Kind der Drachen – Vernunft oder Liebe?

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Kind der Drachen – Vernunft oder Liebe?
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Sabine Hentschel


Kind der Drachen
Vernunft oder Liebe?

epubli

Die Autorin:

Sabine Hentschel wurde 1987 in der Universitätsstadt Jena geboren. Sie lebte von 2002 bis 2005 in dem kleinen Örtchen Werdau (Sachsen), wo sie wie ihre Romanfigur Cara, das Abitur an dem „Alexander von Humboldt“ Gymnasium absolvierte. Nach ihrem Abschluss ging Sabine Hentschel zurück nach Jena und studierte dort Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte. Bereits während ihrer Schulzeit entstanden im Rahmen des Deutsch-Leistungskurses einige bisher unveröffentlichte Gedichte Kurzgeschichten und Theaterstücke. Die Idee zu Ihrer Drachenkind-Saga kam ihr jedoch erst im Verlauf ihres Studiums. Kind der Drachen – Vernunft oder Liebe? ist das vierte Buch ihrer All Age Fantasy Saga. Derzeit arbeitet sie eifrig an dem letzten Teil ihrer Drachenkind-Pentalogie um Cara, Marces und den anderen Drachenkindern.

Impressum

Originalausgabe 2016

Copyright © des Gesamtwerkes: Sabine Hentschel

Illustrationen: Copyright © Sabine Hentschel

Umschlaggestaltung: Patrizia Kramer, www.p-kramer.de

Lektorat: Christin Müller und Juliane Niebling

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-7418-0365-9

Weitere Informationen unter: www.sabinehentschel.de

Die Kraft der Liebe lässt

Ozeane zu Pfützen schrumpfen,

Festungsmauern zu kleinen Steinen zerfallen

und eiserne Gitterstäbe sich in Luft auflösen.

Der Schock sitzt tief

Garushins düstere Worte klangen in Daamiens Ohren nach: Dann kommen wir überein, dass Cara Buradi für schuldig befunden wird. Um weitere Vorkommnisse zu vermeiden übergeben wir sie in die Obhut des Hüters Marces. Alle Entscheidungen und Belange, die sie und ihre Person betreffen, werden von ihm getroffen. Sie ist als sein Eigentum zu betrachten - Daamien schüttelte verärgert den Kopf.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, murmelte er wütend vor sich hin, während Nerifteri mit blassem Gesicht noch immer neben ihm auf der Bank saß. Sie vermochte kein Wort mehr zu sagen. Wie konnte es nur soweit kommen? Daamien gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn um sie zu beruhigen.

»Was wird jetzt mit Niel?«, wandte sich Varush an ihn.

»Ich habe keine Ahnung. Wirklich. Das habe ich nicht erwartet«, antwortete Daamien leise.

»Du musst zu ihm.«, flüsterte Nerifteri plötzlich. »Du musst ihm Mut machen.«

»Kann ich dich wirklich mit Varush allein lassen?«, hakte Daamien besorgt nach. Nerifteri nickte und versuchte ein wenig zu lächeln. Sie wusste, dass Niel Daamien jetzt mehr brauchte als irgendjemand sonst.

»Gut, ich suche ihn«, erwiderte Daamien und verließ daraufhin den Saal. Während er den anderen Unsterblichen durch die engen, dunklen Gänge zu den Treppen folgte, blickte er sich suchend nach Garushin um, in der Hoffnung, dass dieser wusste, wo man Niel hingebracht hatte. Ganz am Ende des Ganges konnte er ihn schließlich ausmachen.

»Garushin!« Aber Garushin reagierte nicht.

»Garushin!«, rief er erneut und blieb hartnäckig an ihm dran. Erst in dem Moment, als beide die Treppe erreichten, wandte sich Garushin zu ihm um. »Daamien, ich habe nicht viel Zeit. Ich habe noch andere Verpflichtungen. Was gibt es denn?«

»Wenn du erlaubst, würde ich gern noch einmal mit Niel reden, bevor wir abreisen«, antwortete Daamien ruhig und besonnen.

