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Verträumt 4

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From the series: Verträumt #4
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»Nach was soll es denn riechen?«, fragt Clara scheinheilig und läuft zur offen stehenden Balkontür.

»Was machst du denn die ganze Nacht? Mit wem schreibst du?«, fragt ihr Stiefbruder aufgeregt.

Gleich darauf bemerkt er, wie Clara heimlich einen selbstgebastelten Aschenbecher vom Balkon verschwinden lassen will.

»Rauchst du etwa? Seit wann?«

Ertappt. Clara war wohl zu langsam. Doch warum Fabian etwas vorspielen?

»Ist schon irgendwie richtig cool, das Rauchen.«

»Echt jetzt?«, fragt Fabian, läuft dabei in seinem Schlafanzug zu Clara an die Schwelle der Balkontür.

»Ja schon«, antwortet sie flüsternd und zündet sich daraufhin eine Zigarette unter freiem Himmel an.

Neugierig geht Fabian ein paar Schritte weiter vor, entdeckt dabei die Kippenschachtel, die zusammen mit einem Feuerzeug auf dem kalten Boden liegt.

Genüsslich zieht Clara den Rauch ein, klopft dabei mehrmals die Asche in den Plastikbecher, voll mit verdrecktem Wasser.

»Schmeckt das?«

»Nö«, grinst Clara und hält dabei Fabian ihre Zigarette hin.

»Probier es doch aus. Ich hatte auch erst Schiss gehabt, es wird einem auch gleich ein bisschen schwindelig. Aber irgendwie ist es richtig nice.«

»Okay«, lässt sich Fabian überreden und nimmt Claras Kippe etwas unbeholfen zwischen die Finger. Er fragt dabei mit flüsterndem Ton nochmal nach, ob er sie denn so richtig hält?

»Ja Fabian. Jetzt zwischen die Lippen, dran ziehen, dann erschrocken tief einatmen und anschließend sagen, Achtung, die Mutter kommt.«

»Okay«, nickt Fabian stolz, nimmt daraufhin die Zigarette zwischen die Lippen, zieht daran und verhaspelt beim Satz den Sinn, woraufhin er lautstark zu husten beginnt.

In diesem Moment wird abrupt die Balkontrennwand eingezogen. Geschockt blickt Clara direkt in Veronikas entsetzte Augen, die auf dem Nachbarbalkon neben dem Whirlpool steht und somit Fabian mit der Zigarette in der Hand erwischt.

»Shit«, flüstert Clara aufgewühlt.

Bis ins Mark getroffen beginnt ihr Puls zu rasen. Ihr Herz pocht dabei so stark, als wolle es aus der Brust springen. Blitzschnell feuert Fabian die Kippe auf den Boden und flitzt, voller Panik, vom Balkon. Doch so schnell, wie er sich zu beeilen versucht, Veronika ist flotter und fängt ihn vor seiner Schlafzimmertür ab.

»Mein Lieber, wenn ich dich noch einmal mit einer Zigarette erwische. Ich schlage dich grün und blau! Hast du mich verstanden?«, droht sie ihm, den Zeigefinger mahnend in seine Richtung gestreckt.

Es wird laut. Gestresst laut. Panisch laut.

»Es tut mir leid«, fleht Fabian seine Mutter an, hebt dabei zum Schutz seine Hände vors Gesicht, während er zitternd mitten im Zimmer steht.

Median, durch den Tumult aus allen Träumen gerissen, sitzt total verwundert senkrecht auf dem Bett.

»Es war nicht mal ein richtiger Lungenzug, Veronika«, versucht Clara, unterm Türrahmen stehend, ihren Stiefbruder zu verteidigen.

»Ins Bett! Und du auch!«, fordert Veronika ihre Zwillinge auf, um sich anschließend ihre Stieftochter zur Brust zu nehmen.

»Und du kleine Rotznase, denkst ein misslungener Lungenzug besänftigt die Situation?«, schreit sie aus vollem Halse.

»Nein, aber…«

»Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dir. Du verdirbst mir meine Kinder nicht. Hast du das verstanden, meine Liebe?«

»Ich. Ähm. Ich«, stottert Clara, blickt dabei angespannt und vor Angst schlotternd in Veronikas, vom Hass verzerrte, Gesicht.

