Verformte Erinnerung

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Verformte Erinnerung
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Sabine Küntzel

Verformte Erinnerung –

Hitlers Sekretärin Traudl Junge

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-098-2 (epub) // 978-3-86408-099-9 (pdf)

Korrektorat: Lars Diedrich

Coverabbildung: Traudl Junge 2002 (aus dem Film Im stillen Winkel, DOR FILM in Zusammenarbeit mit Heller Werkstatt im Verleih der Piffl Medien, siehe: http://www.dor-film.com)

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2012

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

I. Einleitung

II. Das Leben der Traudl Junge

1. Eine Kindheit in München

2. Reichskanzlei, Wolfsschanze und Obersalzberg – Sekretärin bei Hitler

3. Im Bunker unter der Erde Berlins - Das Ende

4. Zwischen Flucht und Neuanfang - Die Nachkriegszeit

5. Öffentliches Interesse und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

III. Aufarbeitung der Vergangenheit und die Frage der Schuld

IV. Resümee

V. Anhang

1. Quellen

2. Lese- und Filmtipps

3. Lebensdaten

4. Endnotenapparat

I. Einleitung

„Natürlich hab ich diese Schrecknisse durch den Nürnberger Prozess, diese sechs Millionen Juden, und andersgläub-, oder andersrassischen Menschen, die da umgekommen sind, als eine ganz erschütternde, fürchterliche Tatsache empfunden. Aber ich hab noch nicht den Zusammenhang hergestellt mit meiner eigenen Vergangenheit. Ich hab mich noch damit zufrieden gegeben, dass ich persönlich keine Schuld hatte und auch davon nichts gewusst hab. Von diesem Ausmaß, hab ich nichts gewusst. Aber eines Tages bin ich an der Gedenktafel vorbeigegangen, die für die Sophie Scholl an der Franz-Joseph-Straße befestigt war und da hab ich gesehen, dass sie mein Jahrgang war und dass sie in dem Jahr, als ich zu Hitler kam, hingerichtet worden ist. Und in dem Moment hab ich eigentlich gespürt, dass das keine Entschuldigung ist, dass man jung ist und dass man auch hätte vielleicht Dinge erfahren können.“1


Traudl Junge 2002 (aus dem Film Im stillen Winkel, DOR FILM in Zusammenarbeit mit Heller Werkstatt im Verleih der Piffl Medien)

Es erzählt eine alte Frau mit grauen, leicht vom Kopf abstehenden Haaren, deren dünne Enden in zwei Bögen hinter dem Kopf verschwinden. Unter dem Haaransatz beginnt die bejahrte Stirn eines markanten Gesichtes, dessen Züge eine frühere Schönheit erahnen lassen. Doch zwei tiefe Furchen verlaufen zwischen den geschwungenen, hochgezogenen Augenbrauen. Während des Sprechens hebt und senkt die Frau ihr Haupt, schaut ihren nicht sichtbaren Gesprächspartner an, dann wieder zu Boden. Sie scheint etwas aufgebracht, das Reden fällt ihr nicht ganz leicht. Immer wieder stockt sie, verhaspelt sich, sucht nach besseren Worten.

Mit stahlblauen Augen blickt sie unter den Schlupfliedern hervor. Es ist Gertraud Junge, genannt Traudl, eine der vier persönlichen Sekretärinnen Adolf Hitlers. Kurz vor ihrem 22. Geburtstag begann sie für ihn zu arbeiten und war von da an für drei Jahre stets in der Nähe des Reichskanzlers. Der Berchtesgadener Landsitz des „Führers“ und das Führerhauptquartier Wolffschanze dienten ihr als Büro. Als die Zerschlagung des Gewaltregimes nahte und Hitler in seinem Bunker die sowjetischen Truppen erwartete, war auch Junge mit unter der Erde. Sie gehörte zu dem so genannten „inneren Kreis“ um Hitler, von dem nur einige bis zum Ende Hitler treu zur Seite standen. Ihre Berichte zählen zu den wichtigsten Quellen über die letzten Tage Hitlers und die Situation in diesem unwirtlichen Ort unter der Reichskanzlei in Berlin. Obwohl Junge in engem Kontakt zu Hitler und anderen führenden Persönlichkeiten des Nationalsozialismus (NS) stand und ihr freiwilliges Verbleiben im Bunker für ihre Befürwortung des Regimes und dessen Ideologie spricht, wurde Junge nach dem Krieg nicht belangt. Die Alliierten stuften sie als Mitläuferin ein und sie ging straffrei aus. Nachdem Junge lange Jahre über ihre Erlebnisse geschwiegen hatte, wurde sie nach der Veröffentlichung einer Autobiografie und eines Dokumentarfilmes sehr bekannt. Ihre Teilhabe an den letzten Stunden im Bunker und ihre Nähe zu Adolf Hitler und anderen NS-Größen machen ihre Aufzeichnungen zu faszinierenden Zeugnissen. Darüber hinaus bieten sie Einblicke in die Verarbeitung von Geschichte und autobiografisches Erinnern.

