Das Kreuz im Apfel

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Das Kreuz im Apfel
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Sabrina Schmid

Das Kreuz im Apfel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

1

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Epilog

Literatur

Glossar

Impressum neobooks

PROLOG

17. April 1849

Gegrüßet seist du, Maria

voll der Gnade,

der Herr ist mit dir,

Sie verschloss dem quäkenden Säugling den Mund, ohne ihn anzusehen. Es ist besser nichts zu spüren, hatte ihr die Mutter kurz vor ihrem Tod zugeflüstert und mit einer schwachen Handbewegung auf Katharinas Herz gezeigt. Katharina war fünf und wusste, dass der Teufel keine Hörner hatte, wie ihn der Dorfpfarrer in seinen Predigten am Sonntag beschrieb. Ob der Pfarrer wusste, dass der Teufel bei ihr zu Hause wohnte? In manchen Nächten hatte ihre Mutter es nicht geschafft, ihn abzuwehren. Ihr Flehen wurde von den Pranken um ihren Hals erstickt. Katharinas Herz hämmerte in diesen Momenten gegen ihre magere Kinderbrust. Sie wagte kaum zu atmen, konnte den Anblick nicht ertragen und sich dennoch nie abwenden. Meist konzentrierte sie sich auf die dunklen Wogen, die wie ausgegossenes Schmutzwasser über das Gesicht der Mutter schwappten. Der Teufel hörte irgendwann auf, die Mutter zu malträtieren und erhob sich nach einem Grunzen.

Die Erinnerungen an die Mutter waren nach all den Jahren verblasst. Die flüchtige Vorstellung von Liebe war geblieben.

du bist gebenedeit

unter den Frauen,

und gebenedeit ist

die Frucht deines Leibes, Jesus.

1

Juli 1833, Ottakring

»Eichen, Buchen, Tannen und du musst fangen. Eichen, Tannen, Buchen und du musst suchen«, kichernd liefen Barbara und Elisabeth davon. Josef war sehr lustig anzusehen, wenn ihn die beiden älteren Mädchen abschüttelten und er sich darüber ärgerte. Katharina lehnte sich an den Baumstamm, barg ihr Gesicht in den Händen und drückte die Augen fest zu, um nicht des Schummelns bezichtigt zu werden.

»Ich komme!«, rief sie und machte sich auf die Suche. Katharina war fünf und somit gleich alt wie Josef, der ebenso wie Elisabeth und Barbara aus Wien kam. Sie hingegen war aus dem Bauch der Mutter gekommen. Manchmal wünschte sie, sie käme ebenso aus Wien. Die Mutter lag seit dem Mittagessen mit Bauchschmerzen im Bett. Sie hatte sie unter angestrengtem Keuchen nach draußen geschickt. Katharina liebte es, mit Barbara und Elisabeth und Josef im Gemüsegarten zu knien, während die Mutter ihnen Geschichten über die verärgerte Karotte erzählte. Katharina musste jedes Mal losprusten, wenn die Karotte orange vor Ärger den Erdapfel als dicke Knolle beschimpfte. Allein mit der Mutter fühlten sich die Kinder glücklich.

Weniger gern mochte Katharina die Großmutter und den Großvater. Wenn der Pfarrer in der Sonntagspredigt darauf hinwies, seinen Nächsten zu lieben, berief sie sich darauf, dass der Teufel nicht zu diesen Nächsten zählen konnte. Immerhin hatte sie die Mutter und die Geschwister aus Wien lieb. Das musste genügen.

Die Mutter schrie sich in dieser Nacht die Seele aus dem Leib. Die Kinder saßen zusammengekauert in einer Ecke und weinten still. Im Morgengrauen gebar sie zwei Mädchen, die so winzig waren, dass Katharina es kaum glauben konnte. Wenige Stunden danach schloss ihre Mutter die Augen und öffnete sie trotz inständigen Flehens nicht mehr. Die Großmutter saß ausnahmsweise nicht keifend am Küchentisch und starrte die beiden Säuglinge an.

Am darauffolgenden Tag packte sie eines der Neugeborenen und fuhr mit dem Wagen davon. Katharina, Josef und die beiden älteren Mädchen blieben mit dem Zwillingsmädchen zurück. Bald entdeckten die Kinder, dass es sich am besten beruhigen ließ, wenn man ihm den kleinen Finger in den Mund steckte. So wechselten sie sich den ganzen Tag darin ab und ließen es mal am eigenen, mal am Finger des anderen saugen, bis die Großmutter am Abend heimkehrte und wortlos das Geschwisterchen und einen weiteren Säugling mitbrachte.