Garushin verzog kurz die Mundwinkel, ließ ihn aber gewähren. »Du hast meine Erlaubnis. Frag Tamilia, wo sie ihn untergebracht hat.«

Dann wandte er sich von Daamien ab und ließ ihn allein zurück. Daamien verbeugte sich, bevor er, über die Unsterblichen blickend, nach Tamilia Ausschau hielt. Der Großteil der Unsterblichen schien froh darüber zu sein, die Insel endlich wieder verlassen zu können. Sie drängten in Strömen nach draußen, als gäbe es kein Morgen. Man hatte das Gefühl, dass jederzeit eine Panik ausbrechen könnte und sie sich gegenseitig zertrampelten. Es dauerte eine Weile, bis Daamien Tamilia auf der anderen Seite des Treppenaufgangs ausmachen konnte.

»Wo ist Niel?«, rief er ihr zu. Sie reagierte zunächst nicht. Ihr mürrischer Blick zeigte ihm, dass sie sich insgeheim fragte, wieso ausgerechnet sie diese Aufgabe übernehmen musste. Sie war schließlich die Prinzessin und keine Bedienstete ihres Vaters.

»Niel ist im Kerker: dritte Ebene, rechter Turmabstieg.«,

rief sie ihm schließlich zu. »Aber du solltest dich etwas gedulden. Marces ist gerade bei ihm.«

Daamien nickte ihr dankend zu und lief hinunter zum Kerker. Weit kam er allerdings nicht. Darvu hielt ihn auf der ersten Eben auf und versperrte ihm den Weg. »Der Hüter ist bei dem Gefangenen. Er hat angeordnet, dass niemand sie stören darf. Nicht einmal Garushin.« Daamien runzelte verärgert die Stirn. Was sollte das?

Was hatte Marces bloß vor?

Er lief daraufhin schnellen Schrittes wieder nach oben zum Saal und suchte nach Varush und Nerifteri. In dem Gedrängel gestaltete sich das Ganze gar nicht so einfach. Er blickte sich mehrmals um. Die Vampire rempelten links und rechts an ihm vorbei. Man konnte ihre Abneigung ihm gegenüber im Raum spüren. Daamien versuchte sie so gut er konnte zu ignorieren. Er wusste, dass er sich von ihnen nicht aus der Reserve locken lassen durfte.

»Vater! Hier sind wir!«, rief ihm Varush zu, der seinen Vater von oben bereits entdeckt hatte. Er stand auf einem der Treppenabsätze und unterhielt sich mit seiner Mutter, Geremon und Tassi. Tassi schien sichtlich besorgt. Bei jedem Satz schüttelte sie ungläubig den Kopf.

Daamien trat zu ihnen und ergriff energisch den Arm seines Sohnes. Dann flüsterte er ihm ins Ohr: »Bring deine Mutter sofort nach Hause. Dann gehst du mit Andal zum Haus der Vampire und holst die anderen Drachen. Wenn irgendjemand versucht dich aufzuhalten, halt ihnen die Erklärung des Konzils vor. Sie sind alle mit dem Ende des Konzils freigesprochen. Eine Kopie dieser Erklärung liegt auf meinem Schreibtisch. Hol sie dir vorher. Ich werde ihnen erklären was passiert ist, wenn ich zurück bin.«

»Was ist los?«, hakte Nerifteri verunsichert nach.

Daamien gab ihr einen kurzen Kuss. »Ich bin mir nicht sicher. Sie lassen mich nicht zu Niel. Marces soll gerade bei ihm sein.«

Dann wandte er sich wieder an Varush: »Geht jetzt! Ihr müsst euch beeilen.«

Varush nahm sofort die Hand seiner Mutter und lief ohne ein weiteres Wort zu sagen, mit ihr davon.

Daamien blickte ihnen traurig nach und murmelte dabei in sich hinein: »Irgendwas stimmt hier nicht.«

Tassi sah ihn besorgt an. »Was meinst du, Daamien? Wo ist Cara? Wie geht es Niel?«

»Gilion hat Cara weggebracht. Ich nehme an, man hat sie in Marces’ Zimmer eingesperrt. Zu Niel lässt man mich im Moment nicht«, antwortete Daamien leise.

»Das ist nicht fair. Wir hatten gegen eine Bestrafung der beiden gestimmt«, fügte Tassi traurig an.

»Wie meinst du das?«, hakte Daamien verdutzt nach.

Tassi seufzte. Sie wusste ja selbst nicht so recht, wie sie das erklären sollte. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Aber wenn sie an den Morgen und die Abstimmung dachte, musste sie traurig den Kopf schütteln. Sie hatten lange diskutiert, geredet und versucht zu vermitteln. Aber der Großteil der Trolle war entweder so stur, dass es ihnen egal war, was passierte – sie würden ja schließlich länger leben als alle anderen – oder hatten einfach nur Angst vor Garushins Macht und seiner Vergeltung. Tassi blickte nachdenklich über die Unsterblichen.