Die Einschätzung als unschuldige Trittbrettfahrerin und die Faszination, die sie auf Grund ihrer Einblicke in das Herz des NS-Regimes auf nachfolgende Generationen ausübt, machen Junge zu einer spannungsreichen Person. Ihr Leben, das im Folgenden nacherzählt wird, wirft moralische Fragen nach Schuld und Unschuld, Täterschaft und Mitläufertum, Uneinsichtigkeit und Reue auf. Zur besseren Einordnung wird die Biografie in die historischen Ereignisse ihrer Zeit eingebunden. Informationen über das Leben Junges sind lediglich aus autobiografischen Zeugnissen zu beziehen – aus ihrer unter Mithilfe der Journalistin Melissa Müller entstandene Autobiografie Bis zur letzten Stunde sowie dem Interviewfilm Im toten Winkel von André Heller und Othmar Schmiderer – weshalb sie als fragmentarische Erinnerungen anschließend kritisch betrachtet werden. Ihre Selbstdarstellung, die Wahrnehmung und Einschätzung ihrer Person und die Mechanismen des Umgangs mit einer belasteten Vergangenheit werden dabei deutlich. Die Betrachtungen sollen zum Nachdenken über Handlungsmöglichkeiten anregen, anhand der Biografie eines Menschen, der in einer Diktatur aufwuchs und von dem Entscheidungen zu treffen waren: Hitlers Sekretärin Traudl Junge.

II. Das Leben der Traudl Junge
1. Eine Kindheit in München

„Meine Familie war eben leider ganz unpolitisch.“2

Als Adolf Hitler im Jahr 1933 in Deutschland an die Macht kam, trug Traudl Junge noch ihren Mädchennamen Humps und war 13 Jahre alt. Dass der von ihr verehrte „Führer“ einmal ihr Vorgesetzter werden sollte, ahnte das junge Mädchen noch nicht. Genauso unbewusst war ihr, welch schwerwiegenden politischen Wandel sie miterlebte. Allein einen bevorstehenden Aufschwung glaubte sie in den veränderten Verhältnissen zu erkennen. Ein wirkliches Interesse an Politik hatte die Heranwachsende hingegen nicht. Neben den Erfahrungen aus der Schule, in der die Machtübernahme Hitlers als großes Fest gefeiert wurde, erhielt sie keine politische Bildung. Zu Hause schwieg man zu derartigen Fragen. Der Großvater, in dessen Haus ihre Familie lebte, interessierte sich mehr für die Jagd und die Oper. 3 Jahre später als alte Frau beklagte sie: „Meine Familie war eben leider ganz unpolitisch. Meine Mutter war allein erziehend und der Großvater war General und war eigentlich ein Haustyrann. [...] Er war völlig uninteressiert an Politik, es ist nie darüber gesprochen worden.“ 4

Traudl Junge wurde am 16. März 1920 im Deutschland der Zwischenkriegszeit geboren. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, das alte monarchistische Regime war gerade in der Novemberrevolution gestürzt worden und der Kaiser in die Niederlande geflohen, waren viele Deutsche unzufrieden mit der neu entstandenen Republik. Zahlreiche Menschen fühlten sich von den Alliierten, die Deutschland die alleinige Kriegsschuld zugeschrieben hatten, ungerecht behandelt und verlangten eine Revision des Versailler Vertrags, der erhebliche Gebietsabtretungen auf deutscher Seite und Reparationszahlungen vorsah. Anhänger der alten Ordnung sahen in den Veränderungen ein bolschewistisches Chaos, das es zu bekämpfen galt. Rechtsradikale Strömungen, antirevolutionäre Selbstschutzverbände und Putschversuche waren die Folge. In den ersten Jahren der Weimarer Republik wurden zahlreiche Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberale von deutschvölkischen Akteuren ermordet, unter ihnen Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Walther Rathenau. Auch auf kommunistischer Seite gab es Umsturzversuche. In diesen aufrührerischen Zeiten verstärkte sich zudem der schon seit Ende des 19. Jahrhunderts gewachsene Antisemitismus, der sich aus einem vormals eher religiös bedingten Antijudaismus entwickelt hatte.5 Die Weichen für die Zukunft des deutschen Staates wurden gestellt.

