Die Ahnen des Silberspiegels

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Denn der packte ihn nun grob am Arm und drückte ihn mit dem Rücken so fest an die Hüttentür, dass Corum kaum noch atmen konnte. „Versuche nicht, mich anzuschwindeln. Sonst werde ich dich mitnehmen und in den dunkelsten Kerker der Burg sperren. Dort werden unsere Folterknechte die Wahrheit schon aus dir herausholen. Also noch einmal: Ist Anud hier?“

Nun geschah etwas, das Corum auch noch nicht oft erlebt hatte. Er wurde wütend. Mit einer ruppigen Bewegung riss er seinen Arm los und schob den Hauptmann ein Stück von sich weg. Dann baute er sich vor dem Bewaffneten auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte sein Gegenüber mit blitzenden Augen an. „Nein!“, log er diesmal erstaunlich glaubhaft. „Und droht mir nicht.“ Er holte tief Luft. „Wieso sucht ihr Anud denn? Wurde sie entführt? Habt Ihr nicht genug auf sie aufgepasst? König Ildagar wird Euch und Eueren Trupp an meiner Stelle in den Kerker sperren, wenn Anud etwas passiert ist.“

Der Soldat starrte den kleinen Mann, der sich vor ihm wie ein empörter Käfer aufplusterte, erstaunt an. „Nun einmal langsam, junger Freund. Ich glaube, dass die Folterknechte aus dir mehr herausbekommen könnten, als aus mir. Deshalb noch einmal: Du bist dir sicher, dass Anud nicht hier ist?“

Corums Gesichtsfarbe bekam einen grünlichen Stich. Er taumelte. Nein, er musste jetzt stark sein, für Anud! „Sie ist nicht hier“, hauchte er, ohne den Soldaten noch einmal anzusehen. Doch der ergriff Corums Kinn und zwang ihn, ihn anzuschauen. Erstaunt erkannte der Sänger, dass im Gesicht des Hauptmannes plötzlich etwas Weiches lag. Und war das, was da eben ganz hinten in seinem Augenwinkel aufgeblitzt war, so etwas wie Traurigkeit gewesen? Nein. Corum schüttelte den Gedanken sofort wieder aus seinem Kopf heraus. Er konnte seinen Sinnen im Moment nicht über den Weg trauen.

„Na gut, ich glaube dir. Wir werden weitersuchen müssen. Weißt du, wo sie sein könnte? Denk gut nach, es ist wichtig.“

Noch einmal schüttelte Corum den Kopf. Und der Hauptmann gab sich damit zufrieden. Er machte kehrt und ging wieder auf sein Pferd zu.

Der Sänger atmete auf. Doch er hatte diesen Atemzug noch nicht ganz zu Ende gebracht, als es plötzlich in seiner Hütte laut schepperte. Ihm blieb fast das Herz stehen.

Auch die Soldaten hatten den Lärm gehört. Sofort kam der Anführer wieder zurück. Diesmal verzichtete er auf eine weitere Frage. Grob schob er den kleinen Mann zur Seite und drückte die Tür der Hütte auf.

Corum blieb nichts anderes übrig, als fassungslos dabei zuzusehen, wie der Bewaffnete eintrat und sich umsah. Mit weichen Knien und schweißnassen Händen stolperte er dem Soldaten hinterher. Die Stille war wieder zurückgekehrt, und von Anud war nichts zu sehen. Aber Corum konnte auch nicht feststellen, was den Krach verursacht hatte.

Zitternd stützte er sich am Türrahmen ab und hoffte mit seiner ganzen Seele, dass der Soldat nicht auf die Idee kam, unter das Bett zu sehen. Doch der tat seine Pflicht äußerst gründlich. Er blickte in jede Ecke, räumte Instrumente zur Seite und öffnete sogar den Schrank.

Plötzlich erblickte Corum Anuds Umhang am Haken neben der Tür. Hoffentlich fiel dem Hauptmann dieser Mantel nicht auf und die Tatsache, dass er für Corum viel zu lang war.

