Das Kreuz im Apfel

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4

Ottakring

Mit dem Schreiben aus der Findelanstalt in ihrer Rocktasche trottete Katharina dem verdrossen dreinblickenden Beamten mit dem geschwungenen Schnauzbart hinterher. »Das Schreiben hast du bei dir?«, versicherte er sich überflüssigerweise. Er hatte ihr dabei zugeschaut, wie sie es eingesteckt hatte. Zufrieden mit der Antwort schritt er auf den Pfarrhof zu. Das Häuschen sah anders aus, als sie es in Erinnerung hatte. An die Brücke, welche über den Bach an die Tür führte, konnte sie sich nicht erinnern. Der Beamte klopfte dreimal und blickte auf seine beschlagene Taschenuhr. Sie verzog den kindlichen Mund und zupfte den Beamten am Ärmel.

»Mit Asche bekommen Sie die Uhr zum Glänzen«, beratschlagte Katharina ihn. Sie hatte den Bediensteten vor dem Weihnachtsfest geholfen, das kostbare und selten verwendete Silbergeschirr auf Hochglanz zu polieren.

»Kannst dir gleich angewöhnen, dass auf dich nichts gegeben wird«, fuhr er sie an.

»Gott zum Gruß«, sagte der Pfarrer und schaute den Mann fragend an. Katharina erkannte Pfarrer Lutner sofort. Wie sie zugeben musste an seinem Buckel.

»Kommissär Traxler mein Name, ich komme vom Magistratsdepartment der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien und soll ihnen Katharina Hochstätter, normalalt geworden und somit aus der Findelanstaltspflege entlassen, überstellen.« Galt früher noch als Normalalter fünfzehn Jahre, konnten die Kinder seit einigen Jahren nur mehr mit einer zehnjährigen Versorgung rechnen. Üblicherweise hatte den ersten Anspruch auf das Kind die Mutter, danach die Pflegefrau.

Johann Lutner blickte auf das Mädchen herab und erinnerte sich deutlich an die Fünfjährige, die ihn darüber aufgeklärt hatte, dass der Teufel keine Hörner hatte.

Da der Geistliche wortlos dastand, ergriff der Beamte erneut das Wort. »Es hat ein Schreiben mit den entsprechenden Anweisungen der Findelanstalt bei sich. Ich empfehle mich.« Katharina blickte Pfarrer Lutner an. Dieser fasste sich und reichte dem Mädchen eine rötlich gefleckte Hand, mit stark geschwollenen Fingergelenken.

»Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt! Groß bist du geworden. Wenn ich daran denke, wie klein und schmächtig du warst, als …«, der Pfarrer hielt inne. Er wusste nicht, ob sich das Kind überhaupt erinnerte und hoffte für sie, sie täte es nicht.

»Das Pfarrhaus habe ich anders in Erinnerung«, sagte sie in bemühtem Deutsch. Ihre Sprechweise war ganz anders als die seiner Seelsorgegemeinde.

»Deine Erinnerung trügt dich nicht«, entgegnete er. »Vor drei Jahren wurde der Pfarrhof neu gebaut und mit Ziegeln gedeckt.« Er deutete nach oben.

»Schaut das Haus, in dem ich geboren wurde, auch anders aus?«

»Das Haus steht nicht mehr. Vor drei Jahren hat es hier in Ottakring gebrannt. Vormittags gegen zehn Uhr stiegen aus dem an den Pfarrhof angrenzenden Bauernhaus heftige Flammen auf. Durch den starken Wind griff das Feuer rasch auf die umliegenden Gebäude über. Über fünfzig Häuser wurden vernichtet. Lediglich die Kirche und rund dreißig Häuser blieben von dem Feuerinferno verschont. Komm rein und zeig mir den Brief.«

Er hatte Mühe, die lange Litanei des Verfassers zu entziffern. »Kann der Pflegling von keiner der beiden aufgenommen werden, obliegt das Kind der Armenfürsorge durch die Heimatgemeinde. Die Vormundschaft für das Kind ist von dem geschätzten Herrn Pfarrer auszuwählen. Ab dem vierzehnten Lebensjahr ist der Findling dazu angehalten, für sich selbst zu sorgen. Die Vormundschaft endet zu diesem Zeitpunkt, ebenso die Zuständigkeit der Armenfürsorge«, las er den Brief zu Ende.