2

September 1833, Wien

»Die Zustände in der Außenpflege sind vielerorts untragbar! Davor können wir nicht die Augen verschließen!«

»Die Leitung verschließt keineswegs die Augen davor. Fällt so eine Pflegepartei dem Visitator ins Auge, wird sie mit sofortigem Entzug des Pfleglings bestraft.«

»Der letzte Fall ist äußerst pikant. Beim Bericht des Visitators überkommt einen das Schaudern. Es zeigt erneut, dass die derzeitigen Kontrollen nicht ausreichen. Über Jahre hinweg hatte dieses Weib aus Ottakring Kinder aus dem Findelhaus in Pflege. Keiner wusste, welch unehrbarer und verwerflicher Machenschaften sie sich dazu bediente. Im Protokoll heißt es und ich zitiere: Nachdem ich an ihrer verschlossenen Tür eine geraume Weile gewartet hatte, kam sie, angeblich aus der Apotheke zurück, und welcher Anblick bot sich mir nun in der bewussten Stube dar! Auf einem elenden, über zwei Tische gebreiteten Strohlager lagen vier Findlinge, keiner noch zwei Monate alt, nebeneinander; drei davon vom Durchfall besudelt, der vierte, vielleicht seit einer Stunde schon, tot … Die Untersuchung des Falles wurde umgehend eingeleitet und was dabei herauskam, kann getrost als verbrecherisch bezeichnet werden.« Der Redner machte eine bedeutungsschwere Pause, um die versammelte Kommission auf die erschreckenden Einzelheiten der Untersuchung einzustimmen.

 

»Vom Herbst 1825 bis zum ersten Halbjahr 1833 nahm die verheiratete Bäuerin Therese Hochstätter siebzehn Findlinge auf. Die ersten sieben starben nach spätestens einem Monat. Die Verordnung des Findelhauses, nur an Brustparteien abzugeben, umging diese Person, indem sie ihre erst kürzlich niedergekommene Tochter schickte. Die beiden etwa siebenjährigen Mädchen und der fünfjährige Junge, die trotz erbärmlicher Zustände der Säuglinge, guter Gesundheit vorzufinden waren, befinden sich mittlerweile in anderweitiger Pflege. Über die Zuständigkeit für das Mädchen, das Katharina genannt wird, jedoch nirgends aufscheint, weder bei der weltlichen Obrigkeit noch im Taufregister, wird derzeit noch beraten. Der Pfarrer, ein gewisser Johann Lutner, gibt an, nichts von den Zuständen gewusst zu haben. Er hat die Pfarre in Ottakring vor einem Jahr von dem verstorbenen Pfarrer Gregor Kaller übernommen. Dieser hatte der Therese Hochstätter jahrelang die Ehrzeugnisse ausgestellt.« Der Kommissär massierte seine Schläfe, bevor er mit seinem Schreckensbericht fortfuhr. »Johann Hochstätter gab bei der Vernehmung zu, seine Tochter mehrmals geschwängert zu haben. Wie viele Kinder er tatsächlich mit ihr gezeugt hatte, konnte er nicht konkret angeben. Mit den Betrügereien am Findelhaus hatte er angeblich nichts zu tun. Dies war alleiniges Nebengeschäft seiner Gattin. Zwei der vier Säuglinge, die der Visitator Mückisch laut seinem Bericht auf dem Küchentisch aufgereiht vorfand, stammten aus dem Findelhaus. Unhaltbare Zustände! Diese raffgierigen Frauen tun den Findlingen nicht einmal die nötigste Pflege an.«

»Das ist keine neue Erkenntnis, so traurig sie sein mag. Die Findlingspflege hat sich in gewissen Regionen sozusagen zu einem eigenen Erwerbszweig entwickelt. Da kann noch so oft an den Christenmenschen appelliert werden. Reiche, wohlsituierte Familien nehmen selten einen Findling auf. In der Regel sind es die armen Volksklassen, die sich mit dem Kostgeld oft selbst über die Runden bringen.«

»Die ordentliche Versorgung der Kinder muss trotz dieser Tatsache sichergestellt werden. Darin sind wir uns hoffentlich einig. Eine neue Regelung über die Kontrollorgane wird hermüssen.«

»Werte Herren, nicht nur die Zustände außerhalb sind untragbar, auch der Zustand im Haus.«