Der Soldat war noch immer mit dem Schrank beschäftigt. Als er ihn sich genau angesehen hatte, schloss er dessen Türen wieder. Danach wandte er sich dem zerwühlten Bett zu. Er ergriff die Decke, hob sie hoch und warf sie wieder zurück.

Und dann bückte er sich und schaute unter das Bettgestell. Ein heiserer Würgelaut entkam Corums Kehle, obwohl er mit aller Kraft versucht hatte, den Entsetzensschrei festzuhalten. Sofort richtete sich der Hauptmann wieder auf und sah den Sänger fragend an.

„Ich ...“, stammelte der und hustete ein paar Mal laut. „Ich hab eine Fliege verschluckt.“

„Soso.“ Der Soldat wandte sich ab. Da fiel sein Blick auf den eisernen Herd an der Wand. Er ging darauf zu. Dann begann er, laut zu lachen. Er streckte die Hand aus und ergriff einen Topf, der samt einem dicken Haken auf der Herdplatte lag. Dann drehte er sich um und hielt Corum seinen Fund hin.

„Den wirst du wohl wieder befestigen müssen, und ein wenig besser als zuvor.“

Er überreichte beides dem Musiker und schritt wieder ins Freie. Dann verabschiedete er sich mit ein paar knappen Worten, stieg auf sein Pferd und ritt zusammen mit seinen Begleitern davon.

Corum konnte sich nicht rühren. Wie angewurzelt stand er in der Türöffnung, den Topf und den Haken in den Händen. Regungslos starrte er den Reitern hinterher. Das tat er auch dann noch, als sie schon längst nicht mehr zu sehen waren. Plötzlich legte sich ihm von hinten eine Hand auf die Schulter. Er fuhr zusammen.

„Danke.“ Anud war aus ihrem Versteck herausgekommen und stand nun hinter ihm. „Danke, dass du mich nicht verraten hast.“ Doch er hörte ihre Worte nur noch wie aus großer Entfernung. Einen Moment später brach er besinnungslos zusammen, und der Topf schepperte erneut zu Boden.

Als Corum wieder wach wurde, lag er in seinem Bett. Anud saß an seiner Seite, und dort blieb sie, bis er wieder in der Lage war, sich aufzusetzen. „Das war knapp! Fast hätte er dich gesehen.“

Die junge Frau zog die Augenbrauen hoch. „Er hat mich gesehen.“

Verwirrt schüttelte Corum den Kopf. „Aber dann hätte er dich doch mitgenommen. Das verstehe ich nicht.“

„Ich verstehe es auch nicht. Vielleicht täusche ich mich. Es war ja nur ein kurzer Moment. Trotzdem habe ich so ein seltsames Gefühl. Er hat viel zu schnell aufgegeben.“ Sie seufzte. „Pamir ist mein Leibwächter. Schon als ich noch ein Kind war, war er immer für mich da. Er hielt mich fest, als ich mich einmal zu tief über den Brunnenrand gebeugt hatte. Er zog mich unter den Hufen einer Stute heraus, der es nicht gefiel, dass ich ihr Fohlen ganz aus der Nähe ansehen wollte. Aber er war nicht nur mein Aufpasser. Tag für Tag gab er sich mit mir ab. Mit ihm teilte ich alle Freuden und Sorgen eines heranwachsenden Mädchens. Er weiß auch, dass ich dich immer wieder besucht habe. Ich vertraute ihm bisher vollkommen und er kennt mich wie kein anderer. Pamir ist ein Freund, ja, fast eine Art Vater, der mir viel näher steht, als der König.“ Ihr Gesicht wurde bitter. „Und jetzt gehorcht er blindlings dem Befehl meines Vaters und versucht, mich wieder einzufangen, damit ich diesem Untier Shuruan ausgeliefert werden kann!“

Corum wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er konnte mit Anuds Soldatenfreund nichts anfangen. Und die Vorstellung, dass sie all die Jahre einen Vertrauten gehabt hatte, der ihr näher stand als er selbst, machte ihm ein hässliches Gefühl im Bauch. Er stand auf. „Lass uns etwas essen, und danach sollten wir zügig aufbrechen. Ich möchte nicht riskieren, dass dein Vater noch andere Soldaten herschickt, die genauer suchen werden.“

Sie beeilten sich mit dem Frühstück. Danach packte Corum noch ein großes Bündel mit Vorräten und einer warmen Decke zusammen, bevor sie sich auf den Weg zu seinem Versteck machten.

