Read the book: «The Fulfillment»
The Fulfillment
1 Vorwort
2 Vertrauen
3 Heimat
4 Pläne
5 In der Pathologie
6 Senckenberg
7 Biomedical Informatics
8 Funktionshistologie
9 Die perfekte Ehe
10 Eklat
11 Weihnachtszeit
12 Frühling
13 D.C.
14 Frankfurt
15 Heimkehr
16 Ein Call aus Genf
17 Genève Aéroport
18 Der Pentaquark-Ring
19 Das Lächeln
20 Wooden Dome
21 Die Überraschung
22 Studentenparty
23 Neuigkeiten aus Tel Aviv
24 Goodbye
25 Das Team
26 Tag X
27 Semesterbeginn
28 Der Effekt
29 An Lisa
30 Die Textur
31 Nachricht von Lisa
32 Der Fahrstuhl
33 Notruf
34 Die Bohrung
35 Ein weiterer Rettungsversuch
36 Sein oder Nichtsein
37 Die Schwere der Tage
38 Diskussion
39 Meine Liebe
40 Plaudereien
41 Zweites Staatsexamen
42 In der Neurologie
43 Frankfurter Stadtgeläut
44 Streng geheim
45 Der Aushub
46 Zurück in Frankfurt
47 Die Dissertation
48 Die Diagnose
49 Studienabschluss
50 Promotionsprüfung
51 Sommerurlaub
52 Meine erste Stelle
53 Aller Anfang
54 Ehre
55 Die Erschütterung
56 Sarah Mandelzweig
57 Im Pentaquark-Ring
58 Tel Aviv
59 Das Gespräch
60 Der Rundflug
61 Tagesroutine
62 Lichter am Nachthimmel
63 Der Mann aus dem Himmel
64 Ein Call aus D.C.
65 Dulles International Airport
66 Hoffnung
67 L.A.
68 Die Begegnung
69 Die Nachtmesse
70 Der neue Morgen
71 Nach Norden
72 Amarok
73 Shopping
74 Yosemite
75 Die Suche
76 Auf der Lichtung
77 Hergang
78 Rechtsmedizin
79 Zurück in L.A.
80 Lagebesprechung
81 Der neue Kontakt
82 Zeitabriss
83 Aufklärung
84 Vom Apfelbäumchen
85 Sommerbild
86 Recklinghausen
87 Das Wiedersehen
88 Hochzeit
89 Fünfzehnter Geburtstag
90 Das Signal
91 Verwundert
92 Für Francis
93 Tracking
94 Enttäuschung
95 Für Lars
96 Abschied
97 Monte Verità
98 Bagno Pubblico Ascona
99 Von den Alpen ans Meer
100 Vom Lago Maggiore zum Ticino
101 Nach Mailand
102 Die Fahrt bis Venedig
103 Arrivederci Venedig
104 Begegnung mit den Carabinieri
105 Das Lebenszeichen
106 Vom Innersten der Welt
107 Der Verdacht
108 Alltag
109 Treffen in Mainz
110 Der Anwalt
111 Die neue Stelle
112 Gelsenkirchen
113 Der Auszug
114 Der große Tag
115 Die Geister
116 Entschuldige
117 Bereit
118 Meine Bilanz
119 Noahs Bilanz
120 Jaels Bilanz
121 Über das Sterben
122 Unsere Jungen
123 Die Erfüllung
124 Die Welt steht Kopf
125 Der Lauf
126 Der Kalender
127 Dank
128 Stille
129 Leere
130 Instabilität
131 Trost
132 Alpha und Omega
133 Epilog
134 Impressum
Vorwort
Forscher wollen immer dasselbe: Verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Lisa stellt als zukünftige Ärztin den Menschen in den Mittelpunkt ihres Interesses. Ihr Ehemann Lars hingegen schießt mit seiner Kollegin Jael Rosenberg über das Ziel einer bodenständigen Forschung hinaus. Die beiden entdecken einen Effekt, der den Ursprung der Existenz erklären und gleichzeitig ihr Ende einläuten könnte.
Während Lars und Jael Rosenberg um das nackte Überleben kämpfen, erkundet Lisa das Geheimnis jüdischer Prophezeiungen. Trotz räumlicher und zeitlicher Distanz pflegt Lisa den Kontakt zu Lars. Werden sie gemeinsam einen Weg finden? Wird es ein Wiedersehen geben? Gefahr und Faszination verwickeln den Leser in eine andere Realität.
Schockiert und zugleich gebannt gerät der Leser in eine fiktive Geschichte, die auch Realität werden könnte. Erneut schuf der christliche Autor und Meister des Spannungsaufbaus, Rüdiger Marmulla, einen Thriller, der forschungsethische Fragen aufwirft.
Wie wird eine Geschichte enden, deren Verlauf schon die alttestamentlichen Propheten vorausgesagt haben?
Margit Helten, Karlsruhe im Oktober 2021
Vertrauen
Lieber Lars,
die Landschaft unter uns könnte die Peloponnes sein. Die Umrisse sind recht charakteristisch. Du schläfst. Francis hat auch die Augen geschlossen.
