Die Schwelle der geistigen Welt – Aphoristische Ausführungen

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LUNATA

Die Schwelle der geistigen Welt

Die Schwelle der geistigen Welt

Aphoristische Ausführungen

© 1913 by Rudolf Steiner

Umschlagbild: Wandtafelzeichnung von Rudolf Steiner

© 2020 Lunata Berlin

Inhalt

Einleitende Bemerkungen

Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann und vom Wesen der denkenden Seele. Vom Meditieren

Von dem Erkennen der geistigen Welt

Von dem ätherischen Leib des Menschen und von der elementarischen Welt

Zusammenfassung des Vorangehenden

Von den wiederholten Erdenleben und vom Karma. Von dem astralischen Leib des Menschen und von der geistigen Welt. Von ahrimanischen Wesenheiten

Von dem astralischen Leibe und von luziferischen Wesenheiten – Von dem Wesen des ätherischen Leibes

Zusammenfassung des Vorangehenden

Von dem »Hüter der Schwelle« und einigen Eigenheiten des übersinnlichen Bewusstseins

Von dem Ich-Gefühl und von der Liebefähigkeit der menschlichen Seele und deren Verhältnissen zur elementarischen Welt

Von der Grenze zwischen der Sinnenwelt und den übersinnlichen Welten

Von Wesen der Geistwelten

Von geistigen Weltwesenheiten

Von der ersten Anlage des physischen Menschenleibes

Von dem »wahren Ich« des Menschen

Zusammenfassung des Vorangehenden

Bemerkungen über das Verhältnis des in dieser Schrift Geschilderten zu der Darstellung in meiner »Theosophie« und »Geheimwissenschaft«

Über den Autor

Einleitende Bemerkungen

In dieser Schrift werden in aphoristischer Form einige Schilderungen gegeben derjenigen Teile der Welt und der menschlichen Wesenheit, die geschaut werden, wenn die geistige Erkenntnis die Grenze überschreitet, welche Sinneswelt von Geisteswelt trennt. Es ist weder eine systematische Darstellung noch in irgendeiner Beziehung Vollständigkeit angestrebt, sondern es sind in freier Art einige Beschreibungen versucht von geistigen Erlebnissen. In dieser Beziehung soll auch diese Schrift, wie die im vorigen Jahre veröffentlichte »Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen« meine anderen Schriften ergänzen und erweitern. Doch ist auch hier versucht, die Darstellung so zu geben, dass die Schrift für sich selbst, ohne die Kenntnis der andern, gelesen werden kann.

Derjenige, welcher in die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft wahrhaft eindringen will, wird die Notwendigkeit empfinden, das geistige Gebiet des Lebens von immer neuen Seiten betrachten zu können.

Es ist ja nur naturgemäß, dass jeder solchen Darstellung eine Einseitigkeit anhaftet. Es muss bei Schilderungen des geistigen Gebietes dies viel mehr eintreten als bei solchen der Sinneswelt. Daher kann es dem nicht wahrhaft ernst zu tun sein um geistige Erkenntnis, der sich mit einer einmal hingenommenen Darstellung zufrieden gibt. Ich möchte mit solchen Schriften, wie diese eine ist, demjenigen dienen, welcher es in der angedeuteten Art ernst meint mit seinem Suchen nach Erkenntnis der geistigen Welt. Deshalb versuche ich, geistige Tatsachen, welche ich in meinen Schriften von gewissen Gesichtspunkten aus geschildert habe, von anderen Gesichtspunkten aus immer wieder darzustellen.

Solche Darstellungen ergänzen sich gegenseitig wie Bildaufnahmen von einer Person oder einem Vorgang, die von verschiedenen Punkten aus gemacht werden.

Man hat bei jeder solchen Schilderung, die von einem gewissen Gesichtspunkte aus gemacht wird, Gelegenheit, Erkenntnisse auszusprechen, welche von einem anderen Gesichtspunkte aus sich nicht ergeben. Für denjenigen, welcher selbst die Geistesschau sucht, bieten sich auch in dieser Schrift wieder Anhaltspunkte für Meditationsstoffe. Man wird das bemerken, wenn man diese Anhaltspunkte sucht, um sie in entsprechender Art im seelischen Leben anzuwenden.