Schweigend überquerten die sie die Sternblumenwiese. Als sie den Waldrand erreicht hatten, endete ihr Pfad mitten im dichten Unterholz. Sie blieben stehen. Corum breitete die Arme aus und begann zu sprechen. „Verehrter Wald, starke Wächterbäume, Corum und Anud bitten euch, eintreten zu dürfen. Wir kommen in friedlicher Absicht und voller Verehrung für euere Größe und Schönheit.“

Ein leises Raunen glitt durch die Wipfel. Dann folgte ein Knacken, und schließlich öffnete sich in den Büschen ein niedriges Tor. „Es sei euch gewährt.“

Die beiden Wanderer bedankten sich und tauchten in das schummrige Dämmerlicht zwischen den Bäumen ein. Corum fühlte sich an diesem Ort, der bestimmt nicht umsonst Bärenwald genannt wurde, nie besonders wohl. Er war ein Kind seiner Wiese, brauchte immer den offenen Himmel über sich und einen guten Überblick. Das gab es hier nicht. Außerdem lebten im Zwielicht zwischen den Stämmen wilde Tiere und Dunkelgnome, denen er nicht begegnen wollte. Trotzdem war nun dieser Wald das beste Versteck für seine Freundin, das er kannte. Die Wächterbäume hüteten ihr Reich gut. Er hoffte, dass sie die Soldaten mit ihren alles zertrampelnden Pferden und Waffen nicht hereinlassen würden. Und wenn doch, würden sie erst einmal die Höhle finden müssen, in die er seine Freundin brachte. Und diese war gut versteckt.

Es dauerte nicht lange, bis die beiden einen schmalen Wasserlauf erreichten. Diesem folgten sie eine ganze Weile lang auf einem kaum sichtbaren Trampelpfad, bis vor ihnen ein kleiner See auftauchte. „Wir sind da“, sagte Corum. Er zog seine Harfe hervor und spielte zur Begrüßung ein paar Takte, und sofort stimmte das Wasser gurgelnd und spritzend in die Musik ein.

Als er sein Instrument wieder weggesteckt hatte, balancierte er über ein paar große Steine am Uferrand, bis er an eine steil aufragende Felswand gelangte. Anud folgte ihm. Sie musste gut aufpassen, um nicht auf den glitschigen Felsen auszurutschen. Doch dann sah sie, was der Musiker ihr zeigen wollte: Aus einigen schmalen Ritzen an der Felswand sickerte Wasser heraus. Hier war die Quelle, aus der sich der kleine See speiste.

Corum streckte seine Hand aus und hielt sie in den Wasserstrahl, bis sie voll war. Dann hob er sie an die Lippen und genoss jeden Schluck. Er füllte seine Hand noch einmal und ließ nun Anud daraus trinken. Das Wasser tat gut nach der anstrengenden Wanderung. Und Corum genoss es, nun so unbeschwert mit seiner Freundin zusammen lachen zu können.

Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, deutete Corum auf das gegenüberliegende Ende des Abhangs. Das Gestein war dort gröber zerklüftet, als auf dieser Seite. Doch man musste schon genau hinsehen, um den schmalen Sims erkennen zu können, in dessen Hintergrund sich eine große dunkle Höhlung gegen den hellen Fels abzeichnete. Corum fasste Anud an der Hand. „Wir müssen den See auf diesen Steinen überqueren. Doch Vorsicht, ein paar davon wackeln.“

 

Er ging seiner Freundin voraus und führte sie sicher, bis sie am anderen Ufer auf den Vorsprung klettern konnten.