Ich muss Dir sagen, dass ich Deine Begeisterung für die Gegend im Jordangraben nicht teilen konnte. Ich sah es Dir an, dass Dein Herz ganz weit und froh war, weil Dir alles so herrlich schien. Ich sah in Deinen Augen, wie glücklich Du warst. Und ich entdeckte in Deiner Freude eine kindliche Unschuld des Herzens. Da habe ich mich entschlossen, Dir ganz neu zu vertrauen. Wenn Du wach wirst, spätestens wenn wir in Frankfurt ankommen, werde ich Dir meine Entscheidung sagen. Ja. Wir werden wieder zusammen wohnen. Wir machen einen Neuanfang.
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Die Sonne spiegelt sich im Mittelmeer. Im Flugradar sehe ich, dass wir uns Italien nähern. Noch gute zwei Stunden, und wir werden zuhause sein. Ich glaube, ich höre jetzt auf, in unsere Cloud zu schreiben und schließe ebenfalls noch eine Weile meine Augen.
Ich liebe Dich auch, Lars.
Deine Lisa
Heimat
Die Flugbegleiterin greift zum Mikrofon: „Wir sind im Anflug auf den Rhein-Main Airport. Bitte stellen sie ihre Rückenlehne aufrecht und legen sie ihren Sicherheitsgurt an. Das Wetter in Frankfurt ist warm und trocken. Bitte vergessen sie beim Aussteigen nicht ihr Handgepäck. Wir wünschen ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Frankfurt und danken ihnen für den Flug mit Lufthansa.“
Ich rufe kurz meine Nachrichten auf dem Messenger ab. Ich schaue auch noch in die Cloud. Lisa hat etwas in unser Tagebuch geschrieben. Der Eintrag ist vom Freitag, den 23. Oktober 2043. Ach, das ist ja heute Morgen! Ganz frisch. Ich lese es. Wir werden wieder zusammen wohnen. Und sie liebt mich. Besser könnte es nicht sein. Ich schaue zu Lisa rüber. Ich schenke ihr ein breites Lächeln. Und sie nickt mir zu. Ich fühle mich phantastisch. Wir legen alle unsere Sicherheitsgurte an.
Wir sind im Landeanflug. Wir kommen über Osten rein. Da ist das Müllverbrennungswerk in Heusenstamm. Die Autobahn A3 begleitet uns. Der Monte Scherbelino. Gravenbruch. Der freie Platz, wo früher mal ein Autokino war. Neu-Isenburg. Wald. Viel Wald. Wir überqueren die Autobahn A5. Jetzt geht es ganz schnell. Zaun. Luftbrückendenkmal. Landebahn. Touchdown. Die Wasserstoffturbinen gehen sanft in den Umkehrschub.
„Papa, ich will auch einmal Pilot werden.“ Francis schaut mich mit großen Augen an.
„Wir werden heute Nachmittag aus den Kissen auf dem Wohnzimmersofa ein Cockpit bauen. Und dann fliegen wir zwei. Ich werde dein Copilot sein.“
„Au ja, Papa. Und was nehmen wir als Lenkrad?“
Ich überlege. Dann habe ich eine Idee. „Wir nehmen einen Kleiderbügel aus der Garderobe.“
Unser Flugzeug geht am Terminal 3 in die Parkposition. Alle steigen aus. Auch unsere Familie und unsere Freunde, die mit uns nach Israel gereist sind, verlassen den Airbus.
„Wir sehen uns dann am Montag wieder in der Uni, Frau Krönlein.“ Professor Jürgens, Lisas Doktorvater, verabschiedet sich von uns.
Hannah und Johannes machen sich auf den Heimweg nach Heidelberg. Hannah lächelt. „Diese Reise werden wir nie vergessen.“
Lisas Eltern und Heidi nehmen mit uns ein Taxi nach Sachsenhausen. Wir lassen sie zuerst am Deutschherrnufer aussteigen.
Dann geht es zum Sonnenring. Ein gutes Gefühl steigt in mir auf, als Lisa mit dem Keycode die Wohnungstür öffnet. Wieder zuhause. Endlich.