München, im August 1913

Rudolf Steiner

Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann und vom Wesen der denkenden Seele. Vom Meditieren

Das menschliche Denken ist für das wache Tagesbewusstsein wie eine Insel inmitten der Fluten des in Eindrücken, Empfindungen, Gefühlen usw. verlaufenden Seelenlebens. Man ist bis zu einem gewissen Grade mit einem Eindruck, mit einer Empfindung fertig geworden, wenn man sie begriffen, das heißt, wenn man einen Gedanken gefasst hat, der den Eindruck, die Empfindung beleuchtet. Selbst im Sturm der Leidenschaften und Affekte kann eine gewisse Ruhe eintreten, wenn sich das Seelenschiff bis zu der Insel des Denkens hingearbeitet hat.

Die Seele hat ein natürliches Vertrauen zu dem Denken. Sie fühlt, dass sie alle Sicherheit im Leben verlieren müsste, wenn sie dieses Vertrauen nicht haben könnte. Das gesunde Seelenleben hört auf, wenn der Zweifel an dem Denken beginnt. Kann man über irgend etwas im Denken nicht ins klare kommen, so muss man den Trost haben können, dass die Klarheit sich ergeben würde, wenn man sich nur zur genügenden Kraft und Schärfe des Denkens aufraffen könnte. Über das eigene Unvermögen, etwas durch Denken zur Klarheit zu bringen, kann man sich beruhigen; nicht aber kann man den Gedanken ertragen, dass das Denken selbst nicht Befriedigung bringen könnte, wenn man in sein Gebiet so eindringen würde, wie es für eine bestimmte Lebenslage zur Erlangung des vollen Lichtes notwendig ist.

Diese Stimmung der Seele gegenüber dem Denken liegt allem Erkenntnisstreben der Menschheit zugrunde. Sie kann durch bestimmte Seelenverfassungen abgedämpft sein; im dunklen Fühlen der Seelen wird sie stets nachweisbar sein. Diejenigen Denker, welche an der Gültigkeit und Kraft des Denkens selbst zweifeln, täuschen sich über die Grundstimmung ihrer Seele. Denn es ist doch eigentlich ihre Denkschärfe oft, welche durch eine gewisse Überspannung ihnen die Zweifel und Rätsel bildet.

Vertrauten sie dem Denken wirklich nicht, so zerquälten sie sich nicht mit diesen Zweifeln und Rätseln, welche doch nur die Ergebnisse des Denkens sind.

Wer das hier angedeutete Gefühl in Bezug auf das Denken in sich entwickelt, der empfindet in diesem nicht allein etwas, das er in sich als Kraft der menschlichen Seele ausbildet, sondern auch etwas, das ganz unabhängig von ihm und seiner Seele eine Welt-Wesenheit in sich trägt. Eine Welt-Wesenheit, zu welcher er sich hindurcharbeiten muss, wenn er in etwas leben will, das zugleich ihm und der von ihm unabhängigen Welt angehört.

Dem Gedanken-Leben sich hingeben zu können, hat etwas tief Beruhigendes. Die Seele fühlt, dass sie in diesem Leben von sich selbst loskommen kann. Dieses Gefühl aber braucht die Seele ebenso wie das entgegengesetzte, dasjenige des völlig In-sich-selbst-sein-Könnens. In beiden Gefühlen liegt der ihr notwendige Pendelschlag ihres gesunden Lebens. Im Grunde sind Wachen und Schlafen nur die extremsten Ausdrücke dieses Pendelschlages. Im Wachen ist die Seele in sich, lebt ihr Eigenleben; im Schlafe verliert sie sich an das allgemeine Welt-Erleben, ist also gewissermaßen von sich selbst losgelöst.

Beide Ausschläge des Seelenpendels zeigen sich durch verschiedene andere Zustände des inneren Erlebens. Und das Leben in Gedanken ist ein Loskommen der Seele von sich selbst, wie das Fühlen, Empfinden, Affektleben usw. ein In-sich-selbst-Sein sind.