Er wusste, wie die übliche Fürsorge für familienlose Kinder aussah. Das Reglement der Armeneinlage sah vor, dass diese Kinder meist von Haus zu Haus wanderten, dazu genötigt, sich ihren Lebensunterhalt durch die niedrigsten Arbeiten zu erbetteln, häufig gedemütigt und bar jeder verständigen oder teilnehmenden Führung.

»Ist die Brücke neu?«, fragte Katharina.

Pfarrer Lutner nickte abwesend. »Nach dem Umbau wurde eine Pfarrkanzlei eingerichtet und die Pfarrbibliothek vermehrt.«

»Eine Bibliothek!« Das Mädchen schien sich über die Tragweite des Schreibens nicht im Klaren zu sein.

»Warst du in Böhmen in einer Schule?«, fragte er.

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Und wie liegt dir das Lesen und Rechnen?«, hakte er nach.

»Gut, Herr Pfarrer. Ich habe gerne gelernt.«

»Dann sollten wir zumindest schauen, dass du regelmäßig die Schule besuchen kannst.« Ihm kam dieser Anlass gelegen, dem Lehrer Jakob Bartsch zu zeigen, wer das Sagen hatte. Die Gemeindeschule unterstand der Aufsicht des Pfarrers. Sein Wort war Gesetz, zumindest auf der untersten Stufe. Seit Jahren intervenierte der Jakob Bartsch für die Errichtung eines neuen, geräumigeren Schulhauses, wohlgemerkt in größerer Entfernung zur Kirche. Der Bartsch täuschte sich, wenn er glaubte, er ließe das zu. »Schaden kann es jedenfalls nicht. Lange hast du nicht mehr Zeit, bis du für dich selbst sorgen musst.« Er knetete seine schmerzenden Gelenke. »Wir werden sehen, dass du auf einem anständigen Hof unterkommen kannst. Ich werde die Bäuerin anweisen, dich regelmäßig in die Schule zu schicken. Das wöchentliche Schulgeld von vier Kreuzern wird von der Armeneinlage bezahlt werden. Es wird dir nicht erspart bleiben, dass du mitanpackst. Die Gemeinde würde es nicht dulden, dass du fürs Daumendrehen versorgt wirst. Hast du Hunger? Ich bin jedenfalls hungrig, obwohl einem die ganze Sache den Appetit verderben kann.«

»Der Onkel sagte immer, der Appetit kommt beim Essen.« Katharina sah den freundlichen Mann, der so gut Geschichten erzählen konnte, tot im Sarg liegen. Sie holte aus ihrer Rocktasche ein Taschentuch hervor, das sie von der Tante zum letzten Geburtstag bekommen hatte. Zierliche Blümchen in Blautönen hatte diese eigenhändig draufgestickt. Katharina brachte es anfangs nicht über sich, das hübsche Tuch zu verwenden. Es war zu schön anzusehen, um den Rotz hineinzublasen. Die Tante meinte, auch schöne Dinge seien da, um verwendet zu werden.

»Dir ist etwas auf den Boden gefallen«, machte sie der Pfarrer aufmerksam. Katharina blickte zu ihren Füßen und entdeckte das gefaltete Zettelchen. »Was ist das? Noch etwas aus dem Findelhaus?«

»Das ist die Adresse meiner Freundin aus dem Gefangenenhaus.« Mila hatte ihr gesagt, sie solle sich die Adresse notieren. Für alle Fälle. Es war nicht einfach gewesen, den Gefangenenwärter zu überreden, Schreibmaterial zu bringen. Mila hatte offenbar die richtigen Argumente.