Die Höhle war größer, als sie aus der Entfernung ausgesehen hatte. Denn sie ging ein gutes Stück in die Tiefe. Dabei machte sie einen Bogen, hinter dem man vor neugierigen Blicken geschützt war. „Corum, das ist ein wunderbares Versteck.“ Anuds Augen leuchteten. „Es ist genau das, was ich brauche!“

Gemeinsam richteten sie die Höhle so wohnlich ein, wie es gerade ging. Dann machten sie es sich auf den Felsvorsprung am Eingang bequem und ließen die Beine in den See hängen. Sofort umspielte das Wasser ihre Füße, neckte sie und spritzte an ihren Beinen hoch.

„He, nicht so stürmisch!“, rief Corum, und der See zügelte sein Temperament ein wenig. Dann wurde der Musiker ganz ernst. „Du musst ab jetzt sehr wachsam sein. Dies ist Anud, eine gute Freundin. Sie ist in Gefahr. Die Soldaten des Königs sind hinter ihr her. Sie wird eine Weile hier wohnen, und du musst sie nach besten Kräften beschützen, hörst du?“ Ein bestätigendes Glucksen war die Antwort.

Dann machte sich Corum auf, um im Wald Feuerholz zu sammeln. Die Nächte wurden schon empfindlich kalt, und Anud sollte nicht frieren müssen. Als alles für einen längeren Aufenthalt vorbereitet war, verabschiedete er sich. Er versprach, gleich am nächsten Tag wiederzukommen und nach ihr zu sehen. Und als Anud ihm zum Abschied ihr strahlendstes Lächeln schenkte, hüpfte sein Herz vor Freude.

Kapitel 3

Nachdem Corum gegangen war, wurde Anud unruhig. Sie tigerte durch die Höhle, räumte alles noch einmal um, doch sobald sie damit fertig war, war auch dieses ungute Kribbeln in ihrem Bauch wieder da. Was war nur mit ihr los? Sie war hier in Sicherheit, die Stille zwischen den Bäumen draußen war perfekt. Es gab keinen friedlicheren Ort auf dieser Welt, und sie stand hier mit schweißnassen Händen und zitternden Beinen!

Sie setzte sich auf den Felsvorsprung, starrte in den Wald und versuchte, etwas von seiner Ruhe in sich aufzunehmen. Aber das machte sie nur noch nervöser. Es war viel zu still hier! Auf der Burg herrschte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ein quirliges Treiben. Doch hier war sie allein. Das war es, was sie jetzt fast wahnsinnig machte. Sie brauchte Menschen um sich herum. Sie musste spüren können, dass noch irgendwer da war!

Corum hatte mit dem See gesprochen, also konnte sie das auch tun. Anud rappelte sich auf und rief dem Gewässer etwas zu. Doch so oft sie es versuchte, bekam sie keine Antwort. Dann sprach sie die Bäume an, die in Rufweite lebten. Aber diese waren entweder genauso verstockt wie der See oder leblos wie der Fels um sie herum.

Sie hielt die Stille nicht mehr aus. Ja, es war ein Risiko, die Höhle zu verlassen. Aber wenn sie hier blieb, würde sie über kurz oder lang den Verstand verlieren, deshalb musste sie es trotzdem tun. Sie brauchte irgendein lebendiges Wesen, mit dem sie reden konnte. Und es gab hier im Wald jemanden, der erfahren musste, was passiert war. Deshalb stieg sie nun auf die glitschigen Trittsteine hinunter und fühlte sich dabei augenblicklich besser.

Anud kannte den Wald eigentlich ganz gut. Aber in dieser Gegend war sie noch nie gewesen. Dennoch fühlte sie sich unter all den Bäumen nicht fremd. Im Gegenteil: Als Corum ihr eine Höhle im Wald vorgeschlagen hatte, hatte ihr diese Idee nicht nur deshalb gefallen, weil sie hoffte, dort vor den Soldaten sicher zu sein. Sie hatte eine ganz besondere Beziehung zu diesem Wald. Und mit einem seiner Bewohner verbanden sie sehr tiefe Gefühle.