So angesehen, bietet das Denken der Seele den Trost, den sie braucht gegenüber dem Gefühl des Verlassenseins von der Welt. Man kann in berechtigter Art zu der Empfindung kommen: Was bin ich in dem Strome des allgemeinen Weltgeschehens, der von Unendlichkeit zu Unendlichkeit läuft, mit meinem Fühlen, mit meinem Wünschen und Wollen, die doch nur für mich Bedeutung haben? Sobald man das Leben in Gedanken recht erfühlt hat, stellt man dieser Empfindung die andere entgegen: Das Denken, das mit diesem Weltgeschehen zu tun hat, nimmt dich mit deiner Seele auf; du lebst in diesem Geschehen, wenn du sein Wesen denkend in dich fließen lässt. Man kann sich dann von der Welt aufgenommen, in ihr gerechtfertigt fühlen. Aus dieser Stimmung der Seele folgt dann für diese eine Stärkung, die sie so empfindet, als ob sie ihr von den Weltmächten selbst nach weisen Gesetzen zugekommen wäre.

Von dieser Empfindung ist es dann nicht mehr weit zu dem Schritte, nach welchem die Seele sagt: Nicht ich denke bloß, sondern es denkt in mir; es spricht das Weltenwerden in mir sich aus; meine Seele bietet bloß den Schauplatz, auf dem sich die Welt als Gedanke auslebt.

 

Diese Empfindung kann von dieser oder jener Philosophie zurückgewiesen werden. Es kann mit den mannigfaltigsten Gründen scheinbar ganz einleuchtend gemacht werden, dass der eben ausgesprochene Gedanke von dem »Sich-Denken der Welt in der menschlichen Seele« völlig irrtümlich sei.

Demgegenüber muss erkannt werden, dass dieser Gedanke ein solcher ist, der durch inneres Erleben erarbeitet wird. Erst wer ihn so erarbeitet hat, versteht seine Gültigkeit völlig und weiß, dass alle »Widerlegungen« an seiner Gültigkeit nicht rütteln können. Wer ihn sich erarbeitet hat, der sieht gerade an ihm ganz klar, was viele »Widerlegungen« und »Beweise« in Wahrheit wert sind. Sie scheinen oft recht untrüglich, solange man von der Beweiskraft ihres Inhaltes noch eine irrtümliche Vorstellung haben kann.

Es ist dann schwer, sich mit Menschen zu verständigen, welche solche »Beweise« für sich maßgeblich finden. Diese müssen den anderen im Irrtum glauben, weil sie die innere Arbeit in sich noch nicht geleistet haben, welche ihn zur Anerkennung dessen gebracht hat, was ihnen irrtümlich, vielleicht sogar töricht vorkommt.

Für denjenigen, welcher sich in die Geisteswissenschaft finden will, sind Meditationen von Nutzen wie die eben über das Denken vorgebrachte. Für einen solchen handelt es sich doch darum, dass er seine Seele in eine Verfassung bringe, die ihr den Zugang in die geistige Welt öffnet. Dieser Zugang kann dem scharfsinnigsten Denken, kann der vollendetsten Wissenschaftlichkeit verschlossen bleiben, wenn die Seele nichts den geistigen Tatsachen oder ihrer Mitteilung entgegenbringt, die auf sie eindringen wollen. –

Es kann eine gute Vorbereitung für das Erfassen der geistigen Erkenntnis sein, wenn man öfters gefühlt hat, welche Stärkung in der Seelenstimmung liegt: »Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens.« – Es kommt dabei viel weniger auf den abstrakten Erkenntniswert dieses Gedankens an, als vielmehr darauf, in der Seele oft die stärkende Wirkung empfunden zu haben, die man erlebt, wenn ein solcher Gedanke kraftvoll durch das Innenleben strömt, wenn er sich wie geistige Lebensluft im Seelenleben ausbreitet. Es handelt sich nicht allein um das Erkennen dessen, was in einem solchen Gedanken liegt, sondern um das Erleben. Erkannt ist er, wenn er einmal mit genügender Überzeugungskraft in der Seele gegenwärtig war; soll er Früchte zeitigen für das Verständnis der geistigen Welt, ihrer Wesenheiten und Tatsachen, so muss er, nachdem er verstanden ist, in der Seele immer wieder belebt werden. Die Seele muss sich immer wieder ganz von ihm erfüllen, nur ihn in ihr anwesend sein lassen, mit Ausschluss aller anderen Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen usw. – Ein solches wiederholtes Sich-Konzentrieren auf einen volldurchdrungenen Gedanken zieht Kräfte in der Seele zusammen, die im gewöhnlichen Leben gewissermaßen zerstreut sind; sie verstärkt sie in sich selbst.