 

Junges Vater Max Humps, Braumeister aus Regen und Leutnant der Reserve, arbeitete in der Münchner Löwenbrauerei. Ihre Mutter Hildegard, geborene Tottmann, war Tochter eines Generals und drei Jahre jünger als ihr Gatte. Zusammen wohnten sie in einer Mansardenwohnung in Schwabing. Bald nach der Geburt der ersten Tochter Gertraud, die später nur noch Traudl genannt werden sollte, verlor der Vater seine Anstellung. Zu den daraus entstandenen finanziellen Schwierigkeiten kamen Probleme in der Ehe. Weil er keine neue Stelle fand, schloss sich Max Humps dem Freikorps Oberland an, um wenigstens irgendeine Beschäftigung zu haben. Das im April 1919 zum Vorgehen gegen die Räterepublik gegründete Freikorps war eine der aktivsten bayerischen Wehrbewegungen aus Freiwilligen und ehemaligen Frontsoldaten dieser Zeit.6 Humps beteiligte sich an den antikommunistischen, politisch rechten Aktionen der für ihre Brutalität bekannten Vereinigung. Bei der gewaltsamen Erstürmung des Annaberges in Oberschlesien während des oberschlesischen Grenzkrieges gegen Polen 1921 war er mit von der Partie.

Nach der Auflösung aller deutschen Wehrverbände 1921 durch die Alliierten gründeten Teile des Freikorps Oberland den Bund Oberland mit Hauptsitz in München. Dessen Programm nannte als Grundgedanken der Vereinigung den Kampf gegen den Versailler Vertrag und Treue zum Reich. Die Wehrarbeit wurde geheim weitergeführt. Anfang Februar trat der Bund der Arbeitsgemeinschaft Vaterländischer Kampfverbände Ernst Röhms bei, der auch die Sturmabteilung (SA) angehörte. Um besser gegen innere Feinde und die Republik angehen zu können, wurde eine Zusammenarbeit mit der aufstrebenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP) angestrebt, einer von vielen kleinen völkischen Gruppen dieser Zeit in München. Nach dem bewaffneten Vorgehen gegen Sozialdemokraten und Kommunisten auf dem Münchner Oberwiesenfeld am 1. Mai 1923 – die Rechte wollte damit feierlich an die Niederschlagung der Münchner Räterepublik vier Jahre zuvor erinnern – wurde der Bund im September Teil des Deutschen Kampfbundes, dessen politische Führung dem Vorsitzenden der NSDAP, Adolf Hitler, und General Erich Ludendorff oblag. Am 8. November des gleichen Jahres erklärte Hitler, der in Bayern bereits als „deutscher Mussolini“ galt, im Münchner Bürgerbräukeller die bayerische Regierung für abgesetzt. Hierbei waren ebenfalls einige Kompanien des Bundes beteiligt und nahmen jüdische Geiseln. Humps wurde im Anschluss für seinen Einsatz zwar mit dem Blutorden der NSDAP ausgezeichnet, im Gegensatz zu Adolf Hitler und dem Bundesführer Weber, jedoch nicht verhaftet, da seine Beteiligung zu gering war. Aufgrund der Aktivität im Orden, der nach seinem Verbot 1923 als Deutscher Schützen- und Wanderbund weitergeführt wurde, war Junges Vater nur selten zu Hause.7