Nicht alle Bäume in Daras waren beseelt. Aber jetzt, da sie unter die majestätischen Kronen getreten war, konnte sie spüren, dass diese hier auf eine ähnliche Weise lebendig waren wie sie selbst. Noch einmal rief Anud den Wald an, und diesmal tat sie es ruhig und mit kräftiger Stimme. „Ihr Bäume, könnt ihr mir den Weg zu Orumban zeigen?“

Sie lauschte in die dämmrige Stille. Zuerst regte sich nichts. Doch plötzlich begann eine Eiche ganz in ihrer Nähe, sich ihr zuzuwenden. Der Baum ächzte und streckte sich. Dann bewegte sich auf halber Höhe des Stammes die Borke. Zwei Augen und ein Mund formten sich zwischen den harzigen Furchen.

„Du willst zu meinem Bruder Orumban?“, tönte eine raue, tiefe Stimme durch die Stille. Die Eiche wandte mit lautem Knacken und Rauschen das Gesicht unter ihrer herbstbelaubten Krone Anud zu. Dabei flatterten einige von den wenigen rot verfärbten Blättern zu Boden, die sich bis dahin noch zwischen den Zweigen hatten festhalten können.

Anud trat einen Schritt vor. „Ja, er ist ein guter Freund von mir. Ich möchte mit ihm sprechen.“

„Hm.“ Der Baum zog die Stirn in Falten. „Orumban hat aber eigenartige Freunde.“

Verärgert entgegnete Anud: „Na, das ist ja wohl seine Sache. Kannst du mir sagen, wie ich zu ihm finde?“

Noch einmal schien der Eichenmann zu überlegen. Anud stellte insgeheim fest, wie froh sie war, dass ihr Orumban im Denken etwas schneller war, als sein Bruder hier. Doch dann streckte der Baum knarzend seine Äste in eine Richtung. Und nicht nur er, sondern alle anderen Eichen ringsum taten es ebenfalls. Sie hatten sich auf eine geheimnisvolle lautlose Art miteinander verständigt. Eine Gasse entstand.

„Geh zu Orumban, wir werden dich leiten.“

Anud bedankte sich und machte sich in der angegebenen Richtung auf den Weg.

Mit jedem Schritt, den sie auf dem weichen, wurzeligen Waldboden lief, fühlte Anud sich wohler. Ihre Beine trugen sie wieder mit der gewohnten Sicherheit, und ihre Gedanken wurden klarer. Bei jedem Atemzug gab ihr die kühle, harzige Waldluft neue Kraft. Und von den dichten Stämmen um sie herum fühlte sie sich geschützt.

Bis gestern hatte es in ihrem Leben kaum ernst zu nehmende Gefahren gegeben. Sicher, die eine große Bedrohung war schon immer über ihr geschwebt. Seit ihrem ersten Atemzug war sie dem Feuerfürsten versprochen. Das hatte sie immer gewusst. Und vor dem Tag, an dem sie Shuruan würde heiraten müssen, hatte sie immer Angst gehabt. Doch dieser Tag war stets weit weg gewesen. So weit weg, dass sie sich sogar in Orumban verliebt hatte. Und nun war diese schwelende, unwirkliche Bedrohung von einem Moment zum nächsten zu einer ganz konkreten Gefahr geworden.

Mit einem Mal kam Anud die Gegend bekannt vor. Hier die Buche, die von einem Blitz gespalten worden war. Dort der Felsen, der die Form eines Adlers hatte. Schon konnte sie in der Ferne die kleine Lichtung erkennen, auf der ihr Liebster lebte. Fast wäre sie dem Impuls gefolgt, laut rufend auf ihn zuzurennen. Doch dann hielt sie inne. Sie wusste nicht, ob ihr Vater oder die Soldaten die Stelle im Wald kannten, wo Orumban lebte. Aber möglich war es. Vielleicht lief sie ja geradewegs in eine Falle. Deshalb zwang sie sich zur Vorsicht.

So leise, wie es ihr nur möglich war, ging sie ein paar Schritte näher, stets darauf bedacht, im Schatten der dicken Stämme zu bleiben. Dann blieb sie stehen und lauschte. Aber alles, was sie hören konnte, waren die leisen Geräusche des Waldes. Sie suchte mit den Augen die Umgebung ab. Nichts. Keine Spur von einem Soldaten oder dessen Pferd. Nein, hier schien wirklich alles in Ordnung zu sein. Also lief sie die letzten Meter zu ihrem Geliebten, ohne weiter auf ihre Deckung zu achten.