Diese zusammengezogenen Kräfte werden zu den Wahrnehmungsorganen für die geistige Welt und ihre Wahrheiten.

Man kann an dem Angedeuteten den rechten Vorgang des Meditierens erkennen. Erst arbeitet man sich zu einem Gedanken durch, den man einsehen kann mit den Mitteln, welche das gewöhnliche Leben und Erkennen an die Hand geben. Dann versenkt man sich wiederholt in diesen Gedanken, macht sich ganz eins mit ihm. Die Stärkung der Seele kommt durch das Leben mit einem solchen erkannten Gedanken. – Hier wurde als Beispiel ein Gedanke gewählt, der aus der Natur des Denkens selbst genommen ist. Er wurde als Beispiel gewählt, weil er für das Meditieren ganz besonders fruchtbar ist.

Doch gilt in Bezug auf die Meditation das hier Gesagte von jedem Gedanken, der auf die beschriebene Art gewonnen ist. – Für den Meditierenden ist es nur ganz besonders fruchtbar, wenn er die Seelenstimmung kennt, die aus dem oben angedeuteten Pendelschlag des Seelenlebens sich ergibt. Er kommt dadurch am sichersten zu dem Gefühle, in seiner Meditation von der geistigen Welt unmittelbar berührt worden zu sein.

Und dies Gefühl ist ein gesundes Ergebnis der Meditation. – Es sollte dies Gefühl seine Kraft ausstrahlen auf den Inhalt des ganzen übrigen wachen Tageslebens. Und zwar nicht so, dass stets etwas da ist, wie ein gegenwärtiger Eindruck der Meditationsstimmung, sondern in der Art, dass man sich stets sagen kann, es fließe in das ganze Leben eine Stärkung durch das Meditationserlebnis. Wenn die Meditationsstimmung wie ein immer gegenwärtiger Eindruck durch das Tagesleben zieht, so gießt sie nämlich über dasselbe etwas aus, was die Unbefangenheit dieses Lebens stört. Sie wird dann in den Zeiten der Meditation selbst nicht genug stark und nicht genug rein sein können. Die rechten Früchte zeitigt die Meditation eben dadurch, dass sie sich mit ihrer Stimmung heraushebt aus dem übrigen Leben.

Auf dieses wirkt sie auch dann am besten, wenn sie als etwas Besonderes, Herausgehobenes empfunden wird.

Von dem Erkennen der geistigen Welt

Die Einsicht in die Ergebnisse der Geisteswissenschaft wird erleichtert, wenn man im gewöhnlichen Seelenleben dasjenige ins Auge fasst, was Begriffe gibt, die sich so erweitern und umbilden lassen, dass sie allmählich an die Vorgänge und Wesenheiten der geistigen Welt heranreichen. Wählt man nicht mit Geduld diesen Weg, so wird man leicht versucht sein, die geistige Welt viel zu ähnlich der physischen oder sinnlichen vorzustellen. Ja man wird ohne diesen Weg nicht einmal dies zustande bringen, eine zutreffende Vorstellung von dem Geistigen selbst und seinem Verhältnisse zum Menschen sich zu bilden.

Die geistigen Ereignisse und Wesenheiten dringen an den Menschen heran, wenn er seine Seele dazu bereitet hat, sie wahrzunehmen. Die Art, wie sie herandringen, ist durchaus verschieden von dem Auftreten physischer Tatsachen und Wesenheiten. Man kann aber eine Vorstellung von diesem ganz andersartigen Auftreten gewinnen, wenn man den Vorgang der Erinnerung sich vor die Seele stellt.