»Wie dürfen wir das auffassen?«

»Ich zitiere gerne eine Stelle aus dem Bericht besagten Arztes. Er ist seit dem Jahr 1810 Aufseher der Findelanstalt. Ich kenne ein Weib, welches in einem Jahr zum 13. Male einen lebenden Findling gegen einen unter ihren Händen gestorbenen erhielt.«

»Worauf genau wollen Sie hinaus?«

»Stellt sich das nicht verständlich dar? Dann erkläre ich es gerne. Diesen gottlosen Weibern wird durch die losen Gesetze der Findelanstalt noch die Hand gereicht. Wie kann es angehen, dass eine Frau ihre Tochter vorschickt, ausgestattet mit fremden Zeugnissen, und einen Findling nach dem anderen überreicht bekommt. Wie kann es angehen, dass der Pfarrer gutgläubig Sittlichkeitszeugnisse ausstellt, obwohl in dem Hause Notzucht und wer weiß was noch vorgeht? Es muss von Grund auf an anderen Stellen angesetzt werden. Eine härtere Reglementierung der Abgabe und vor allem eine stärkere Kontrolle der Pflegefrauen vor der Zuteilung eines Kindes müssen her!«

Doktor Franz Mückisch, langjähriger Visitator der Findelanstalt, dachte seit jenem Tag ernsthaft daran, sein Kündigungsgesuch einzureichen. Laut den Aufzeichnungen, die er von der Findelanstalt hatte, befanden sich im August 1833 fünf Kinder bei dieser Pflegepartei. Diese hohe Zahl hielt ihn dazu an, trotz seines bisherigen guten Bildes, das er von der Kostpartei hatte, eine außertourliche Visitation anzusetzen. Seine Zählung vor Ort ergab vier vernachlässigte und von Kot besudelte Säuglinge. Eines davon war mit Sicherheit bereits einige Stunden tot. In den Ecken kauerten vier größere Kinder. Er hatte der Pflegefrau die Papiere aus der Hand gerissen und sie aufgefordert, ihr die zwei Säuglinge aus der Findelanstalt anzuzeigen. Eines der älteren Mädchen hatte wie verrückt zu schreien begonnen, als die Frau auf die zwei schwächsten, aber noch lebenden Säuglinge deutete: »Die sind aus dem Bauch der Mutter!« Der Visitator stand in der nach kranken Ausscheidungen stinkenden Stube und schwor sich, das Schreiben mit seiner Kündigung noch am selben Tag aufzusetzen. Er flüchtete mit einem lebenden Säugling, zwei größeren Mädchen, einem Jungen und einem in Tücher eingeschlagenen kleinen Leichnam aus der Dunkelheit dieser Höllengruft. Ob er die richtigen Kinder mitgenommen hatte, konnte er nicht gesichert sagen. Es waren zumindest fünf an der Zahl, das Geschlecht stimmte und das Alter kam in etwa hin.

Noch in derselben Woche erschien die Polizei in Begleitung des vierzigjährigen Pfarrers. Die Großmutter bestritt unter Berufung auf Gott die Existenz von zwei weiteren Säuglingen im Haus, wie es der Visitator Mückisch in seinem Bericht vermerkt hatte. Die kleinen Körper der Zwillingsmädchen wurden nur wenige fingerbreit unter der Erde im Gemüsegarten zwischen den Kürbissen entdeckt. Katharina war froh, dass die Großmutter sie nicht zwischen den Karotten verscharrt hatte. Die Großeltern wurden unter lautem Protest aus der Stube geführt und weg waren sie.

Katharina stand vor dem schäbigen Haus und starrte ihnen hinterher. Pfarrer Lutner bedeutete ihr, ihm zu folgen. Der Visitator hatte ihn in einem Schreiben dazu angewiesen, das Kind für einige Tage in seine Obhut zu nehmen, bis die Zuständigkeit für die Versorgung des Mädchens geklärt sei. Johann Lutner wünschte sich zum wiederholten Male in seine alte Pfarre in Hollern bei Bruck an der Leitha zurück.