„Orumban!“

Eine stattliche Eiche reagierte auf sie. Mit leisem Knarzen öffnete sich ein Paar bernsteinfarbener Augen etwas unterhalb der Stelle, an der sich die obersten Äste teilten.

„Anud!“ Freudig überrascht wandte sich der Baum ihr zu. Es knisterte kaum hörbar, als seine Rinde etwas weicher wurde. Anschließend löste sich der Schemen eines jungen Mannes aus dem Stamm heraus. Mit ein paar steifen Schritten ging er auf die Frau zu. Dann öffnete er behäbig seine borkigen Arme und zog seine Besucherin an sich.

Anud genoss seinen leidenschaftlichen, nach Harz schmeckenden Begrüßungskuss. Es schien ihr, als hätten sie sich Jahre nicht mehr gesehen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr er ihr gefehlt hatte. Hierher gehörte sie. In Orumbans Armen war sie zu Hause. Niemand durfte sie von ihrem Liebsten trennen, nicht ihr Vater, nicht Shuruan, und schon gar keine uralte Abmachung, bei der sie nicht nach ihrer Meinung gefragt worden war!

Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, konnte Anud den besorgten Ausdruck in Orumbans Gesicht sehen. „Was ist los?“, fragte er, und Anud hatte das Gefühl, er könnte die Antwort bereits selbst in ihrem Herzen lesen. Orumban war wie alle seine Baumbrüder ebenfalls sehr empfindsam, was die Gefühlslagen anderer Wesen betraf. Obwohl sie ihn nun schon so lange kannte, war sie immer wieder erstaunt, auf welch tiefe Weise er ihre Stimmungen teilen konnte.

„He“, mit einem zweigartigen Finger strich er zärtlich durch ihr Haar, „sag mir, was passiert ist.“

Anud legte ihren Kopf an seinen. Plötzlich spürte sie, wie sich Tränen in ihrer Kehle hocharbeiteten. In Orumbans Armen konnte sich die ganze Anspannung der vergangenen Stunden lösen. Doch da war noch etwas anderes, das ihr Tränen in die Augen trieb: Wut. Und diesem Gefühl wollte sie lieber nachgeben als diesem schwächlichen Gewimmer, zu dem die Verzweiflung sie gerade verführen wollte.

Als sie den Mund öffnete, um Orumban alles zu erzählen, spürte sie, wie die erste Perle über ihre Wange rollte und in das weiche Moos tropfte. Einen Moment lang beschimpfte sie sich im Stillen für diese Schwäche. Doch dann sah sie in den Augen ihres Liebsten ihre eigenen Gefühle widergespiegelt. Nein, es hätte gar keinen Sinn, vor Orumban etwas zu verbergen. Und es war auch überflüssig.

„Mein Vater hat herausgefunden, dass wir ein Paar sind.“ Ihre Kehle war eng. „Ich weiß nicht, wie er es erfahren hat, aber er weiß es. Gestern Nachmittag ist er zu mir gekommen und hat mich zur Rede gestellt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wir haben es doch immer geheim gehalten. Aber er weiß es! Und nicht nur das, er hat mich sehr entschieden an diese alte Abmachung erinnert, nach der ich niemand anderem gehören durfte, als diesem verfluchten Shuruan.“ Sie rang nach Luft.

„Du hättest ihn hören sollen: ‚Du hast deine Pflichten unserem Land gegenüber genauso zu erfüllen, wie dein Bruder Solam und ich selbst. Wir haben eine Verantwortung, und die fragt nicht danach, was wir wollen oder nicht.‘ Ich sagte ihm, dass mich diese Pflichten nicht interessieren und dass ich niemandem gehöre, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Und dass ich mich entschieden habe, mein Leben mit dir zu verbringen.“ Sie stockte.

„Er schlug mir ins Gesicht. Danach befahl er den Wachen, mich in meinem Zimmer einzusperren. Er wollte dafür sorgen, dass ich gleich heute zu diesem Scheusal aufbrechen sollte, auch wenn mein 20. Geburtstag noch eine gute Weile entfernt ist. Er sagte, er werde alles tun, um zu verhindern, dass ich durch meinen kurzsichtigen Egoismus das Wohl der Menschen in ganz Daras aufs Spiel setze.“ Verzweifelt griff sie nach Orumbans rauen Händen.