Dem wirren Blick ihrer, vor Zorn geröteten Augen kann das eingeschüchterte Mädchen nicht standhalten und wird so von der Furie im Loft immer mehr in die Enge getrieben.

»Ich. Ähm. Ich. Jetzt kommt aus dir nichts mehr vernünftiges raus, was Liebes? Betitel mich doch einfach als Miststück oder hasse mich. Ja, Clara. Hasse mich! Hasse mich! Hasse mich!«

»Lass mich doch einfach in Ruhe!«, brüllt Clara plötzlich und bricht dabei in Tränen aus.

Im Vorbeirennen sieht sie noch die Zwillinge regungslos vor Schreck zu Stein erstarrt an der Tür stehen. Doch der Versuch ihr den Rücken zuzukehren scheitert kläglich. Mit festem Griff schnappt sich Veronika energisch Claras Hemd und zerrt sie damit wieder zu sich heran. Vor Schreck, gepaart mit Wut und Hass, holt Clara hysterisch schreiend aus. Sie stößt ihr mit beiden Händen brachial gegen die Brust.

Während Veronika rückwärts umfällt, krallt sie sich reflexartig Claras Hände, um anschließend mit ihr gemeinsam die Milchglaswand zu durchbrechen. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbirst der gesamte Sichtschutz rund um das Bad in tausend Einzelteile.

Nach diesem heftigen Klirren liegen Veronika und Clara plötzlich mit einem Schlag geschockt und regungslos mitten in einem Scherbenmeer.

Es wird still. Mucksmäuschenstill. Und nur die Gedanken von Veronika werden laut.

Ich werde niemals dieses lähmende Gefühl vergessen können. Wir lagen, wie versteinert, dort und rührten uns nicht mehr. Ich hörte meine zwei Kinder lautstark mit angsterfüllter Stimme rufen. ›Bewegt euch nicht, bewegt euch nicht.‹ Sie wussten es nicht besser. Sie wussten nicht, dass es Sicherheitsglas war und man sich daran nicht schneiden kann. Dennoch blieb ich paralysiert liegen. Paralysiert, weil ich mich plötzlich fragte, wie es denn nur soweit kommen konnte. Passiert ist uns beiden nichts. Nur ein paar blaue Flecken erinnerten uns körperlich einige Tage danach noch daran. Die Verletzungen der Seele war wohl gravierender, denn geredet haben wir trotzdem nicht mehr miteinander.

Mein Lebensgefährte spielte diesen Streit natürlich herunter, mit den Worten ›Halb so schlimm. Wir ersetzen den Sichtschutz und gehen solange im Badeanzug duschen.‹ Er widerte mich so langsam nur noch an. Denn sein übertriebenes Harmoniebedürfnis war einfach nicht mehr länger zu ertragen. Zum Glück hatte ich eine andere Option erhalten. Sie stand schon länger offen.

Meine Zwillinge brachte ich zu meinen Eltern. Was aus meinem Lebensgefährten und seiner Tochter in der Zeit wurde, war mir egal. Ich hoffte und bangte nur, dass alles während der Operation, die mir bevorstand, gut gehen würde. Denn das meiste, worum ich mich nun sorgte, waren meine Kinder. Ich hoffte, dass nichts schiefgeht und ich danach mit ihnen in ein besseres Leben starten kann.

Und so lag ich am Operationstag auf der Pritsche und sah der Narkoseärztin in ihre hellen Augen. Sie zählen nun von Zehn rückwärts, sagte sie mir, streichelte dabei meinen Handrücken und ich spürte wie sich etwas in meinem Körper veränderte. Daraufhin begann ich dann langsam und völlig in mich gekehrt, von Zehn runter zu zählen. Hätte ich gewusst, wo ich danach landen werde, hätte ich an die Zahlen noch nicht einmal gedacht.

›10. 9. 8. 7. 6. … ‹

6
Verwünscht

Im Hintergrund ist ein penetrantes Alarmsignal wahrzunehmen, während Stromschläge durch Veronikas, vor Pein zuckenden, Körper pulsieren. Mit jedem Elektroschock, der ihr verpasst wird, wird gehofft und gebangt, bis Veronikas Seele sich ruckartig von der eigenen Hülle löst und in eine innere, tief vergrabene Ebene eintaucht. Sie steigt in eine Welt ab, in der sie wohl noch niemals zuvor Fuß gefasst hat.