»Aus dem Gefangenenhaus?«

»Aus der Findelanstalt brachten sie mich ins Gefangenenhaus, um dort auf den Kommissär zu warten. Dort lernte ich Mila kennen.«

»Ist Mila aus dem Findelhaus?«

»Nein, Mila ist schon erwachsen und wunderschön. Sie hat so einen Busen«, dabei deutete Katharina den beachtlichen Brustumfang Milas an ihr selbst. »Eigentlich heißt sie Milleta, aber das ist ihren Kunden zu lange.«

»Ihren Kunden«, echote ihr Gegenüber. »Heilige Maria Mutter Gottes!« Die Kinder mussten die Nacht vor dem Transport gemeinsam mit Vagabunden, Schüblingen und Dirnen verbringen! Solch eine demoralisierende Umgebung kann sich nur nachteilig auf das Seelenheil der ohnehin verwirrten Wesen auswirken. Gleich morgen würde er eine schriftliche Eingabe an den Landesausschuss verfassen.

»Warum war diese Frau in dem Gefangenenhaus?«, nahm der Pfarrer das Gespräch wieder auf.

Erschrocken sog Katharina die Luft ein. »Herr Pfarrer! Ich weiß es nicht! Ich war so mit meiner Traurigkeit beschäftigt, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, sie zu fragen. Ich habe nur von mir geredet.«

»Mädchen, ich glaube nicht, dass diese Mila die richtige Freundin für dich ist. Weißt du, ich meine, sie geht einem Gewerbe nach, das … Gib mir den Zettel«, forderte sie der Pfarrer nach seinem Gestottere schlussendlich auf.

»Herr Pfarrer, bitte nicht. Sie sagte, wenn ich eines Tages Hilfe bräuchte, könnte ich zu ihr kommen. Wie soll ich sie ohne Adresse finden? Ich habe doch niemanden und sie war sehr nett zu mir, weil ich traurig war, dass ich vom Forsthaus wegmusste und weil ich mit meinem Schicksal gehadert hab.«

»Mit deinem Schicksal gehadert …«

»Das hat Mila gesagt. Sie meinte, hadere nicht mit deinem Schicksal, sondern mache das Beste daraus! Stimmt das nicht, Herr Pfarrer?«

»Hm«, machte er nachdenklich, »in der Bibel heißt es: Vertraue auf Gott, er wird dich führen.«

Katharina ließ sich beide Ratschläge durch den Kopf gehen.

»Ich vertraue lieber auf mich selbst. Wenn man auf andere vertraut, wird man nur zurückgelassen.«

»Kind, neben dem Unterricht wirst du außerdem die Bibel lesen und fleißig zu den Messen kommen«, damit schloss der Pfarrer das Gespräch und bestrich sein Brot mit Butter.

Katharina steckte das Zettelchen in ihre Tasche und griff zum Buttermesser. Es stellte sich heraus, dass der Onkel recht gehabt hatte. Der Appetit kam tatsächlich beim Essen.

5

»Du kannst in der Menscherkammer schlafen. Ich hoffe für dich, du hast Kleidung. Glaub nicht, dass ich dir etwas geben kann. Unterkunft und Essen sind mehr als gottgefällig«, stellte die Bäuerin gleich zu Anfang klar. Noch ein Kind zu verköstigen! Zu ihren eigenen dreien und dem vierten, das unterwegs war.

»Ich habe Kleidung, Wäsche und Schuhe mitbekommen«, merkte Katharina an.

»Na wenigstens etwas.« Stöhnend kramte sie Bettwäsche aus dem untersten Fach im Schrank und richtete sich unter Mühsal auf. »Das Kind wird nicht mehr lange auf sich warten lassen und wir stecken mitten in der Getreideernte. Du wirst kräftig anpacken im Haus.«

 

»Der ist ziemlich groß.« Katharina zeigte auf den schwangeren Bauch der Bäuerin.

»Da hast du recht. Bei den drei anderen kam er mir nicht so gewaltig vor«, ließ sich die Frau in einem umgänglicheren Ton auf das Gespräch ein. »Wird ein großer starker Junge.«

»Vielleicht sind es zwei«, gab Katharina zu bedenken.