Im Dezember kam Junges Schwester Inge zur Welt. Erst zwei Jahre nach der Geburt der zweiten Tochter fand Max Humps eine neue Anstellung. Nicht in Deutschland, sondern in der Türkei. In dem jungen Nationalstaat wurden ausländische Fachkräfte zum Aufbau der Infrastruktur und die Ausbildung einheimischer Kräfte gebraucht.8 Er arbeitete dort erneut als Braumeister. Seine Familie wollte er nachholen, doch Hildegard Humps weigerte sich und reichte stattdessen die Scheidung ein. So verlor Junge mit fünf Jahren ihren Vater gänzlich, den sie in der wenigen gemeinsam verbrachten Zeit eher als einen kumpelhaften Spielkameraden wahrgenommen hatte. Als sie im Jahr darauf in die Simultanschule in der Münchner Luisenstraße eingeschult wurde, lebte Junge schon mit ihrer Mutter und ihrer Schwester bei den Großeltern. Die Strenge des Großvaters Maximilian Zottmann wurde durch Großmutter Agathe gemildert. Nach deren Tod 1928 wurde die Wohnsituation für das Mädchen allerdings schwer erträglich. Nicht nur, dass ohne die Großmutter nun keine Streitschlichterin mehr im Hause war und der Großvater seiner seit der Scheidung recht mittellosen Tochter vorwarf, ihm auf der Tasche zu liegen. Zudem hatte der Großvater eine Affäre mit einer jungen Tänzerin. Noch schwieriger wurde die familiäre Lage, als der an Schizophrenie erkrankte jüngere Bruder von Junges Mutter in die Hausgemeinschaft einzog. Die Mutter litt unter dessen Krankheitssymptomen und als der Bruder Mitte der 1930er Jahre zwangssterilisiert wurde, hinterfragte die Familie diese Anordnung nicht, sondern sah sie als notwendiges Übel an. Als 1936 zwei mit Junge befreundete Schwestern aufgrund ihrer jüdischen Herkunft mit der Familie in die USA emigrierten, beneidete das Mädchen die Freundinnen um die abenteuerliche Reise – die Gefahr, der sie damit entgingen, war ihr nicht bewusst. Dass der Vater der Mädchen nach seinem Berufsverbot alle Hausangestellten hatte entlassen müssen und die Familie in eine deutlich kleiner Wohnung gezogen war, hatte Junge in den drei Jahren ihrer Freundschaft mit den Schwestern nicht die politische Situation in Deutschland verdeutlicht. Die demütigenden neuen Gesetze der Nationalsozialisten scheinen von dem jungen Mädchen unbemerkt geblieben zu sein. In den Nachkriegserinnerungen kann sich Junge jedenfalls nur an eine Begegnung mit einer den Judenstern tragenden Person erinnern. Vom groß angelegten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 und der Pogromnacht im November 1938 gibt sie an, nur in der Zeitung gelesen zu haben. Auch dass eine ihrer Freundinnen als „Achteljüdin“ galt und einen „Halbjuden“ bei sich versteckte, will Junge nach dem Krieg mitbekommen haben.9 Wie sie auch erst aus den veröffentlichten Tagebüchern Viktor Klemperers erfahren habe, dass nach Hitlers Machtantritt die „Schikanen“ gegen die Juden begonnen hatten; als dies passierte, habe sie es „nicht bemerkt und nicht beachtet“.10

An nationalsozialistischen Aktionen nahm Junge hingegen mit voller Aufmerksamkeit teil und war begeistertes Mitglied von NS-Vereinigungen. Im Jahr 1935, mit 15 Jahren, trat sie in den Bund Deutscher Mädel (BDM) ein und führte eine Gruppe von sechs Mädchen aus ihrer Klasse an.11 Dieser Erziehungsbund für Mädchen, der seit 1931 Teil der Hitler-Jugend (HJ) und 1930 aus unterschiedlichen unorganisierten Mädchengruppen der NSDAP entstanden war,12 bezweckte „Trägerinnen nationalsozialistischer Weltanschauung zu formen“, die die Ideologie an ihre Kinder und Enkelkinder weitergeben sollten.13 Neben sportlicher Betätigung wurden den Mädchen hier hauswirtschaftliche Kenntnisse vermittelt und eine „kulturelle Lebensgestaltung“ gefördert.14 Ebenso wurde eine Berufserziehung zum nationalsozialistischen Arbeitsethos – Arbeit als „Dienst an der Volksgemeinschaft“ – innerhalb des BDM geleistet.15 Es war das Ziel, alle deutschen Mädchen in die Organisation einzufügen.16 Je mehr kirchliche oder bündische Jugendgruppen durch staatlichen Zwang eingeschränkt wurden, desto leichter war dieser Anspruch zu erfüllen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Freundinnen in den BDM eintraten oder man neue Bekanntschaft mit Mädchen aus der Organisation machte, wuchs mit jedem geschlossenen anderweitigen Verein. Noch war es keine Pflicht dem Bund beizutreten. Die meisten Mädchen entschieden sich nicht aus wohl überlegten oder gar politischen Gründen in den BDM einzutreten, sondern schlichtweg, weil sie Teil einer Gruppe sein wollten, zu einer Gemeinschaft gehören und nicht außerhalb von ihr stehen wollten.17 Mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ vom Dezember 1936, womit die Hitler-Jugend zur einzig legalen deutschen Jugendorganisation wurde, stieg der Druck auf Eltern, Lehrer und Schülerinnen, um einen Eintritt in den BDM.18 Erst im März 1939 wurden zwei Durchführungsverordnungen zum Gesetz erlassen, die Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren verpflichteten, in den Jungmädelbund einzutreten, und festlegten, dass Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren im BDM Dienst zu tun hatten. Das BDM-Werk „Glaube und Schönheit“, eine Neugründung von 1938 innerhalb des BDM für 17 bis 21-jährige Mädchen, in das Junge im gleichen Jahr eintrat, blieb von dieser Jugenddienstpflicht ausgenommen.19 Hier sollten die jungen Frauen zu Weiblichkeit und Führerschaft erzogen werden20 und Junge schien das zu gefallen. Sie bewunderte ihre Gruppenführerin Herta, die ihr Kunst, Musik und Literatur näher brachte.21 Dem pubertierenden Mädchen waren die hier geknüpften Freundschaften die Hauptsache.22 Die politische Seite dieser Freizeitbünde war ihr bis nach dem Krieg nicht bewusst. Insofern deckt sich Junges Wahrnehmung der Organisation mit der Einschätzung der meisten Mädchen innerhalb der HJ: In der Nachkriegszeit wurde vorwiegend Positives erinnert und die Sinnhaftigkeit dieser Gemeinschaften nicht in Frage gestellt.23