Was war bloß aus ihnen geworden? Was hatte die Zeit aus ihnen gemacht?

»Es gab eine ziemlich heftige Debatte heute Morgen. Die meisten Trolle scheinen zu viel Angst vor Garushin zu haben. Nur deshalb kam es zu dieser Entscheidung. Unsere Stimmen haben nicht ausgereicht«, erklärte Geremon schließlich.

Daamien runzelte die Stirn. »Er versucht alles zu kontrollieren. Das ist keine Demokratie, das ist eine Diktatur. Ich muss zu Niel. Ich muss mit ihm reden.«

»Was ist mit Cara?«, wollte Tassi wissen, während Daamien bereits am Gehen war. Sie war sichtlich besorgt.

»Einer nach dem anderen. Niel braucht mich jetzt zuerst. Cara ist stark genug alleine klar zu kommen. Sie wird durchhalten«, antwortete er und verschwand.

»Hoffentlich hat er recht«, flüsterte Tassi Geremon zu, während sie bemerkte, dass Tamilia sie aus dem Augenwinkel beobachtete.

Geremon nickte zustimmend. »Das hat sie wirklich nicht verdient.«

»Wir sollten gehen. Man beobachtet uns«, fügte Tassi leise an.

Geremon blickte über die anderen Unsterblichen zu Tamilia. »Sie wird immer mehr wie ihr Vater. Wir sollten uns vor ihr in Acht nehmen. Unser Kampf für Cara und Niel wird Garushin und ihr nicht gefallen haben. Reise bitte nicht allein zurück.«

»Keine Sorge«, antwortete Tassi. »Mein Vater Kelpie und meine Schwester Nemie werden mich begleiten. Was ist mit dir?«

 

Geremon trat langsam die Treppe hinunter. »Ich werde mich den anderen Baumtrollen anschließen, auch wenn ich sie eigentlich nicht leiden kann. Wenigstens jetzt sollten wir zusammenhalten.«

Während Daamien mit den anderen redete, sprach Marces mit Niel. Darvu hatte ihn direkt nach der Urteilsverkündung zurück in den Kerker gebracht, allerdings auf eine tiefer gelegene Ebene als zuvor. Auch war die Zelle größer als die vorherige. Es standen ein größeres Bett, ein Tisch und ein Stuhl darin. Durch ein kleines Fenster konnte man nach draußen auf die Klippen sehen.

Niel trat zum Fenster und seufzte leise: »Ich fasse es einfach nicht.«

»Na sieh mal einer an. Der aufmüpfige Junge begreift endlich die Konsequenzen seines Handelns.« Marces trat mit energischem Schritt in die Zelle. »Und, hast du dir deine Zukunft so vorgestellt? Den Rest deines Lebens hier in diesem Kerker zu verbringen? War es das alles wirklich wert? Hast du jetzt das, was du wolltest? Du solltest endlich lernen dich anzupassen!«

Niel drehte sich verärgert zu ihm um. »Ich werde mich niemals an ein so korruptes System anpassen. Eher sterbe ich hier drin, als vor Garushins Füßen wie ein Wurm zu kriechen. Ich bin ein Drache, kein Haustier!«

Marces lachte laut.

»Natürlich. Vielleicht reden wir in 200 Jahren noch einmal darüber. Ich bin mir sicher, dass du jetzt genug Zeit haben wirst um nachzudenken«, rügte er ihn.

»Ich werde mich nicht beugen!«, erwiderte Niel entschlossen und zornig zugleich.

»Tamilia wird dir deinen Hochmut schon austreiben«, entgegnete Marces und wandte sich sichtlich gelangweilt von ihm ab. In dem Moment, wo er die Zelle verließ, fügte er noch hinzu: »Ich werde dasselbe auch mit Cara tun.«

Niel schnaubte vor Wut. Am liebsten hätte er Marces am Kragen gepackt und gegen die Wand geschleudert, aber Marces war schneller und schlug ihm die Kerkertür direkt vor der Nase zu.

»Wir sehen uns«, antwortete er höhnisch.