»Das Herz schlägt wieder«, ertönt eine fremde Stimme erleichtert, während Veronika ihren, von Stille umgebenen, Weg weiter hinabgleitet. Dabei spürt sie allmählich, wie sie die Macht über ihren eigenen Körper wiedererlangt. Doch so richtig wach scheint sie an diesem zeitlosen Ort nicht zu sein, denn sie steckt mitten in ihren Träumen und blickt verstört umher.

Auf einer verschmutzten Matratze liegend, spürt sie den kalten Wind, der sich durch die Schießscharte strömend, in diesem mittelalterlichen Rundturm ausbreitet. Eine glimmende Laterne, die an etwas undefinierbarem von der modrigen Decke herunterbaumelt, erhellt diesen fremden Ort.

Nach kurzen, verwirrten Momenten nimmt Veronika all ihre Sinne zusammen, dabei bemerkt sie auch zugleich, diesen muffigen, gar nach Verwesung riechenden Gestank, der ihr sichtlich in der Nase beißt.

Vor Ekel würgend, steigt sie mit erhöhtem Puls von der Matratze auf.

»Bin ich tot?«, fragt sie sich schockiert und schüttelt den Gestank von sich.

»Ich heiße Euch willkommen, Veronika Stein. Willkommen in Eurer Traumwelt«, ertönt plötzlich eine zartschmelzende Stimme irgendwoher.

Konzentriert schaut Veronika aus der Schießscharte und über zahlreiche Baumkronen hinweg. Dabei erblickt sie das nächtliche Tal, das vom geheimnisvollen Glanz des Vollmondes erstrahlt wird. Dieses Lichtspiel beleuchtet auch einen am Waldrand gelegenen See, der direkt zu einem funkelnden Schloss führt.

»Bin ich tot? An der Schwelle des Todes?«, fragt Veronika irrsinnig und dreht sich wieder dem düsteren Raum zu.

»Mitnichten zur Ruh, meine Dame. Darf ich etwas zu meiner Person kundtun?«

»Nur zu«, bittet Veronika angespannt, sich im Turm umschauend, woraufhin sie eine winzige, hell strahlende Fee aus der dunkelsten Ecke zu sich fliegen sieht.

»Ich bin Eure gute Fee.«

»Das kann ja nicht wahr sein«, belächelt Veronika die absurde Situation und beobachtet völlig unbekümmert, wie die quirlige Fee in ihrem Redeschwall ihren Zauberstab umher schwingt.

»Eure gute Fee Verbena, geboren wurde ich in einer Verbene, sie gehören zur Familie der Eisenkrautgewächse. Lasst mich Euch ein wenig erklären. Erdenbewohner besitzen die Gabe, in Träumen ihre alltäglichen Geschehnisse zu verarbeiten. Und eine winzig kleine Anzahl an Menschen, können den Körper in ihren Träumen steuern. Ihr seid nun in einem Zustand, in dem Ihr Eurem Traum folgen könnt. Ihr könnt lieben, Ihr könnt hassen und Ihr könnt einen Schmerz verspüren.«

 

»Und ich könnte mich jetzt einfach wieder auf diese übel riechende Matratze legen und warten bis ich aufwache? Oder nicht, meine Liebe?«

»Einen schweren Fehler würdet Ihr damit begehen. Wo doch Euer Körper gerade vom Versagen gezeichnet ist und nach Kraft lechzt. Kein leichtes Tun für Euren menschlichen Organismus. Dazu noch eine schwere Last, die Eure Seele quält und droht sie zu zerbrechen.«

Mit skeptisch erhobener Augenbraue verschränkt Veronika beim Zuhören ihre Arme, was Verbena jedoch nicht zu stören vermag. Sie vollendet unbekümmert ihren Satz.

»Es wäre leichter, wenn Seele und Körper in Einklang wären. Ihr müsst nur die Reinigung Eures Geistes gewähren.«

Vertieft in ihrem Satz wird die gute Fee allerdings vom Läuten einer ziemlich riesigen Glocke unterbrochen. Auch Veronika wagt einen Blick hinunter in die Wälder.