Von den nationalsozialistischen Großveranstaltungen bekam Junge in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, einiges mit und war beeindruckt vom „Tag der Deutschen Kunst“ oder der „Nacht der Amazonen, ei“ner Veranstaltung bei der Junge selbst als Statistin mitwirkte. Als 15-Jährige hatte sie sogar einem Künstler Modell für eine Figur eines Brunnens gestanden, der später im Münchner Haus der Kunst ausgestellt wurde.24

Von solchen Erlebnissen seiner Tochter bekam Max Humps nur wenig mit. Er kehrte 1933 nach Deutschland zurück, weil er eine Stelle in der Verwaltung der NSDAP erhalten hatte. Für Junge bedeutete dies nicht, das Wiedererlangen einer Vaterfigur, obgleich sie sich das sehr gewünscht hätte. Im Nachgang bezeichnete Junge ihre Kindheit als ohne richtiges Gefühl von Geborgenheit, obwohl ihre Mutter sich sehr bemüht habe. Andere Kinder habe sie immer beneidet, wenn diese von ihren Vätern erzählten.25 Da ihre Mutter gegen eine Verbindung mit dem Vater war, sah Junge ihn nur ein einziges Mal ein oder zwei Jahre nach seiner Rückkehr.26

So wurde statt der Rückkehr des Vaters eine andere Begebenheit viel einschneidender für Junges Leben: Ihre Schwester Inge bekam von der Mutter zweier Freundinnen Tanzstunden bezahlt und nach viel schmachtendem Zuschauen lud die Lehrerin Junge ein, auch mitzumachen.27 Das Hobby wurde zu einer Leidenschaft. Gerne wäre Junge Berufstänzerin geworden. Dieser Wunsch ließ sich allerdings nicht in die Tat umsetzen. Nachdem Junge 1936 mit der mittleren Reife vom Lyzeum abgegangen war, weil die Mutter das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnte, besuchte sie zunächst eine Handelsschule. Doch war sie unglücklich mit ihren Berufsaussichten; sie wollte unbedingt eine Arbeit, die ihr Zeit zum Tanzen ließ und hoffte, genügend Geld zu verdienen, um sich nebenbei eine Tanzausbildung leisten zu können. Zwar fand sie eine Stelle als Kontoristin bei der Münchner Vertretung der Vereinigten Deutschen Metallwerke, kündigte diese aber nach kurzer Zeit: Sie war auf der Arbeit belästigt worden, was sie bei der Kündigung verschwieg. Anschließend arbeitete sie in einem Notariat und wechselte 1939 zum Rundschau Verlag, wo sie Assistentin des Chefredakteurs der Schneider-Zeitschrift Die Rundschau wurde. Nach Einzug des Redakteurs in die Wehrmacht übernahm Junge dessen Aufgaben, immer noch auf eine zukünftige Karriere als Tänzerin hoffend.28 Beflügelt wurden ihre Träume durch die Karriere der jüngeren Schwester. Diese war entdeckt worden und seit 1940 an der Deutschen Tanzbühne Berlin engagiert. Junge wollte ihr in die Hauptstadt folgen.29 Sie litt darunter, dass sie, obwohl die ältere Tochter, immer noch zu Hause wohnte, während ihre kleine Schwester in der weiten Welt unterwegs war.30 Ihr damaliger Chef behinderte diese Pläne, da während der Kriegszeit nur mit Einverständnis des Arbeitgebers der Beruf gewechselt werden durfte. Die Schwester half ihr weiter: Eine mit Albert Bormann, seit 1933 Leiter der Privatkanzlei Adolf Hitlers, verheiratete Kollegin, beschafft Junge eine Dienstverpflichtung in der Hauptstadt. Ab 1942 lebte Junge in Berlin.31

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