Vor ihnen tauchten der Pfarrhof und die Kirche auf. Er erinnerte sich nur zu gut an seine Ankunft vor einem Jahr in der Pfarrei Ottakring. Die Aufschrift ober der Kirchentüre Dilexi decorem domus tuae stellte sich nach einem ersten Rundgang als Ironie erster Güteklasse heraus. Die Kirche war innen rot und gelb gefärbelt, recht stark in die Augen fallend. Der Tabernakel, die Kanzel und die Orgel waren grün angestrichen. Der Kanzel gegenüber stand ein grün angestrichener Kasten mit einem Krippel. Zwei geschnitzte und bemalte Engel von ungleicher Größe auf braunen Fußgestellen thronten auf dem Hochaltar, auf welchem nur vier alte zerbrochene Leuchter standen. Auf beiden Seiten der Wand waren zwei Bretter angenagelt, nach der Form Johannes und Maria ausgeschnitten. In der Mitte des Altars an der Wand hing die Abbildung des sterbenden Heilands am Kreuze in einem schwarz angestrichenen, weichen Rahmen. Dieses Bild ließ er zwar putzen, aber das Gemälde blieb wegen seines Alters undeutlich und schwarz. Seit seiner Ankunft war er nur auf Übelstände gestoßen. Er hatte mit konsequenter Strenge versucht, die Kassen und das Armeninstitut zu ordnen und die Kirchenzucht zu heben. Seine Bemühungen brachten ihm Widerstand und Anfeindungen ein. Unter sich hielten die Ottakringer nicht zusammen, aber gegen jene, welche hier nicht aufgewachsen waren, war der Zusammenhalt ein fester.

»Du bist nicht getauft«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr, als sie am Tisch im Pfarrhaus Platz genommen hatte. Die zwei Fenster auf die Gasse und das eine in den Hof des größeren Zimmers waren klein und fast quadratisch und neben einem winzigen Winkelfenster die einzige Tageslichtquelle. »Du bist jeden Sonntag in der Kirche gesessen und nicht getauft.« Die Zimmerdecke war nur ein Sturzboden, mit Brettern überschlagen. »Ich dachte immer, du seiest aus dem Findelhaus, wie die anderen.«

»Nein, Herr Pfarrer, ich komme nicht aus Wien. Ich komme aus dem Bauch meiner Mama«, klärte sie den Pfarrer auf, der die Welt nicht zu verstehen schien.

»Hm«, brachte dieser nur hervor.

Und weil Katharina immer noch das Gefühl hatte, dass der Pfarrer zu wenig wusste, beschloss sie, ihn auch über den Teufel aufzuklären. »Keine Hörner, Herr Pfarrer, keine Hörner«, schloss sie ihren Bericht über den Teufel in ihrem Haus und beobachtete dabei die fahler werdende Gesichtsfarbe des Geistlichen.

»Du wirst getauft. Ungetauft im Pfarrhaus, das geht nicht an.«

Zwei Tage blieb Katharina beim Pfarrer, ehe der Dorfrichter Franz Sallinger sie abholte und in das große Haus mit den vielen Kindern bringen ließ. Sie saß am Tisch mit Kindern, die sie nicht kannte, und wurde von einer Frau mit weißer Schürze und weißer Haube beim Essen beaufsichtigt. Auf den aufgereihten Matratzen am Boden neben der Wand schliefen die Säuglinge. Sie selbst zählte zu den Größeren und trotzdem fühlte sie sich so ganz ohne ihre Mutter und ihre Geschwister recht klein. Ihre Vorfreude, Barbara, Elisabeth und Josef in dem Findelhaus wiederzusehen, wurde enttäuscht. Sie waren nicht da.

Sie beschloss, die Wärterin mit der Haube zu fragen. Diese meinte nur, dass sie bestimmt bei einer neuen Pflegefamilie seien. »Täuschlinge bleiben nie so lange, außer sie sind recht krank.«

»Was ist ein Täuschling?«, fragte Katharina, das letzte Wort lang dehnend.

»Beim Essen wird nicht gesprochen«, erinnerte die Aufseherin.

»Bin ich ein Täuschling?«

»Täuschlinge sind von den Kostplätzen zurückgestellte Kinder, aus den verschiedensten Gründen. Du bist ein zeitweilig aufgenommenes Kind.«

»Was ist das?«

»Kinder, die nicht aus dem Findelhaus stammen.«

»Aha, Kinder aus dem Bauch der Mutter.« Katharina schob sich das nächste zu große Erdapfelstück in den Mund. »Ich verstehe.«

3

Juli 1838, Gefangenenhaus

»Hör auf zu weinen«, forderte eine energische Stimme. Bald würde in der Zelle tiefe Dunkelheit herrschen. »Das entstellt dein Gesicht.«

Katharina zog den Rotz hoch und schaute die Frau in der hinteren Ecke verstohlen an. Das Auffälligste an ihr waren die Haare, die sich um ihr helles Gesicht kringelten.