»Meinst du?«, entgegnete die Bäuerin stirnrunzelnd. »Komm mit. Ich stelle dich meinen Kindern und dem Gesinde vor.«

Die Bäuerin hatte zwei Buben im Alter von vier und zwei Jahren. Das Mädchen war nur wenig über einem Jahr und konnte noch nicht laufen.

»Der ältere heißt Karl, nach seinem Vater, Karl Sperl. Widersprich dem Bauern nie, dann ist ganz gut mit ihm auszukommen. Ihn redest mit Bauer an, mich mit Bäuerin. Das ist der Franzl und das Mäderl heißt Johanna, nach mir.« Die Bäuerin drückte ihr das jüngste Kind in die Arme und führte sie über den Hof. Die beiden Burschen liefen ihnen in geringem Abstand hinterher. Während Katharina versuchte, sich die Namen aller Hofbewohner einzuprägen, wuzelte das auf ihrer Hüfte sitzende Mädchen ihr Ohrläppchen. Der Bauer hatte neben einem Knecht und zwei Mägden einen Inwohner, der in einem separaten Häuschen auf dem Hof wohnte und die Kosten für die Überlassung des Wohnraumes in Arbeit abgelten musste. Hatte er seine Verpflichtung gegenüber dem Bauern erfüllt, ging er anderswo in Lohnarbeit. Die Mägde und der Knecht wohnten im Bauernhaus, in separaten Kammern.

Die Stimmgewaltigkeit des Bauern offenbarte sich Katharina an ihrem ersten Abend. »Außer dem Gebet wird bei Tisch nichts gesprochen«, donnerte er und hob mit der Faust auf den Holztisch. Wütend fixierte er das Mädchen, das starr vor Angst die Luft angehalten hatte. Die Bäuerin legte wortlos ihre Hand auf die seine. Er widmete sich seiner Milchsuppe mit den dampfenden Erdäpfeln.

Nur wenige Tage nach Katharinas Ankunft beim Sperlbauern setzten bei der Bäuerin die Wehen ein. Schon morgens hatte sie über Rückenschmerzen geklagt. Katharina blieb mit den drei Kindern in der Küche, machte den Abwasch und bereitete das Mittagessen vor. Als sich die Bäuerin nach der Mittagsmahlzeit vom Stuhl erhob, platzte die Fruchtblase. Für einen kurzen Moment sah sie an sich herunter, zu ihren Füßen eine kleine Lache. Dann begann sie zu fluchen. Der Knecht stob eilig davon, um die Hebamme herbeizuholen. Katharina, die im ersten Moment nicht wusste, warum plötzlich diese Aufregung herrschte, wurde von der Bäuerin angewiesen, die Kinder nach draußen zu bringen und dort zu beschäftigen.

»Ich halte das Geschrei nicht länger aus. Wo bleibt dieser Trottel mit der Hebamme?«

Der Bauer stürmte zurück in das Haus.

Katharina hatte die kleine Johanna an sich gedrückt, die beiden Buben kauerten jeweils links und rechts von ihr. Das regelmäßige Schreien aus dem Haus verängstigte die Kleinen.

»So wirst du auch bald schreien, wenn du nicht aufpasst«, prophezeite Margarethe Maria. »Du kannst von Glück reden, dass die Bauersleute noch nichts davon mitbekommen haben. Spätestens, wenn du mit einem dicken Bauch herumrennst, werden es alle wissen. Was machst mit einem Kind? Glaubst der Wengler wird dich heiraten? Der hat nichts, wohnt als Inwohner und hat damit zu tun, sich selbst über die Runden zu bringen. Alleine wirst dastehen.«

»Und du wirst nie einen abkriegen und selbst irgendwo als Inwohnerin enden«, entgegnete Maria.

»Dumme Kuh. Was geht’s mich an. Lass uns aufs Feld gehen, bevor der Bauer tobt.«

Katharina verfolgte die Auseinandersetzung nur mit halbem Ohr. Sie ängstigte sich zu sehr vor den Schmerzensschreien der Bäuerin.

»Mama aua«, sagte Karl.