Man hat vor mehr oder weniger langer Zeit etwas erlebt. Es taucht in einem bestimmten Augenblicke – durch diesen oder jenen Anlass – aus dem Untergrunde des Seelen-Erlebens herauf. Man weiß, dass das so Aufgetauchte einem Erlebnis entspricht; und man bezieht es auf dieses Erlebnis. In dem Augenblick der Erinnerung hat man aber gegenwärtig von dem Erlebnis nichts anderes als das Erinnerungsbild. – Man denke sich nun in der Seele auftauchend ein Bild in solcher Art, wie ein Erinnerungsbild ist, doch so, dass dies Bild nicht etwas vorher Erlebtes, sondern etwas der Seele Fremdes ausdrückt. Man hat sich damit eine Vorstellung davon gebildet, wie in der Seele die geistige Welt zunächst auftritt, wenn diese Seele genügend dazu vorbereitet ist.

Weil dies so ist, wird derjenige, welcher mit den Verhältnissen der geistigen Welt nicht genügend vertraut ist, stets mit dem Einwand herantreten, dass alle »vermeintlichen« geistigen Erlebnisse nichts weiter seien als mehr oder weniger undeutliche Erinnerungsbilder, welche die Seele nur nicht als solche erkennt und sie daher für Offenbarungen einer geistigen Welt halten kann. Nun soll durchaus nicht geleugnet werden, dass die Unterscheidung von Illusionen und Wirklichkeiten auf diesem Gebiete eine schwierige ist. Viele Menschen, welche glauben, Wahrnehmungen aus einer übersinnlichen Welt zu haben, sind ja gewiss nur mit ihren Erinnerungsbildern beschäftigt, die sie nur nicht als solche erkennen. Um hier ganz klar zu sehen, muss man von vielem unterrichtet sein, was Quell von Illusionen werden kann. Man braucht zum Beispiel etwas nur einmal flüchtig gesehen zu haben, so flüchtig, dass der Eindruck gar nicht in das Bewusstsein voll eingedrungen ist; und es kann später – vielleicht sogar ganz verändert – als lebhaftes Bild auftreten. Man wird versichern, dass man mit der Sache niemals etwas zu tun gehabt habe, dass man eine wirkliche Eingebung habe.

Dies und vieles andere lässt durchaus begreiflich erscheinen, dass die Angaben des übersinnlichen Schauens denjenigen höchst fragwürdig erscheinen, welche mit der Eigenart der Geisteswissenschaft nicht vertraut sind. – Wer sorgfältig alles beachtet, was in meiner Schrift »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« über die Heranbildung des geistigen Schauens gesagt ist, der wird wohl in die Möglichkeit versetzt, auf diesem Gebiete Illusion und Wahrheit zu unterscheiden.

Es darf aber in Bezug darauf auch noch das folgende gesagt werden. Die geistigen Erlebnisse treten zunächst allerdings als Bilder auf. Sie steigen aus den Untergründen der dazu vorbereiteten Seele als solche Bilder herauf. Es kommt nun darauf an, zu diesen Bildern das richtige Verhältnis zu gewinnen.

Sie haben Wert für die übersinnliche Wahrnehmung erst dann, wenn sie durch die ganze Art, wie sie sich geben, gar nicht an und für sich selbst genommen sein wollen. Sobald sie so genommen werden, sind sie kaum mehr wert als gewöhnliche Träume. Sie müssen sich so ankündigen wie Buchstaben, die man vor sich hat. Man fasst nicht die Form dieser Buchstaben ins Auge, sondern man liest in den Buchstaben dasjenige, was durch sie ausgedrückt wird. Wie etwas Geschriebenes nicht dazu auffordert, die Buchstabenformen zu beschreiben, so fordern die Bilder, die den Inhalt des übersinnlichen Schauens bilden, nicht dazu auf, sie als solche aufzufassen; sondern sie führen durch sich selbst die Notwendigkeit herbei, von ihrer Bildwesenheit ganz abzusehen und die Seele auf dasjenige hinzulenken, was durch sie als übersinnlicher Vorgang oder Wesenheit zum Ausdruck gelangt.

