kopf, den er wie ein Kätzchen zu ihr geneigt hielt.

»Der Tod verfolgt mich.«

»Sind Sie krank?«, entfuhr es Mila. Metternich war gerührt, ob der Panik, die in ihrer Stimme lag, und beeilte sich, sie zu beruhigen.

»Meiner Gesundheit geht es dem Alter entsprechend gut. Ich scheine alle zu überleben.« Seine Stimme klang düster. »Zuerst meine Mutter, die, wenn sie nicht meine Mutter, die Freundin meines Lebens gewesen wäre. Dann der frühzeitige Tod meiner zweiten Gemahlin nach der Geburt unseres Sohnes. Im Mai folgte ihr Marie-Clementine infolge einer Fehlgeburt.« Er seufzte. »Um mich endgültig zu zerschmettern, verstarb im November mein Sohn im Alter von sechsundzwanzig Jahren. Wenigstens war ich an seiner Seite, als der Tod ihn mit sich nahm. Marie-Clementine fand weitab der Familie ihr Ende.«

»Marie-Clementine?«

»Meine Tochter«, erklärte Metternich. »Meine illegitime Tochter, wohlgemerkt. Ich habe trotzdem über sie gewacht wie über meine anderen Kinder. Meine Kinder sind mein ganzer Stolz, für die ich gewillt bin, alles zu tun.«

»Rührend, diese Worte aus dem Mund eines Vaters zu hören«, sagte Mila mit belegter Stimme.

»Rührend, meinen Sie? Ich finde es nur natürlich.«

»Über die Lippen meines Vaters wären solche Worte nie gekommen. Er ertränkte seinen Kummer über den Verlust seiner Ehefrau lieber im Suff, als an seinen noch lebenden Kindern festzuhalten.«

»Sie armes Kind. Ich klage über meine Schicksalsschläge und vergesse ganz auf Ihre Bürden des Lebens.« Metternich zog die Hure auf seinen Schoß und wiegte sich mit ihr im Takt einer unhörbaren Musik.

»Ich wartete Tage, Wochen, aber Clemens suchte mich nach diesem Abend nicht mehr auf.« Mila spielte gedankenverloren mit einer Haarlocke. »Die Kälte war am ersten Märztag einem milden Tauwetter gewichen, infolgedessen die ganze Stadt tagelang mit den übelsten Überschwemmungen beschäftigt war. Ich ließ mich nicht von meinen Geschäften abhalten und streifte durch mein bevorzugtes Gebiet. Vor dem Kärnthnerthor-Theater erspähte ich einen alten Bekannten. Ich hatte die Hoffnung, von ihm etwas über den Fürsten zu erfahren.«

»Das Schicksal scheint uns regelmäßig zusammenzuführen«, zwitscherte Mila hinter Gentz’ Kutsche hervor. Ruckartig drehte sich Metternichs Sekretär um und schnaufte angestrengt aus, während sein Blick an Milas Ausschnitt hängenblieb.

»Was für eine Freude, Sie hier anzutreffen. Besuchten Sie etwa das Stück?«

Mila fragte sich kurz, ob er solcherlei Fragen mit Ernsthaftigkeit stellte, lächelte aber gekünstelt und entgegnete: »Mich führt Geschäftliches hierher.«

»Ich hoffe, mit Erfolg.«

»Werter Hofrat könnte es zum Erfolg führen.«

»Wir fahren nicht nach Weinhaus, sondern in meine Wohnung«, ordnete er hastig an. Die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung.

»Wie lange ich dich schon begehre, Weib«, presste er hervor und bedeckte Milas Dekolleté mit feuchten Küssen.

»Ich war noch nie so häufig im Theater. Dieses Geschöpf bezaubert mich jedes Mal aufs Neue«, schwärmte Friedrich Gentz der Hure vor, die neben ihm in seinem Bett lag. Die Stadtwohnung befand sich im dritten Stock eines modernen Wohnhauses in der Teinfalt Straße, war exquisit und üppig ausstaffiert und verfügte über einen herrlichen Ausblick auf die Bastei. Üblicherweise verbrachte er die meisten seiner Nächte in seinem Häuschen in Weinhaus, in dessen Gärten er seiner Liebe für die Botanik und exotische Vögel frönen konnte, falls es ihm die Zeit erlaubte. »Das Mädchen hat eine internationale Karriere vor sich, davon bin ich überzeugt. Die ganze Welt wird ihrem Charme noch erliegen.« Den armen Gentz hatte es offensichtlich schwer erwischt. Er war wie besessen von dieser Ballerina.

»Haben Sie bereits Ihre Bekanntschaft gemacht?«, fragte Mila.

»Erst vor kurzem bei Graf Gallenberg und seitdem kommt es häufiger zu Begegnungen. Ich durfte die Bekanntschaft ihrer Mutter und Schwester machen. Ich glaube, es ist jedem unmissverständlich, dass ich ernsthaftes Interesse an ihr bekunde. Ob ich jemals erhört werde? Die Zusammentreffen mit dem Engel stellen mich jedes Mal auf eine harte Probe. Ich beschmutze die Reinheit dieses Himmelsgeschöpfes mit meinen Gedanken. Doch was soll ein leidenschaftlicher Mann wie ich dagegen tun? Ich bin umgeben von verführerischen Weibern und mit aller gebotenen Bescheidenheit, die fliegen auf mich wie die Tauben auf das Brot! Gestern Abend, was für eine Qual, eine Gesellschaft bei Herzogin von Sagan, wo alles, was die Gesellschaft an hübschen und liebenswürdigen Damen aufzuweisen hat, vereinigt war. Es war des Guten zu viel. Ich fuhr nach Mitternacht weg.«

»Ich kann Ihnen in der Zwischenzeit Abhilfe verschaffen, mein leidenschaftlicher Hofrat«, zwinkerte ihm Mila zu, bevor sie wie nebenbei das Thema auf Fürst Metternich brachte.

»Eine Tragödie nach der anderen. Sein Sohn ist Ende November gestorben.«

»Ich weiß. Der arme Mann.«

Gentz hob erstaunt eine buschige Augenbraue. »Woher weißt du vom Tod Victors?«

Mila stockte nur eine einzige Sekunde, bevor sie zu einer Rechtfertigung ansetzte. »Am meisten redet ein Mann am Busen einer Hure, müssen Sie wissen. Ein Kunde hat es mir erzählt, neben so einigen anderen Neuigkeiten und Tratsch«, log Mila, um gleich darauf einen geheimniskrämerischen Ton anzuschlagen. »An meinem Busen wurden schon ganz andere Sachen weitergeflüstert. Sie verstehen, dass ich selbstverständlich keine Namen nennen kann.«

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