»Lass sie gefälligst in Ruhe! Wenn ich hier raus komme, bring ich dich um!«, schrie Niel im hinterher.

Marces reagierte nicht darauf. Er hatte erreicht, was er wollte. Als er grinsend die Stufen des Kerkers wieder nach oben trat, traf er auf Darvu.

»Mein Hüter, Daamien möchte mit dem Gefangenen sprechen. Erlaubt Ihr?«, fragte Darvu ihn.

Marces sah Darvu fragend an. »Weswegen?«

»Ich weiß es nicht, mein Hüter«, erwiderte Darvu. »Soll ich ihn holen, damit Ihr ihn fragen könnt?«

Marces nickte. Er traute Daamien nicht.

Während er darüber nachdachte was Daamien mit Niel besprechen wollte, lief Darvu nach oben zu den Treppenhäusern und fing ihn auf seinem erneuten Weg nach unten ab.

»Der Hüter möchte mit Ihnen reden«, sagte er zu Daamien und deutete ihm an ihm zu folgen. Dieser tat, wie es ihm geheißen wurde.

Als sie Marces erreichten, fragte dieser Daamien sogleich: »Weswegen willst du zu Niel?«

Daamien versuchte ihn mit ruhiger und besonnener Haltung zu überzeugen. »Ich will ihn nur etwas zur Besinnung bringen. Er wird Tamilia sonst nur noch mehr Ärger machen. Ich werde des Weiteren persönlich dafür sorgen, dass die Drachen nach Hause, nach Norwich, gebracht werden. Sie werden dir keine Probleme mehr machen.«

Marces musterte Daamiens Mimik, bevor er ihm antwortete: »Nun gut. Du kannst zu ihm. Treib ihm seinen Starrsinn aus. Ich werde umgehend abreisen. Es ist besser, wenn Cara vorläufig keinen weiteren Umgang mit den anderen Drachenkindern hat.«

Daamien bedankte sich mit einer Verbeugung um seinen Respekt zu zeigen. Er hatte jedoch alle Mühe dabei seinen Ärger zu verbergen, während Marces Darvu befahl: »Bring ihn runter.«

Dann wandte er sich von beiden ab und lief nach oben. Darvu führte Daamien schließlich zu Niels Zelle.

»Sie haben zehn Minuten«, sagte er zu Daamien, als er die Zellentür aufschloss. Daamien gab Darvu mit einem Nicken zu verstehen, dass er sich daran halten würde.

»Daamien, wo ist Cara?«, polterte es sogleich aus Niel heraus, als er Daamien erblickte.

Daamien schloss langsam die Kerkertür. Er seufzte leise: »Es tut mir leid.«

Daraufhin legte Niel die Hand auf Daamiens Schulter. »Es ist nicht deine Schuld. Aber ich glaube dir jetzt. Diese Welt ist korrupt und sie tanzen alle nach Garushins Pfeife. Es ist eine Diktatur, keine Demokratie!«

»Ich hatte dich gewarnt«, antwortete Daamien verhalten. »Sie werden sich nicht ohne triftigen Grund gegen Garushin stellen. Eher versinken sie in ihrem Elend und in ihrer Angst.«

»Ich weiß, mein Freund. Das habe ich jetzt begriffen. Ich stehe hinter dir. Egal was nun kommen mag«, antwortete Niel entschlossen. Dann trat er zurück an das Fenster.

Er blickte besorgt nach draußen. »Wo ist sie?«

Daamien folgte ihm zum Fenster und flüsterte: »Bei ihm. Sie werden umgehend abreisen. Er will sie unbedingt von Allen abschotten.«

Niel kochte vor Wut und schlug mit der Faust gegen die Wand, auf der sich sofort eine schimmernde Eisschicht bildete. Er hatte gehofft, dass der Schmerz, der ihn durchfuhr, jenen anderen um Cara überdecken würde. Aber es half nichts: sein Herz bebte, sein Puls kochte. Er mochte sich nicht ausmalen, was Marces mit Cara anstellen würde.