„Ist denn das, was ich will völlig bedeutungslos? Ich bin nicht nur eine Opfergabe, sondern ein fühlendes Wesen. Und ich möchte lieben und mein Leben mit dem Mann teilen, der mir so wichtig ist wie nichts anderes auf der Welt. Ist das denn so verwerflich?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Es war nicht leicht, aber ich konnte die Wachen ablenken und durch das Fenster entkommen. Ein guter Freund hat mich in einer Höhle hier im Wald versteckt, denn die Soldaten meines Vaters suchen nun die ganze Gegend nach mir ab.“

Der Eichenmann schwieg und blieb auf eine typische Baum-Weise in sich versunken. Er schwieg so lange, dass Anud unbehaglich zu frieren begann. Ein Funke Enttäuschung schlich sich in ihr Herz. Wo blieb sein Trost, sein Verständnis?

„Du bist davongelaufen“, meinte er schließlich.

Anud redete sich ein, ein wenig Mitgefühl in diesen Worten gehört zu haben, während sie bedächtig nickte. „Ja, weil ich leben will. Weil ich mit dir leben will. Und wenn das hier nicht mehr möglich ist, müssen wir eben fliehen. Wir könnten in die Berge gehen oder noch weiter, irgendwohin, wo niemand uns findet. Dort werden wir Mann und Frau, und keiner kann uns je wieder trennen!“

Statt einer Zustimmung verfiel Orumban wieder in sein Baum-Schweigen. Anud begann, diesen regungslosen Zustand zu hassen. Und je länger er dauerte, desto mehr fror sie. Unwillkürlich entzog sie sich den Armen des Eichenmannes, während er nun doch seine Sprache wiederfand.

 

„Ich habe nie geglaubt, dass es wirklich einmal dazu kommt. Waren wir zu blauäugig?“

„Was soll diese Frage? Das alles ist doch nicht unsere Schuld! Kommst du nun mit mir oder nicht?“

Orumban schritt schweigend den Bereich ab, den seine Baumkrone überspannte. Weiter konnte er sich nicht von seinem Stamm entfernen. Als er wieder vor Anud stand, sagte er: „Das alles kommt ein wenig plötzlich.“

„Ja, für mich auch.“ Warum zögerte er so lange?

„Was wird aus Daras, wenn wir zusammen fliehen?“

Jetzt hatte die junge Frau genug. Voller Wut stampfte sie so fest auf eine von Orumbans Wurzeln, dass er schmerzvoll zusammenzuckte. „Du redest wie mein Vater! Daras hier, Daras dort. Aber jetzt geht es um uns, unsere gemeinsame Zukunft und um mein Überleben!“

„Ja, und die Vorstellung, man könnte dich diesem Feuerfürsten übergeben, macht mir Angst. Wären die Dinge anders, würde ich dich sofort heiraten und mit dir zusammen überall hingehen – soweit ein Baum das kann. Aber es geht hier auch um etwas Größeres. Wir werden die Folgen nicht allein tragen müssen.“

Anud richtete sich vor dem Mann auf und blickte ihm fest in die Augen. „Shuruan will mich töten. Genau wie alle seine Bräute vor mir. Und das werde ich nicht zulassen. Mein Vater wird mit ihm verhandeln müssen. Er ist ein guter Diplomat, er wird eine Lösung finden. Aber ich werde nicht als Lösungsmöglichkeit zur Verfügung stehen. Also noch einmal: Wirst du mit mir kommen?“

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und versuchte, sie an sich zu ziehen. Doch Anud wehrte ihn ab. Er seufzte.