Katharina wusste, sie sollte die Kinder beschwichtigen, doch sie brachte keine beruhigenden Worte über die Lippen. Was wäre, wenn es der Sperlbäuerin nicht besserginge? Wenn sie einfach die Augen schlösse, ihre Haut jede tröstende Wärme verlöre und ihre Kinder mutterseelenallein auf der Welt zurückbleiben müssten? Was wäre, wenn die Sperlbäuerin genauso stürbe wie ihre Mutter. Sie hatte es nicht vergessen. Die Schmerzensschreie der Mutter, das Blut, die zwei winzigen Mädchen und dann die Mutter mit geschlossenen Augen, als würde sie nur schlafen. Kalt.

»Was ist hier los?«, tönte in diesem Moment die Stimme des Pfarrers. Katharinas Antwort erübrigte sich, als die Bäuerin von einer erneuten Wehe erfasst wurde.

»Und warum schaut ihr so verschreckt?«

»Mama aua.«

»Ja, Karl. Frauen müssen unter Schmerzen Kinder gebären. Dies wurde ihnen durch die Sünde Evas auferlegt.« Der Vierjährige blickte den Pfarrer verständnislos an und versteckte sein Gesicht hinter Katharinas Schürze.

»Was für eine Sünde hat Eva begangen?«, fragte Katharina. Der Pfarrer freute sich über die Wissbegierde des Mädchens und schickte sich sogleich an, von den Verfehlungen Evas zu erzählen.

»Und Gott straft die Frauen mit dem Tod?«

»Gott ist gerecht, aber nicht grausam. Er straft sie mit Schmerzen bei der Geburt«, bemühte sich Johann Lutner, dem unwissenden Mädchen das Wort Gottes näherzubringen.

»Meine Mutter ließ er zuerst leiden und dann sterben«, entgegnete sie tonlos.

Der Pfarrer öffnete den Mund, um Katharina zu berichtigen, aber ihm fielen die richtigen Worte nicht so recht ein.

Das wachsende Unbehagen des Pfarrers wurde durch das Eintreffen der Hebamme vertrieben.

»Gott zum Gruß, Büttin. Viel zu tun in diesem Jahr, nicht wahr?«

»Keine Zeit«, rief Maria Bütt, die etwa fünfzigjährige Hebamme, als sie mit gerafftem Rock an dem Pfarrer und den Kindern vorbeieilte.

Nach wenigen Minuten erschien der Sperlbauer vor dem Haus und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Man hätte meinen können, er hätte die Schmerzen ertragen müssen.

»Was stehst so blöd herum? An die Arbeit mit dir!«, fuhr er den Knecht an, der wahrscheinlich mehr Grund hatte, erschöpft zu sein als der Bauer und eine kleine Verschnaufpause nötig gehabt hätte. Als er den Pfarrer erblickte, stammelte er: »Herr Pfarrer! Sie hier?« Der Pfarrer suchte seine Schäfchen nur in kirchlichen Angelegenheiten auf. Die alten Ottakringer nahmen es ihm übel, dass er sich nicht wie sein Vorgänger der Gemeinde anschloss und in den Familien verkehrte. Die Bewohner des neuen Ortsteils waren meist die Nachsichtigeren, obwohl auch diese die Seelsorgequalitäten eines Pfarrers in der Häufigkeit seines Wirtshausbesuches maßen. Demnach war er ein miserabler Seelsorger, denn die Schenken besuchte er nie. Der Konsum von Alkohol verschlimmerte seine Gicht nur. Am meisten trug zur Verschlechterung der Beziehung der ewige Streit um den Hausgulden bei, auf welchen er nicht verzichten konnte, ohne sein Einkommen empfindlich zu schmälern. Die Eigentümer der neuen Häuser hielten sich anfangs dazu gar nicht verpflichtet. Die Rückstände waren immer größer geworden, bis er eine Beschwerdeeingabe bei der Landesregierung machte. Diese verfügte, dass der zu entrichtende Betrag aus der Gemeindekasse zu erfolgen hatte. Die Gemeinde nutzte diese Gelegenheit, ihn bei der Bevölkerung noch unbeliebter zu machen.