»Woher kommt dieser Glockenlaut?«

»Am Rande des Waldzaubers und des Märchensees thront eine übergroße Glocke hoch über geöffnetem Tore, um zu warnen vor fremden Schiffen zu alter Zeit. Man sagt, sie besitzt unsagbare Magie. Sie scheint das Herz des Waldes zu sein.«

»Märchen, wie schön. Es fehlt nur noch mein Vater«, entgegnet sie ungläubig.

»Aber Veronika, das Wichtigste habe ich Euch noch nicht gesagt.«

»Hmm... bitte, ich höre zu.«

»Das Gift der wahren Liebe hat Euch infiziert. Von Minute zu Minute schwächt es Euren Körper so sehr, dass er zu zerbrechen droht. Zerbricht Eure Seele, werdet Ihr selbst auf dieser Welt nicht mehr sein.«

Sich räuspernd schwingt Verbena ihren Zauberstab und lässt einen aufklappbaren Handspiegel in Veronikas Hand erscheinen.

»Macht ihn auf und seht hinein, Veronika.«

Erfreut, einen vertrauten Gegenstand aus der Realität vorzufinden, sieht sie in dessen Spiegelbild einen Blutmond am Horizont über dem Wasser aufgehen.

»Fallen die Strahlen des aufgegangenen Blutmondes gänzlich über die Wasseroberfläche, so wird auch der letzte Hauch Leben aus Eurem Körper vergangen sein. Und Veronika, Ihr werdet für immer tot sein«, orakelt Fee Verbena.

Grinsend klappt Veronika den Spiegel zu und verstaut ihn in ihrer Hosentasche, fragt sich dabei einerseits, ob sie dem Irrsinn Glauben schenken soll und andererseits, falls es wahr sein sollte, wie sie diesen Verfall aufhalten könnte.

»Das Lösungsproblem ist einfach. Weint Veronika, lasst das Gift der wahren Liebe mit Euren Tränen aus Eurem Körper fließen und Ihr werdet befreit sein.«

»Nun gut. Nehmen wir mal an, ich glaube das alles und du, als gute Fee, wirst mir zur Seite stehen. Wie können wir es beginnen, dass es nicht all zu kindisch wirkt? Denn eine gute Fee und ich, das passt nicht. Ganz und gar nicht, meine Liebe.«

»Was wäre denn eher Eure bevorzugte Gestalt für mich? Ein Chamäleon oder ein Glühwürmchen? Oder sollte es gar ein Babybär sein? Was Euch beliebt.«

»Verbena, bleib einfach als Fee. Nur reguliere deine Strahlkraft, dass fällt nicht so auf.«

»Ja, aber natürlich«, antwortet Verbena hingebungsvoll.

Plötzlich fällt die glimmende Laterne zu Boden, weshalb die gute Fee blitzschnell mit ihrem Zauberstab den Raum erleuchtet. Daraufhin ist in der Ecke ein morsches Spinnrad zu erkennen, an dem ein junges Fräulein, mit all ihrer langen Haarpracht, dran gefesselt ist.

»Hilfe, bitte helft mir«, fleht sie völlig apathisch mit angstvollem Blick, wobei ihr Blut aus den Ohren strömt.

Veronika begutachtet derweil hoch interessiert die Haare der Gefangenen, doch ein Ende ist nicht zu finden. Sie findet eher eine weitere fremde Frau, die mit Haaren um den Hals leblos von der Decke baumelt. Zudem ist auch ›Mutter weiß nichts mehr‹ mit Blut an der Wand geschrieben und der verweste Gestank erhält eine Herkunft.

Schlagartig nimmt Veronika ein Bündel Haare und wirft es aus dem Fenster des Turmes.

»Ich denke, wir brauchen hier nach keinem Aufzug zu suchen. Ich kenne diese Geschichte.«

»So wollt Ihr hinab?«, fragt Fee Verbena zittrig, während sich Veronika bereits aus der Öffnung seilt und wagemutig in die Tiefe blickt.