„Bitte gib mir ein wenig Zeit. Ich muss darüber nachdenken.“

Zitternd und mit klammen Fingern zog sie ihren dicken Wollumhang so eng um sich zusammen, dass es ihr wehtat. Sie fror entsetzlich. „Orumban, mein Entschluss steht fest. Es geht jetzt nur noch darum, ob du mich begleitest und zu mir stehst, oder ob du mich in dieser schrecklichen Situation im Stich lässt.“ Perle um Perle fiel zu Boden, und Anud merkte es kaum. Wie betäubt starrte sie den Baum an, den sie so sehr liebte, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte. Nun stand auf einmal alles auf dem Spiel. Nicht nur ihr Leben, sondern auch das, was sie mit Orumban verband. Und diesen Zustand konnte sie kaum ertragen.

Der Eichenmann schien, ihre Verzweiflung zu spüren. Sein Blick wurde sanft, während er noch einmal versuchte, sie in den Arm zu nehmen. „Anud“, raunte er leise. „Ich will dir nicht wehtun, es tut mir leid. Das alles ist gerade auch für mich zu viel. Gib mir bitte etwas Zeit, damit ich darüber nachdenken kann. Es ist so eine wichtige Entscheidung.“

„Du musst dich lediglich für oder gegen eine Zukunft mit mir entscheiden. Ich hatte nicht geglaubt, dass dir das so schwerfällt.“

„Anud, so einfach ist das nicht.“

„Doch, es ist ganz einfach! Es geht nur um ein Ja oder ein Nein zu uns.“ Anud hatte kein Gefühl mehr in ihren Beinen. Der Boden unter ihr schien sich aufzulösen. „Liebst du mich, Orumban? Willst du dein Leben mit mir verbringen oder nicht? Es gibt nur diese eine Frage, die du mir beantworten musst. Jetzt.“

Plötzlich gellten laute Rufe über die Lichtung. Reiter preschten auf Anud zu, ein halbes Dutzend Soldaten. Sie kamen aus dem Nichts. Die Männer sprangen von ihren Pferden. Anud fluchte. Sie hätte besser aufpassen müssen! Wie hatte das passieren können! Fassungslos starrte sie die Bewaffneten an, die auf sie zuliefen. Sie konnte nicht schreien, sie konnte nicht wegrennen.

Einer der Soldaten ergriff ihren Arm. Ein zweiter packte sie an der anderen Seite. Nichts war von dem Respekt geblieben, mit dem diese Männer sie bisher behandelt hatten. Und genauso wenig war von Anuds Fluchtplänen übrig. Ihr Traum von einem Leben in Sicherheit an Orumbans Seite lag in Scherben. Nun gab es für sie nur noch Shuruan. Und den Tod. Und seltsamerweise machte ihr das jetzt auch nichts mehr aus. Es war vorbei. Alles.

Benommen blickte sie noch einmal zu ihrem Geliebten zurück. Sie sah, dass einer der Soldaten sich an Orumban zu schaffen machte, der wieder mit dem Baum verschmolzen war, und mit seinen kahlen Ästen um sich schlug. Sie roch Qualm. Entsetzt sah sie, wie sich kleine Flammen in Orumbans Rinde fraßen und begannen, am Stamm hinaufzuklettern. Von Herzschlag zu Herzschlag wurden die Feuerzungen größer und hungriger. Verzweifelt schrie Anud auf. Sie hatte plötzlich das Gefühl, selbst zu verbrennen. Und dabei fror sie noch immer.

„Lasst ihn in Ruhe!“, rief sie, befahl sie, flehte sie. „Er hat niemandem etwas getan. Ihr habt doch mich, ihr habt doch jetzt mich ...“ Tränenperlen verstopften ihre Kehle, sodass sie nicht mehr weitersprechen konnte. Die Soldaten zerrten sie auf ein Pferd. Dann brachten sie sie fort. Anud konnte das Gesicht nicht von der verqualmten Lichtung abwenden, auf der sich Orumban unter Schmerzensschreien im Todeskampf wand. Das Knistern der Flammen dröhnte in Anuds Ohren, und die erbarmungslose Hitze, die ihren Liebsten verschlang, brannte sich in ihr Herz. Ein letzter erstickter Schrei zerriss den Frieden des Waldes. Dann war da nur noch das Knacken des Feuers, das mit jedem Schritt ihres Pferdes leiser wurde, bis es erstarb.