Daamien packte ihn an der Schulter. »Du musst dich zusammenreißen! Deine Wutausbrüche werden keinem helfen!«

»Was soll ich denn sonst machen? Mich ihnen ergeben?«, fragte Niel. »Soll ich mich in Ketten legen lassen wie Zephus?«

Daamien blickte ihn entschlossen an. »Ich will, dass du durchhältst. Mach, was sie sagen und versuch dich zurückzuhalten. Ich finde einen Weg dich hier wieder rauszuholen.«

Niel blickte ihn fragend an. »Was hast du vor?«

Um sicher zu gehen, dass Darvu sie nicht belauschte, sah Daamien sich um. »Ich lasse mir was einfallen. Bis dahin hältst du die Füße still. Verstanden?«

Niel nickte: »Aber eine Sache musst du mir versprechen!«

»Welche?«, wollte Daamien wissen.

»Versprich mir, dass du sie da rausholst!« erwidert Niel energisch. »Und zwar erst sie, dann mich!«

Daamien blickte ihn verwundert an. Er hätte gewettet, dass Niel alles dafür gegeben hätte so schnell wie möglich den Kerker verlassen zu können und nun wollte er warten?

Was verband Niel und Cara wirklich miteinander? Hatte er etwas übersehen? Daamien grübelte vor sich hin. Wie sollte er das Alles bloß anstellen? Die ganze Sache wurde immer verzwickter. Alles schien aus dem Ruder zu laufen. So hatte er das nicht geplant.

»Versprich es!«, forderte Niel erneut.

»Ich werde es versuchen. Aber sie wird eine Weile ohne uns durchhalten müssen. Das wird nämlich nicht einfach«, antwortete Daamien schließlich. Er hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie er das in aller Welt bewerkstelligen sollte. Niel rauszuholen erschien ihm deutlich einfacher, als Cara zu befreien.

»Sie ist stark«, erklärte Niel ihm daraufhin. »Sie wird durchhalten. Ich glaube an sie.«

Daamien klopfte ihm auf die Schulter. »Wir schaffen das.«

Im selben Moment öffnete Darvu die Tür und bat Daamien wieder nach draußen. Niel seufzte leise, als ihm bewusst wurde, dass er nun auf sich allein gestellt war.

Er dachte an Cara und die anderen. Was würde nun aus ihnen werden? Wie sollte er diese quälende Einsamkeit überstehen? Er setzte sich auf das Bett und ließ sich an die Wand zurück sacken. Dann seufzte er und blickte nach draußen aufs Meer. »Ich bitte euch nur um eine einzige Sache, ihr Trolle der Meere und der Winde: Beschützt Cara! Beschützt die Liebe meines Lebens.«

Stille Abreise

Während unser Flugzeug die Insel verließ, fragte ich mich, wie es den anderen wohl erging. Wussten sie, was geschehen war? Hatte man sie informiert? Was würde nun mit ihnen geschehen? Mir brummte der Kopf vor lauter Fragen.

Auch wenn die Einladung zum Konzil ihre Freilassung nach den Verhandlungen versprochen hatte, glaubte ich nicht daran, dass Garushin sie einfach gehen lassen würde. Bei dem Gedanken an ihn lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Wie konnte man nur so grausam sein? Die Gesichter meiner Brüder und Schwestern flogen vor meinem inneren Auge an mir vorbei: Tara, Kira, Osiris, Elen, Danny, Le und – mein Herz fing an zu rasen – Niel.

Was wird nun aus ihm? Was werden sie mit ihm machen? Leise lief mir eine Träne über die Wange. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es ihm in diesem Moment gehen mochte und doch kam mir bei dem Gedanken an ihm ein schauriges Bild: Von einer kalten, modrigen Kerkerzelle, in der er abgeschottet von allen lebenden Seelen im Dunkeln ausharren musste. Wird er es aushalten? Wird er die Kraft finden das zu überleben? Werde ich ihn jemals wiedersehen?

Ich sackte in meinem Sitz zusammen. Meine Hände zitterten, mein Herz bebte. Wie konnte es nur soweit kommen? Ich schüttelte immer wieder den Kopf, während ich versuchte stark zu sein und die Tränen zu unterdrücken. Aber es funktionierte nicht.

»Alles in Ordnung Mademoiselle?«, Partu blickte mich fragend an. Er saß noch immer auf dem Platz mir gegenüber.

Ich wischte die Tränen beiseite und versuchte mich zu beruhigen, aber es half nichts. Meine Lippen zitterten so sehr, dass ich nicht vermochte auch nur ein Wort zu sagen.

»Atmen, Mademoiselle, atmen. Das hilft«, fügte Partu an, als er es bemerkte. Ich versuchte zu lächeln, auch wenn mir nicht danach zumute wahr. So konzentrierte ich mich schließlich nur noch darauf langsam und gleichmäßig Luft zu holen und mich zu beruhigen.