So wenig jemand den Einwand machen kann, dass ein Brief, durch den man etwas vorher völlig Unbekanntes erfährt, sich doch nur aus den längst bekannten Buchstaben zusammensetzt, so wenig kann den Bildern des übersinnlichen Bewusstseins gegenüber gesagt werden, dass sie doch nur dasjenige enthalten, was dem gewöhnlichen Leben entlehnt ist. – Dies ist gewiss bis zu einem gewissen Grade richtig. Doch kommt es dem wirklichen übersinnlichen Bewusstsein nicht auf das an, was so dem gewöhnlichen Leben entlehnt ist, sondern darauf, was in den Bildern sich ausdrückt.

Zunächst muss sich die Seele allerdings bereit machen, solche Bilder im geistigen Blickekreis auftreten zu sehen; dazu aber muss sie auch sorgfältig das Gefühl ausbilden, bei diesen Bildern nicht stehen zu bleiben, sondern sie in der rechten Art auf die übersinnliche Welt zu beziehen. Man kann durchaus sagen, zur wahren übersinnlichen Anschauung gehört nicht nur die Fähigkeit, in sich eine Bilderwelt zu erschauen, sondern noch eine andere, welche sich mit dem Lesen in der sinnlichen Welt vergleichen lässt.

Die übersinnliche Welt ist zunächst als etwas ganz außer dem gewöhnlichen Bewusstsein Liegendes vorzustellen. Dieses Bewusstsein hat gar nichts, wodurch es an diese Welt herandringen kann.

Durch die in der Meditation verstärkten Kräfte des Seelenlebens wird zuerst eine Berührung der Seele mit der übersinnlichen Welt geschaffen. Dadurch tauchen aus den Fluten des Seelenlebens die gekennzeichneten Bilder herauf. Diese sind als solche ein Tableau, das eigentlich ganz von der Seele selbst gewoben wird. Und zwar wird es gewoben aus den Kräften, welche sich die Seele in der sinnlichen Welt erworben hat. Es enthält als Bildgewebe wirklich nichts anderes, als was sich mit Erinnerung vergleichen lässt. – Je mehr man sich für das Verständnis des hellsichtigen Bewusstseins dieses klar macht, desto besser ist es. Man wird sich dann über die Bildnatur keiner Illusion hingeben. Und man wird dadurch auch ein rechtes Gefühl dafür ausbilden, in welcher Art man die Bilder auf die übersinnliche Welt zu beziehen hat. Man wird durch die Bilder in der übersinnlichen Welt lesen lernen. – Durch die Eindrücke der sinnlichen Welt steht man den Wesen und Vorgängen dieser Welt naturgemäß weit näher als durch die übersinnlich geschauten Bilder der übersinnlichen Welt. Man könnte sogar sagen, diese Bilder seien zunächst wie ein Vorhang, welchen sich die Seele vor die übersinnliche Welt hinstellt, wenn sie sich von derselben berührt fühlt.