»Wenn der Gestank ja nicht so stechend wäre, würde ich es mir da oben gemütlich machen. Aber in dieser Situation muss ich leider verzichten. Tut mir leid, junge Dame.«

»Ihr wollt doch nicht abhauen? So bitte bleibt und befreit mich«, ruft das Fräulein wimmernd hinterher.

Jedoch kümmert es Veronika keines Wegs, sie klammert sich fester an den Zopf und klettert den Turm hinunter. Infolgedessen verspürt die Gefangene immer mehr den ziehenden Schmerz auf der Kopfhaut, bis die Haarwurzeln Sekunden später komplett herausgerissen werden. Vor Schmerz schreiend fließt aus dem Fräulein weiteres Blut heraus, während die Stabilität der verwurschtelten Haare nachlässt und die verweste Leiche deshalb abprupt auf den Boden kracht. Zeitgleich landet auch Veronika auf dem weichen Gras.

»Seid Ihr verletzt, Veronika?«, erkundigt sich die Fee besorgt und fliegt umher.

»Es ist alles okay«, antwortet sie, während sie sich vom nassen Rasen erhebt und zur Turmspitze blickt. Sie erkennt plötzlich geschockt, wie das arme Geschöpf um Hilfe wimmernd, vom Turm hinunter in den sicheren Tod stürzt. Rasch weicht Veronika ihr aus und würdigt ihr nach dem heftigen Aufprall keines Blickes. Stattdessen entflieht sie einfach in ein Gestrüpp von Efeu, wo Veronika anschließend aufatmen kann.

Völlig überfordert von den Geschehnissen fordert die fliegende Fee ihren Schützling auf, endlich stehen zu bleiben und ihr zuzuhören.

»Es sind Eure verborgenen Träume, Veronika. Sinnliche Träume, die zu dem wurden, was Ihr heute scheint.«

»Ach komm, meine Liebe. Träume hin oder her. Das muss wehgetan haben.«

»Das ist richtig. Deshalb folgt mir, wenn ich von Euch wegfliege und reagiert auf meine Körpersprache, wenn ich meine Stimme nicht benutze. Dann wird Euch hier in Eurer Traumwelt auch kein Leid zustoßen.«

Mit erhobener Augenbraue wendet sich Veronika kopfschüttelnd ab und läuft ohne Ziel durch den verwünschten Waldzauber. Still und in Gedanken verloren folgt ihre gute Fee ihr auf Schritt und Tritt, bis Veronika ein wohliger Geruch in die Nase steigt.

»Riechst du das? Viel besser, als der Gestank in diesem erbärmlichen Turm. Ich liebe gutes Essen.«

»Mir nach, bitte. Ich zeige Euch, woher das kommt. Ich rieche, so glaubt mir, Dinge aus sehr weiter Ferne.«

Hurtig eilt Veronika der kleinen Fee hinterher und schnuppert der leckeren Mahlzeit entgegen, die irgendwo, dem Anschein nach mit viel Liebe, zubereitet wird. Dabei ist nicht mal ein Zirpen einer Grille in dieser Stille zu hören.

Nur einen Wimpernschlag entfernt zieht Veronika zwei Sträucher auseinander und schielt überglücklich auf eine kleine Feuerstelle, auf der ein köchelnder Römertopf platziert ist.

»Oh, riecht das lecker«, flüstert Veronika besonnen, umgeben von zahlreichen Mammutbäumen, aus dessen Baumkronen das Mondlicht hindurchschimmert. Zusammen wirkt dieses einsame Fleckchen bedrohlich und doch beschützend.

»Wer hat denn solch ein leckeres Mahl erschaffen?«, fragt sich die Fee wissbegierig, wobei sie ganz hibbelig um den Topf herumschwirrt.

Nun ebenfalls von Neugierde gepackt beugt sich Veronika über das dampfende Gericht, welches sich zu ihrer Freude als Gumbo erweist. Bis aus heiterem Himmel ein Frosch aus dem Gebüsch springt und mit greller, weiblicher Stimme Veronika und Verbena vom Topf wegscheucht.

»Weg da, weg da. Es ist noch nicht fertig«, verlangt das kleine Tier, ganz angespannt, nach Geduld. Voller Schrecken lässt sich Veronika auf einen naheliegenden Baumstamm nieder und schaut mit kritischem Auge dem weiblichen Frosch zu, wie er weitere Zutaten ins Gumbo hinzugibt.