Marces bekam von all dem zum Glück nichts mit. Er saß ganz vorn im Flugzeug und telefonierte schon wieder mit irgendjemandem. Ihn interessierte es überhaupt nicht, wie es mir ging. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich nur noch ein Spielzeug für ihn war. Ein Besitz, mit dem man vor anderen prahlen konnte.

»Wird es besser?«, wollte Partu wissen.

»Es geht schon wieder. Meine Nerven sind mit mir durchgegangen« antwortete ich leise.

»Sie sollten lernen Ihre Gefühle zu verstecken, wenn Sie überleben wollen. Der Herr ist nicht zimperlich. Er wird keine Rücksicht auf Sie nehmen«, erklärte er mir, nachdem er sich kurz umgedreht hatte um sicherzugehen, dass Marces noch immer telefonierte.

»Das weiß ich. Aber ich bin mir nicht sicher ob ich das kann«, erwiderte ich seufzend.

Partu runzelte die Stirn. »Ob Sie was können? Durchhalten? Sie wollen doch nicht etwa aufgeben?« Ich wollte etwas erwidern, war mir aber nicht sicher, was ich sagen sollte. Was sollte das denn bedeuten?

Mir dämmerte allmählich, dass Partu und ich uns nie richtig unterhalten hatten. Ich wusste überhaupt nicht, auf welcher Seite er stand oder ob er sich überhaupt auf irgendeine stellte. Was dachte oder fühlte er? In diesem Moment zum Beispiel? Wollte er mir Mut machen? Wollte er mich testen?

Ich amtete abermals tief ein und blickte ihn fragend an. Wer war dieser Mann? Wieso erzählte er mir, dass er zu meiner Schwester gesagt hatte, dass sie ihn als die Schweiz in Person betrachten solle. Was meinte er mit diesen Worten – Wie kann jemand die Schweiz in Person sein?

»Nun Mademoiselle, werden Sie Ihren Dickschädel behalten oder klein beigeben?«, hakte er nach, als er bemerkte, dass ich in Gedanken abschweifte.

Ich versicherte mich zunächst, dass Marces noch immer auf seinem Platz saß, dann schüttelte ich den Kopf und antwortete ihm: »Ich werde nicht klein beigeben. Ich bin kein Haustier oder jemandes Eigentum!«

Partu schmunzelte, dann drehte er sich zum Fenster. Eine weitere Reaktion oder Antwort von ihm bekam ich nicht. Trotz meiner unzähligen Versuche, ihn mit fragenden Blicken dazu zu bewegen doch noch etwas zu sagen, schwieg er eisern. Ich grübelte vor mich hin, was das Alles bedeuten sollte. War es richtig gewesen so ehrlich zu ihm zu sein? Würde er Marces davon erzählen? Während ich Partu weiter beobachtete, kam Marces zu uns.

Er hatte sein Telefonat beendet und schien sichtlich beruhigt darüber, dass nun endlich alles vorbei war.

»Ich bin so froh, wenn wir wieder zu Hause sind. Diese ganze Geschichte hätte nun wirklich nicht sein müssen. Ich habe auch so schon genug Arbeit. Gott sein Dank ist das Ganze noch glimpflich ausgegangen. Es wird Zeit, dass du lernst auf die Worte Älterer zu hören und nicht immer auf die anderen Drachenkinder. Sie sind viel zu schreckhaft«, erklärte er mir, während er neben mir Platz nahm und meine Hand ergriff.

Ich antwortete nicht. Was sollte ich auch darauf erwidern? Hatte er denn gar nichts begriffen?

 

»Sieh an. Du hast nichts mehr zu sagen? Kein ›Danke, dass du mich daraus geholt hast.‹ Nichts? Gar nichts? Wenn es nach Garushin gegangen wäre, dürftest du jetzt als seine Dienstmagd durch sein Haus laufen«, fügte er an, während er mich auffordernd ansah. Als ich abermals nicht reagierte, strich er mit seiner anderen Hand über meine Wange, als wollte er mich trösten. Ich bemerkte, dass sie kalt war, aber sonst war da nichts mehr. Gar nichts. Keine Gefühle. Keine Liebe. Waren sie wirklich jemals dagewesen? War es eine Projektion von ihm? Hatte er mich manipuliert oder tat ich es selbst? Wo waren all die Gefühle hin? Ich seufzte leise.