»Die waren immer schon so«, meinte sie als Antwort auf Katharinas unausgesprochene Frage. »Die dagegen«, und zeigte dabei auf Brüste, die beinahe aus dem Mieder hüpften, »kamen erst später.« Sie erhob sich, strich den Rock glatt und kam auf Katharina zu. Für eine Frau hatte sie eine beachtliche Größe. »Ich heiße Mila, eigentlich Milleta, aber das ist den Kunden zu lang, deshalb Mila.« Mila wartete, dass das Mädchen ihren Namen nannte. »Willst du nichts sagen oder kannst du nicht?«

»Du bist sehr groß«, sagte Katharina auf Böhmisch. Mila horchte auf, als sie ihre Landesprache aus dem Mund des Mädchens hörte.

»Das sagen meine Kunden auch oft«, entgegnete Mila in derselben Sprache. »Hätte nicht gedacht, dass du aus Böhmen kommst. Siehst eigentlich nicht danach aus.«

»Ich habe dort gelebt. Geboren bin ich woanders.«

»Wusste ich es!«, freute sich Mila und sah sich in ihrer Fähigkeit bestätigt, Menschen nach dem Aussehen ihrer Herkunft zuordnen zu können. »Sag mir erst deinen Namen und dann erzähl, warum du geweint hast. Sogar die Freier nennen einen Namen, bevor sie loslegen.«

Katharinas Unterlippe zitterte. Sie erinnerte sich an die Einsamkeit, die sie im Findelhaus verspürt hatte und die sie erneut überrollte. Die Wärterin beglückwünschte sie damals mit aufrichtiger Freude. Die Frau, die sie aufnahm, war die Gattin des Forstverwalters irgendeines böhmischen Grafen und hatte selbst zwei Mädchen. Das jüngste war in ihrem Alter und lange Zeit recht krank. Der Graf hatte das kranke Kind zu einem bekannten Wiener Arzt bringen lassen. Das Mädchen war gesundet und als gottgefälliges Werk wollte die Frau des Forstverwalters ein Kind aufnehmen. Mit der Anweisung, sich mit dem Fragen zurückzuhalten, war Katharina der ihr fremden Frau übergeben worden, deren Sprache sie nicht verstand.

»Heißt das, du hast Deutsch verlernt?«

 

»Es gab dort einen Förster. Kostron. Der war oft beim Onkel und hat mit mir deutsch geredet und mir vorgelesen. Er hatte im Winter immer kleine Eiszapfen in den Barthaaren hängen. Während er dem Onkel Bericht erstattete, befreite ich ihn von den Eisstückchen. Er hat gesagt, dass es wichtig sei, die Sprache nicht zu vergessen. Man könne nie wissen.«

»Kluger Mann. Der Kaiser spricht immerhin deutsch«, meinte Mila. »Und hattest du es gut dort?«, fragte Mila bang.

»Oh ja, und wie«, schwärmte Katharina und ein Leuchten zeigte sich in ihren vorhin noch so traurigen Augen. »Tante Mařka meinte, ich könne sie beide Vater und Mutter nennen. Das konnte ich nicht.« Sie sah ihre Mama noch nach all den Jahren mit geschlossenen Augen und kalter Haut auf der Bettstatt liegen. »Von da an hatte ich einen Onkel und eine Tante und zwei Cousinen. Der Onkel konnte Geschichten erzählen, da kam einem das Staunen. Ich habe ihm so gerne zugehört, wenn er etwas erzählt hat. Er meinte oft, ich sei naseweis und viel zu neugierig. Im Frühling kamen viele Leute vorbei. Manchmal war ein Schindelmacher für längere Zeit auf dem Gut, um das Dach der Scheune oder des Stalls zu reparieren. Wir hatten einige Stück Vieh und mindestens zwei Schweine und ganz viel Geflügel. Da schlüpften die Küken eins nach dem anderen. Der Frühling war wundervoll, mit all den Blumen. Zuerst blühten Huflattich, Gänseblümchen und Fingerkraut. Zu unseren Aufgaben gehörte es, die Haselnusssträucher im Vorgarten auf die winzig kleinen roten Fruchtblüten hin zu untersuchen. Weißt du, die Anzahl der Blüten sagt einem, wie viele Nüsse es geben wird.«

»Das sind bestimmt eine ganze Menge. Kannst du gut zählen?«, fragte Mila, der von dem Wortschwall des Mädchens der Kopf schwirrte.