»Darf verköstigt werden, wenn Euer Mahl vollkommen ist?«, erfragt Verbena respektvoll und traut sich anschließend wieder näher heran.

»Selbstverständlich. Ich freue mich, nicht alleine speisen zu müssen. Selbstverständlich, dürft ihr nun mein ausgezeichnetes Eintopfgericht kosten. Nehmt euch hier eine Schale weg und füllt sie beherzt.«

»Darauf habe ich gewartet«, freut sich Veronika über diese herzliche Einladung und reißt als Erste den Schöpflöffel an sich.

»Glaubt mir, liebe Gäste, hier im Waldzauber war es schon sehr, sehr, ich meine wirklich, sehr lange ruhig. Und ich spürte sofort, dass ich nicht mehr alleine bin. Lasst es euch schmecken.«

»Sag meine Liebe, wie darf ich dich nennen? Ich bin Veronika und das ist irgend ´ne gute Fee.«

»Froggy. Nennt mich einfach Froggy.«

Wohlbehütet nimmt Veronika die leckere Mahlzeit zu Herzen, bedankt sich dabei sichtlich berührt und schlürft ihr Gumbo vom Löffel herunter. Da Froggy zu gerne die Meinung zu ihrem Gericht erfahren möchte, wartet sie voller Sehnsucht auf eine Reaktion. Dies geschieht im Anschluss auch relativ schnell mit einem Lob von Veronika.

»Mmh«, lechzt Verbena den Geschmacksstoffen hinterher, woraufhin Froggy jedoch die Schultern fallen lässt und den Kopf schüttelt.

»Ihr lügt mich an, es kann gar nicht so gut schmecken, da mir die beste Zutat ausgegangen ist.«

»Nein«, stoppt Veronika die aufsteigende Depression des Frosches.

»Du hast recht, es fehlt eine Zutat. Es fehlen nämlich noch genau zwei Löffel Tabasco. Aber glaube mir, meine Liebe, ich kann ihn mir trotzdem sehr gut darin vorstellen und deshalb, deshalb schmeckt mir dein Gericht trotzdem.«

»Ja genau. Woher wusstest du, dass diese Zutat fehlt? Ich mag Personen mit gutem Geschmackssinn.«

»Mein Mann und ich waren Genießer. Ich hätte ihn niemals glücklich machen können, wenn ich ihm kein zauberhaftes Essen vor die Nase hätte stellen können. Glaub mir das, meine Liebe.«

»Bei meinem Prinzen und mir war es ähnlich. Nur wurde er leider, wirklich leider, echt schnell vom Rotschopf erwischt. Sie hat ihn aufgespießt, gebraten und danach gefressen.«

»In der Tat? Euer Froschprinz wurde verspeist?«

»Wir sind hier alle auf uns alleine gestellt, verstehst du, irgend ´ne gute Fee? In dieser Zeitenwende hat jeder Hunger, solch einen Hunger. Großen, großen, sehr großen Hunger. Da werden selbst die Guten zu den Bösen. Und warum nicht einen Froschschenkel zum Frühstück? Ich vermisse ihn sehr, so sehr. Ich vermisse ihn unendlich. Aber ich musste mit seinem Tod abschließen und an morgen denken. Ich gebe nie die Hoffnung auf, dass irgendwann mein Fluch gebrochen wird und ich als Mensch nach Hause zurückkehren darf.«

»Wie Makaber«, gibt Veronika verblüfft von sich und schaut dabei grübelnd auf den Zauberstab der guten Fee.

»Hey Verbena, meine Liebe. Kannst du Froggy nicht zurück in einen Menschen verwandeln?«

»Entschuldigt bitte, das wäre zu einfach. Nein.«

»Und wenn ich ihn mir kurz ausleihe und Froggy zurück in einen Menschen verwandle? Oder braucht man fürs Zaubern eine Ausbildung?«

»Nein, ausgeschlossen. Nie und nimmer. Unmöglich. Der eigene Zauberstab in den Händen einer anderen Person. Schlimmen Schaden kann es anrichten. Unvorhersehbaren Schaden.«

»Alles klar«, verdreht Veronika die Augen und genießt weiterhin das köstliche Gumbo.