»Ich wollte nur kurz nach dem Pflegling Ausschau halten«, dabei deutete er auf Katharina. »Es trifft sich zufällig, dass ich zeitgleich zur Niederkunft komme.« Sichtlich beruhigt entspannte sich der Bauer. »Wie geht es deinem Weib?«, erkundigte sich Johann Lutner.

»Bei den anderen Kindern hat sie nie so geschrien.«

»Das ist schön zu hören!«, freute sich Pfarrer Lutner und schenkte allen Anwesenden ein aufmunterndes Lächeln.

»Ich brauche Hilfe«, unterbrach sie die Büttin. Der Bauer und der Pfarrer blickten sich an. »Ist keine Magd da, die zulangen könnte?«

Der nächste Schrei der Sperlbäuerin durchbohrte die dunstige Mittagsluft.

»Beide Mägde sind auf dem Feld«, stotterte der Bauer.

»Was ist mit dir?«, sagte die Hebamme mehr auffordernd als fragend. Panik ergriff von Katharina Besitz. »Die Bäuerin braucht ein wenig Unterstützung. Komm, bist fast kein Kind mehr.«

Der Pfarrer nahm Katharina die einjährige Johanna ab und tätschelte ihr aufmunternd den Kopf. »Es wird alles gutgehen, du wirst sehen. Die Sperlbäuerin ist ein gutes Weib. Gott wird ihr beistehen.«

»Meine Mutter war eine gute Frau. Gott hat ihr trotzdem nicht beigestanden. Stattdessen hat er ihr den Teufel ins Bett geschickt und später den Tod.« Katharina folgte der Büttin ins Haus. Karl Sperl blickte den Pfarrer fragend an, erhielt aber keine Erklärung für Katharinas gotteslästerliche Aussage.

Am darauffolgenden Sonntag nach der Messe besuchte Katharina zum ersten Mal das Grab ihrer Mutter. Der Pfarrer hatte sie dazu ermutigt. Er meinte, die Mutter freute sich sicher darüber und ihr selbst täte es vielleicht ebenfalls gut. Büschel von Unkraut wuchsen auf dem Grab, die Katharina sorgfältig auszupfte und stattdessen einige Wiesenblumen drauflegte. Nachdem sie damit fertig war, blieb sie unschlüssig knien. Was machte man an einem Grab? Ein Gebet sprechen. Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach etwas Passendem. Es wollte ihr kein Psalm einfallen. So entschied sich Katharina, ihrer Mutter die Geschichte von der verärgerten Karotte und dem dicken Erdapfel zu erzählen.

»Die Sperlbäuerin hat auch einen Gemüsegarten. Ich arbeite dort oft mit den Kindern. Ich erzähle ihnen dann immer deine Geschichte von der Karotte. Johanna versteht es noch nicht, aber Karl lacht, genau wie ich. Und der Franzl lacht, weil wir so lachen«, nachdenklich hielt Katharina in ihrer Erzählung inne. »Die Sperlbäuerin hat letzte Woche noch zwei Kinder bekommen. Ich wusste, dass es zwei sind. Zwei Buben. Das wusste ich freilich nicht im Vorhinein. Wolfgang und Georg. Wolfgang ist der ältere, um fünf Minuten. Die Büttin - das ist die Hebamme - hat an seinem Handgelenk ein kleines Bändchen befestigt, um die beiden nicht zu verwechseln. Nachdem wir die beiden Buben gesäubert haben, habe ich darauf gewartet, dass die Bäuerin die Augen schließt und für immer einschläft. Wie du. Du bist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. So kam es nicht. Am nächsten Tag stand die Bäuerin auf und kommandierte gleich wieder alle herum. Ich glaube, dass sie mir ein bisschen freundlicher zugetan ist, weil ich ihr während der Schmerzen die Hand gehalten und ihr gesagt habe, dass Gott in seiner Weisheit sehr nachtragend sein muss, wenn alle Frauen wegen Evas Sünden solche Schmerzen ertragen müssen. Da hat sie gelacht und schon ist das erste Kind hinausgeflutscht. Der Pfarrer hat mir heute gesagt, dass ich im Herbst in die Schule gehen darf. Darüber freue ich mich am meisten.«