»Natürlich. Ich war in der Schule. Ein Jahr nachdem ich zur Tante und zum Onkel gekommen war, wurden ich und Lorča in die Schule in Radnice geschickt. Wir brauchten fünfundzwanzig Minuten runter, bei gutem Wetter. Im Winter war der Weg beschwerlicher. Im Herbst konnte es mit all dem Matsch auch eine ziemliche Plackerei sein.«

»Sie haben dich gerngehabt, wie mir scheint. Warum musstest du weg? Wie alt bist du?«

»Zehn. Mit zehn Jahren wird man aus der Findelanstaltspflege entlassen. Wenn man nicht bei der Pflegefamilie bleiben kann, wird man zurückgeschickt und die überstellen einen dann zur eigenen Familie oder an die Heimatgemeinde.«

»Warum konntest du nicht bleiben?«, fragte Mila erneut.

»Der Onkel ist gestorben«, presste Katharina hervor. Milas Betroffenheit war echt. Sie wartete geduldig bis die Kleine sich gefangen hatte und von alleine weitererzählte. »Es war ein Unfall. Einige Tage nach Weihnachten erhielt er vom Grafen den Auftrag, Bäume zu fällen. Der umstürzende Baum begrub ihn unter sich. Die Tante brach ohnmächtig zusammen, als man den toten Onkel nach Hause brachte. Im Frühjahr teilte sie mir mit, dass sie nach Třeboň umziehen würden. Ihre älteste Tochter Bedřiska wohnt dort seit zwei Jahren bei einem Notar und dessen lediger Schwester. Er war ein Freund des Onkels. Auch Lorča wäre im Herbst dorthin geschickt worden. Dann starb der Onkel, und die Tante stimmte dem unerwarteten Heiratsantrag des Notars zu. Ich bettelte, sie begleiten zu dürfen. Der Notar wollte das nicht. Ich nannte ihn einen gemeinen Hund. Doch die Tante meinte, es wäre rechtschaffen genug, eine Witwe mit zwei Töchtern zu heiraten. Mehr könne sie nicht verlangen. Tante Mařka und Lorča packten ihre Sachen und bestiegen weinend eine Kutsche. Am gleichen Tag wurde ich von einem Mann, den ich nicht kannte, in einen Wagen gesetzt und ich verließ das Forsthaus. Ich habe nicht geweint. Dafür kann ich jetzt nicht mehr damit aufhören.«

Mila durchbrach die Stille und klopfte sich auf die Oberschenkel. »Das Forsthaus liegt hinter dir, aber vor dir noch dein ganzes Leben, und es wird ein glückliches sein!« Mila glaubte nicht an ihre Worte, wie hätte sie auch. Sie war froh, als Katharina die herankriechende Angst rechtzeitig unterbrach.

»Die schönsten Erinnerungen habe ich an Weihnachten. Schon einige Tage vor den Feiertagen gab es viel Geheimniskrämerei, Verstecken und Vorbereitungen. Die ganze Wohnung wurde geputzt, hinter die Fenster kam grünes Moos mit Strohsternen. Der Duft von Äpfeln, Weihnachtsstriezel, Lebkuchen, Vanille und Schokolade erfüllte das ganze Haus.« Katharina gähnte und legte den Kopf an Milas Schulter. Mit träger Stimme erzählte sie mehr für sich selbst als für Mila von ihren Erinnerungen an Weihnachten weiter. »Als es endlich dunkel wurde, deckten die Dienstmägde den Tisch. Alle mussten sich waschen und ordentlich anziehen. Der Onkel sprach das Gebet. Die Augen aller hoffen auf Dich, Herr, und du gibst ihnen Speisen zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand … und weiter weiß ich es nicht mehr. Es war sehr andächtig. Das Essen schmeckte herrlich und als der Strudel auf den Tisch kam, konnte ich kaum noch einen Bissen hinunterbringen. Da musste noch jeder von dem Obst kosten, damit man das ganze Jahr über gesund bliebe, und einen Apfel auseinanderschneiden, um zu sehen, ob darin ein Kreuz oder ein Stern sein würde. Dies sagt einem voraus, ob es ein gutes oder schlechtes Jahr werden wird.« Mila kannte diesen böhmischen Brauch. »Der Onkel hatte beim letzten Weihnachtsfest ein Kreuz.«

Mila strich dem Mädchen über den Kopf und dachte an ihr eigenes Kind.