»Wo ist denn dein Mann, wie habt ihr euch denn kennengelernt?«, beginnt Froggy ein neues Thema, während sie ihre Schüssel erneut füllt.

»Oh Froggy, so gute Freundinnen sind wir dann doch nicht.«

»Oh, wie schade. Sehr schade. Außerordentlich schade.«

»Nur gut, dass ich an Eurer Seite bin«, unterbricht Verbena Froggys Melancholie, indem sie mit ihrem Zauberstab zum Nachthimmel zeigt.

»Woher willst du denn bitte wissen, wie ich meinen Mann kennengelernt habe?«, fragt Veronika spöttisch dazwischen.

»Oh, wir verweilen hier in Eurer Traumwelt und ich bin Eure gute Fee, seit Anbeginn der Zeit. So schenkt mir nun Eure Aufmerksamkeit.«

Mit wachen Sinnen zaubert Verbena Sternbilder an den dunklen Horizont, begleitet werden sie mit einer dazugehörigen Geschichte.

»Es war einmal ein Märchen, geschrieben von der Zeit, als eine schöne Frau, namens Veronika, stets unterwegs war das Glück in ihr zu suchen. Bis es ihr einst an einem Oktobertag unverhofft begegnete. Ein Mann, als schreckliches Biest verkleidet, stahl das Herz dieser schönen Frau. Und weil sie in einem goldenen, zerlumpten Ballkleid seine Aufmerksamkeit ganz erhielt, tanzten sie und das Biest durch eine Nacht voll Zauber.«

 

»Unser erster Tanz, es war traumhaft«, schwelgt Veronika in Erinnerungen und verliert sich dabei voller Sehnsucht in dem Sternbild, mit dem sie und ihr Mann tanzend dargestellt werden.

»Eigentlich war es eine Halloweenparty, treu dem Motto: Märchenklassiker. Es liefen zig schöne Frauen herum und tausende, die sich als grässliches Biest verkleidet hatten. Aber wir zwei, wir sahen nur uns. Ich rieche jetzt noch sein Parfüm, das sich um mich legte, als wir gemeinsam eng umschlungen auf der Tanzfläche tanzten. Wir waren zum Schluss der Hingucker schlechthin. Mein Mann und ich, in den ersten Stunden unserer Begegnung. Bis heute verstehe ich nicht, wie man sich in jemanden so schnell verlieren kann, obwohl man noch nicht mal wusste, wer sich hinter dem Kostüm verbarg. Doch in dem Moment waren seine Augen so faszinierend, seine Stimme so wohltuend. Es war schön. Aber es war einmal.«

»Ist er auch tot, wie mein Prinz?«, fragt Froggy zu Tränen gerührt.

»Themawechsel.«

Abrupt überspielt Veronika mit einem Lächeln diese traurige Angelegenheit und schlürft ihre Schüssel leer.

»Seit dem Tod deines Mannes hast du niemandem mehr dein Gourmet-Essen hingestellt, nicht wahr, Veronika? Nicht wahr, nicht?«

»Niemals würde ich einem anderen Mann das Essen so servieren, wie es mein Mann bekommen hat. Ich wage es mir nicht mal auszumalen und nun ist Schluss mit diesem Thema. Okay, meine Liebe?«

»Ich wollte nicht zu Nahe treten, ich bitte um Verzeihung«, schämt sich Froggy und senkt dabei betreten ihren Blick nach unten.

Kurz darauf streift plötzlich ein spitzer Pfeil Veronikas Oberarm und bleibt im Baum dahinter stecken.

»Der Rotschopf! Oh nein, oh nein«, schreit Froggy völlig entsetzt auf, woraufhin Verbena zu einer sehr dürren Bogenschützin schaut, die zitternd und sichtlich erschöpft Pfeil und Bogen auf die Truppe richtet.

»Rennt Veronika!«, befiehlt die gute Fee hektisch, bis sie im nächsten Atemzug erkennt, dass Veronika bereits die Flucht ergriffen hat.

»Stehen bleiben! Ich habe Bärenhunger!«, brüllt die Rothaarige gierig, wobei sie über den leeren Römertopf hinwegfällt. Froggy ist derweil im nächsten Gebüsch verschwunden.