Es kommt darauf an, dass man sich in die Art des Erlebens übersinnlicher Dinge allmählich hineinfindet. Im Erleben ergibt sich nach und nach die sachgemäße Deutung, das richtige Lesen. Für bedeutsamere übersinnliche Erlebnisse wird sich durch das Geschaute von selbst ergeben, dass man es mit keinen Erinnerungsbildern aus dem gewöhnlichen Erleben zu tun haben kann. Es wird ja allerdings von solchen, welche sich eine Überzeugung von gewissen übersinnlichen Erkenntnissen angeeignet haben, oder wenigstens angeeignet zu haben glauben, viel Ungereimtes auf diesem Felde behauptet. Wie viele Menschen beziehen doch gewisse Bilder, welche in ihrer Seele auftreten, auf Erlebnisse früheren Erdenseins, wenn sie von den wiederholten Erdenleben überzeugt sind. Man sollte stets misstrauisch sein, wenn diese Bildet auf solche vorhergehende Erdenleben hinzuweisen scheinen, welche dem gegenwärtigen in dieser oder jener Beziehung ähnlich sind, oder welche sich so zeigen, dass das gegenwärtige sich verstandesgemäß aus den vermeintlichen früheren leicht begreifen lässt. Wenn im wirklichen übersinnlichen Erleben der wahre Eindruck des oder der vorigen Erdenleben auftritt, so zeigt sich wohl zumeist, dass dieses oder diese früheren Leben so waren, wie man sie durch alles Ausdenken des gegenwärtigen, durch alles Wünschen und Streben für dieses, hätte niemals gestalten können, oder gedanklich gestalten wollen. Man wird zum Beispiel in einem Augenblicke des gegenwärtigen Lebens den Eindruck von seinem vorigen Erdensein empfangen, in welchem es ganz unmöglich ist, Fähigkeiten oder dergleichen sich anzueignen, die man in jenem Leben besessen hat. Weit entfernt, dass für solche bedeutsamere Geisteserlebnisse sich Bilder einstellten, die Erinnerungen aus dem gewöhnlichen Leben sein könnten, sind diese Bilder meist solche, dass man im gewöhnlichen Erleben hätte gar nicht auf sie verfallen können. – Für die wirklichen Eindrücke aus den ganz übersinnlichen Welten ist dies in noch höherem Grade der Fall. So gibt es zum Beispiel oft keine Möglichkeit, Bildet aus dem gewöhnlichen Leben heraus zu gestalten, die sich auf das Dasein zwischen den Erdenleben, also das Leben zwischen dem letzten Tode des Menschen im vorhergehenden Erdenleben und der Geburt in das gegenwärtige, beziehen.

 

Man kann da erfahren, dass man in dem geistigen Leben zu Menschen und Dingen Neigungen entwickelt hat, die in vollem Widerspruch zu dem stehen, was man an entsprechenden Neigungen im Erdenleben entwickelt. Man erkennt, dass man oft im Erdenleben dazu getrieben wurde, sich liebevoll mit etwas zu befassen, das man im vorangegangenen geistigen Leben (zwischen Tod und Geburt) von sich gewiesen, gemieden hat. Alles, was als Erinnerung an diese Sache aus dem gewöhnlichen Erleben auftauchen könnte, müsste anders sein, als der Eindruck ist, den man durch die wirkliche Wahrnehmung aus der geistigen Welt erhält.

Der mit der Geisteswissenschaft nicht Vertraute wird zwar auch selbst dann noch Einwände haben, wenn die Dinge so stehen, wie sie eben geschildert worden sind. Er wird sagen können: nun wohl, du hast eine Sache lieb. Die Menschennatur ist kompliziert. Jeder Neigung ist eine geheime Abneigung beigemischt. Die taucht dir in Bezug auf das betreffende Ding in einem besonderen Augenblicke auf. Du hältst sie für ein vorgeburtliches Erlebnis, während sie sich ganz naturgemäß vielleicht aus unterbewussten seelischen Tatbeständen erklärt. – Gegen einen solchen Einwand ist im allgemeinen gar nichts anderes zu sagen, als dass er für viele Fälle – ganz gewiss richtig sein kann. Die Erkenntnisse des übersinnlichen Bewusstseins sind eben einwandfrei nicht auf leichte Art zu gewinnen. So wahr aber es ist, dass sich ein »vermeintlicher« Geistesforscher irren und einen unterbewussten Tatbestand auf ein Erlebnis des vorgeburtlichen Geisteslebens beziehen kann, so wahr ist es auch, dass die geisteswissenschaftliche Schulung zu einer solchen Selbsterkenntnis führt, die auch die unterbewusste Seelenverfassung umfasst und auch in dieser Beziehung sich von Illusionen befreien kann. Nichts anderes aber soll hier behauptet werden, als dass wahr nur solche übersinnliche Erkenntnisse sind, die in der Tätigkeit des Erkennens das, was aus den übersinnlichen Welten stammt, von dem unterscheiden können, was die eigene Vorstellung nur gebildet hat. Dieses Unterscheidungsvermögen wird aber im Einleben in die übersinnlichen Welten so angeeignet, dass man auf diesem Felde Wahrnehmung von Einbildung so sicher unterscheidet, wie man in der Sinnenwelt heißes Eisen, das man mit dem Finger anfasst, unterscheidet von einem bloß eingebildeten heißen Eisen.

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