Marces schmunzelte zufrieden, als er es bemerkte:

»Wir werden es uns richtig gemütlich machen zu Hause. Nur du und ich. Wie in alten Zeiten. Wir legen uns in den Garten und beobachten die Sterne. Dann schlafen wir zusammen ein und träumen von unserer ersten Begegnung.«

»Nein!«, erwiderte ich forsch und zog meine Hand weg. »Ich werde nicht mit dir in einem Bett schlafen.«

Marces verzog mürrisch das Gesicht. »Wie bitte? Was soll das heißen? Spukt dieser Bengel immer noch in deinem Kopf rum?«

Ich drehte mich zu ihm um. »Erstens ist er kein Bengel und zweitens ist das ja wohl meine Entscheidung! Ich werde im Gästezimmer schlafen. Davon haben wir schließlich genug in Jena.«

Daraufhin ergriff er erneut meine Hand, dieses Mal jedoch energischer. Dabei drückte er sie so fest, dass er mir wehtat. Ich sagte nichts, obwohl mein Handgelenk höllisch schmerzte. Diesen Sieg wollte ich ihm nicht gönnen. Er blickte mir tief in die Augen, als ob er nach etwas suchte. Sein liebevoller Blick war dem puren Hass gewichen. Ich versuchte stark zu sein. Bloß keinen Rückzieher machen, dachte ich mir.

Nachdem er realisiert hatte, dass ich meine Meinung nicht ändern würde, ließ er meine Hand wieder los. »Nun gut. Du schläfst im Gästezimmer. Vorerst. Aber du wirst das Haus nicht verlassen.«

Daraufhin erhob er sich, ohne ein weiteres Wort und lief grummelnd an mir vorbei. Ich hätte es dabei belassen sollen, aber mein Protest war geweckt.

»Du kannst mich nicht einfach einsperren! Was ist mit meiner Familie und meinem Studium?«, erwiderte ich patzig. »Was ist mit den anderen? Tara, Kira, ... «

Marces fuhr mir wütend ins Wort: »Ich kann was nicht? Dich einsperren?«, brüllte er, während er sich über mich beugte. Ich zuckte erschrocken zusammen. So hatte ich ihn noch nie zuvor erlebt. Er kochte vor Wut. Eine Sekunde später ergriff er energisch mein Kinn und zog mein Gesicht zu sich. »Ich sag dir jetzt mal, was ich kann. Du hast Hausarrest! Solange ich das sage. Und du wirst gefälligst tun, was ich will, ansonsten erlebst du mich von einer ganz anderen Seite. Du gehörst mir! Haben wir uns verstanden?«

Mir wurde schmerzlich bewusst, dass er mir absichtlich weh tat um mir seine Stärke zu demonstrieren. Als er bemerkte, dass ich am ganzen Körper erschrocken zitterte, gab er mir einen Kuss auf den Mund, um meine scheinbare Kapitulation zu besiegeln. Ich ließ ihn gewähren, weil ich einen Moment lang Schlimmeres befürchtete.

»Ich werde mir nehmen, was ich will. Hast du das verstanden?«, fügte er triumphierend an.

Ich nickte, während ich versuchte ihm nicht in die Augen zu sehen und mich zu beruhigen. Einen Moment später ließ Marces mich wieder los und richtete sich auf. »Und übrigens: Wir fliegen zurück nach Prag. Jena hat dich zu sehr verleitet. Deine Unterlagen fürs Studium lasse ich dir nachholen. Du wirst genug Zeit haben es von zu Hause aus fortzuführen. Deine geliebte Familie werde ich darüber informieren, dass du im Moment keine Zeit für sie hast. Wenn du dich benimmst und gehorchst, können wir vielleicht noch einmal darüber sprechen, ob und wann du mit ihnen reden darfst. Und was deine Schwestern und Brüder angeht: Dieses Drachenpack ... Da kannst du froh sein, wenn sie die Insel verlassen dürfen. Aber wiedersehen wirst du sie nicht.«

Dann drehte er sich um und lief ein paar Sitzreihen nach vorn, um sich dort in einen der anderen Sessel fallen zu lassen. Ich atmete tief ein und aus, legte meinen Kopf zurück. Oh, mein Gott! Was war da gerade passiert? War das sein wahres Gesicht? Wie sollte ich das überleben?