Im Zick-Zack durch den dichten Waldzauber rennend, überquert Veronika Stein und Ast, begleitet vom pochenden Schmerz in ihrem Oberarm, der sie an den Streifschuss erinnert.

»Was ist nur aus den Märchenfiguren geworden? Die sind doch in Filmen alle nett«, ruft Veronika immer noch flüchtend Verbena hinterher, die ihr mittlerweile dicht an den Fersen ist.

Von erneutem Gebrüll der Bogenschützin untermalen, schießen mehrere Pfeile surrend an Veronika vorbei und finden Halt in den Bäumen rechts und links von ihr.

Veronika ist so in Panik versetzt, dass ihr der Schweiß in kleinen Rinnsalen das gerötete Gesicht herunterläuft. Keine zwei Minuten später erreicht sie das Territorium eines ausgestorbenen Volkes.

»Wohin? Wo lang?«, fragt sich Veronika sichtlich angespannt, in dieser gefährlichen Lage befindend, bis sie von der einen auf die andere Sekunde, ihr linkes Ohrläppchen durch einen weiteren Pfeil verliert.

Schmerzerfüllt rennt sie ohne Ziel an leeren Zelten vorbei, deren Planen vom turbulenten Nachtwind in Bewegung gesetzt werden.

»Hier entlang, Veronika«, stupst die kleine Fee sie auf den passenden Weg, nachdem der dumpfe, unverkennbare Laut der großen Glocke zu hören ist, die sich über dem geöffnetem Tor befindet. Dahinter ist ein treibendes Piratenschiff auf dem Märchensee, am Rande des Strandes, zu erkennen, welches hell mit Fackeln beleuchtet wird.

»Meinen Abendschmaus lass ich mir nicht nehmen, ich kriege euch noch in meine Schüssel«, posaunt die geschwächte Rothaarige und bleibt darauffolgend auf ihren zittrigen dünnen Beinen stehen. Sie spannt mit letzter Kraft Pfeil und Bogen.

Diese überaus boshafte Bemerkung erreicht Veronikas Ohren, weshalb sie vor Angst, um ihr letztes Ohrläppchen, ihrer guten Fee den Zauberstab aus der Hand reißt. In der Hoffnung, es würde sie kein Pfeil mehr treffen, eilt Veronika durch das geöffnete Tor und schwingt den Zauberstab über sich. Verbena schaut derweil verstört dieser Tat unweigerlich zu.

»Jetzt habe ich euch im Visier«, knirscht die Feindin mit ihren Zähnen und erkennt daraufhin, wie die Glocke durch Veronikas Zauberstrahl hinabfällt und den davor abgeschossenen Pfeil abwehrt.

Ihrem Glück zugunsten bewegen sich Veronika und ihre zutiefst empörte Fee schleunigst auf das Schiff, wo sie bemerken, dass urplötzlich die gesamten Baumkronen erzittern.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragt Verbena völlig erschüttert, um daraufhin, mit verwunderten Augen, auf dem menschenleeren Schiffsdeck Zeuge vom Verfall des Waldzaubers zu werden.

»Ich sagte doch, die Glocke sei das Herz des Waldzaubers.«

»Ich würde mal behaupten, dass mir mein Herz viel lieber ist«, antwortet Veronika heilfroh, während das Piratenschiff wie von Geisterhand ablegt.

Geschockt darf weiterhin zugesehen werden, wie die Bäume ineinanderfallen und nur noch Sekunden später aus dem erschütternden Chaos eine moosbedeckte Sumpflandschaft übrig bleibt. Alles Leben scheint erstickt zu sein.

»Upsi«, verteidigt sich Veronika schelmisch beim Anblick dieser Tragödie.

»Veronika, gebt mir bitte einfach meinen Zauberstab zurück!«

Doch nun bemerkt Veronika, dass sie außer den Handspiegel in ihrer Hosentasche, nichts anderes mehr am Leibe trägt, weshalb ihr die Frage aufkommt, wo der Zauberstab denn verloren ging.

»Ich bitte Euch Veronika, nicht zu scherzen. Das ist kein passender Zeitpunkt dafür.«

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