Pläne
„Sag mal, Lars. Was haben eigentlich John und der Dekan vom Virginia Science & Technology Campus in Israel mit dir besprochen?“
„Die beiden wollen, dass ich vorzeitig ein Examen rigorosum ablege.“
„Aber du promovierst doch bislang nicht.“
„Nein, Lisa. Es geht in diesem Rigorosum allein um den Master-Abschluss meines Studiums.“
„Jetzt schon?“
„Ja. Sie planen nach dem Studium irgendetwas mit mir. Aber sie sind da noch nicht mit der Sprache herausgerückt.“
„Und wann soll das Rigorosum stattfinden?“
„Nach dem Abschluss des jetzigen Semesters.“
„Im März kommt unser zweites Kind zur Welt. Es wäre schön, wenn du bei der Geburt wieder dabei bist. Da würde ich mich sicherer fühlen.“
„Ja, Lisa. Das ist klar.“
„Ich habe schon einen Namen.“
„Ja? Sag.“
„Maurice.“
„Denkst du an Maurice Ravel?“
„Ja, Lars. Und ich denke an Daphnis et Chloé, die Suite, die wir immer so gern hören.“
„Und wenn es ein Mädchen wird?“
„Es wird ein Junge, Lars.“
Ich nehme Lisa in die Arme. Zwei Jungen. Das ist wunderbar. Nach einer Weile löse ich mich aus der Umarmung. „Ich bin vom Unterricht bis auf weiteres freigestellt.“
„Du nimmst mit deinem Avatar nicht mehr am Tele-Learning des Virginia Science & Technology Campus teil?“
„Nein. John und Professor Williams haben mir auf meinen Messenger jede Menge Literatur gesandt, die ich das kommende Halbjahr durcharbeiten muss. Es wartet viel an Arbeit auf mich. Ich muss mich jetzt konzentriert auf das Rigorosum vorbereiten.“
„Aber auf dein gutes Essen muss ich in der Zeit nicht verzichten, oder?“
„Nein, Lisa. Um das Essen kümmere ich mich weiterhin. Das Kochen lasse ich mir nicht nehmen. Nur den Einkauf und den übrigen Haushalt würde ich gern Kerstin anvertrauen. Ich denke, das alles kann sie gut bewerkstelligen.“
„Ja. Das verstehe ich. Ich widme mich auch wieder ganz meinem Studium und der Promotion. Gut, dass Maurice in den Semesterferien kommen wird. Und im Sommer nächstes Jahr kommt dann mein Erstes Staatsexamen.“
„Du machst gute Schritte voran. Du wirst eine gute Ärztin werden, Lisa. Ich weiß es.“
„Danke, Lars, dass du an mich glaubst. Das bedeutet mir so viel.“
„Ich weiß, Lisa.“
Francis kommt zu uns ins Wohnzimmer gerannt. Er will mit uns kuscheln. Wir nehmen ihn in unsere Mitte und umarmen ihn gemeinsam.
In der Pathologie
Lieber Lars,
hier in der Pathologie ist alles viel vitaler, viel lebendiger als in der Anatomie. Die Leichen in der Pathologie haben nicht die typische Graufärbung, die vom konservierenden Formaldehyd stammt. Es ist ein komisches Gefühl, Körper vor sich zu haben, in denen vor wenigen Stunden noch das Leben steckte.
Heute nahm ich an meiner ersten Sektion in der Pathologie teil. Im Sektionssaal ist in großen Lettern an die Wand geschrieben „media vita in morte sumus“.
Ich habe das einmal recherchiert. Der Satz bedeutet, dass wir mitten im Leben dem Tod begegnen, und er geht auf einen frühmittelalterlichen gregorianischen Choral zurück. Der komplette Text lautet
Mitten im Leben
sind wir im Tod.
Welchen Helfer suchen wir
als dich, Herr,
der du wegen unserer Sünden
mit Recht zürnst.
Heiliger Gott,
heiliger starker,
heiliger und barmherziger Erlöser:
überlass uns nicht dem bitteren Tod.
Es liegt etwas Geheimnisvolles um das Sterben, und ich kann es nicht ergründen.
Heute lernte ich übrigens, was Senckenberg-Tumore sind. Wenn man die Leiche auf dem Sektionstisch lagert, dann gibt es auf der Unterseite der Leichenhaut Abdrücke von den Abflusslöchern des Sektionstisches. Diese regelmäßigen kreisrunden Aufwölbungen der Haut bezeichnet man als Senckenberg-Tumore. Man sieht sie, wenn man die Leiche auf die Seite dreht. Natürlich sind das keine echten Tumore. Das ist typisch Frankfurter Pathologenhumor.
Als ich heute die Pathologie verließ, fühlte ich mich ganz trist. Gut, dass du zuhause auf mich mit einem wunderbaren Essen gewartet hast. Ja, es ist wahr, während meiner Sektionen und meiner Arbeit als Hilfswissenschaftlerin in der Anatomie schmeckt mir das vegetarische Essen deutlich besser. Das milde gelbe Curry mit Zucchini, Champignons und Basmatireis hat meinen Geschmack heute voll getroffen. Auch die Cashewkerne, mit denen Du die Mahlzeit getoppt hast, waren sehr raffiniert.
Danke, Lars. Ich genieße unsere Zweisamkeit nach dem langen Jahr der Trennung ganz neu.
Senckenberg
„Lisa? Dass die Senckenberg-Tumore keine echten Tumore sind, habe ich ja verstanden. Aber wer oder was ist Senckenberg?“
„Johann Christian Senckenberg lebte im 18. Jahrhundert und wurde ‚Frankfurter Stadtphysicus‘ genannt. Er war Arzt, Naturforscher und Botaniker. Seine Promotion handelte von der Heilkraft der Beeren des Maiglöckchens. Doch sein Privatleben war sehr traurig. Er war dreimal verheiratet, und alle seine Frauen und Kinder waren früh verstorben. Da bildete er mit seinem Vermögen eine Stiftung und widmete sich ganz der Forschung und Stiftungstätigkeit. Der volle Name unseres Anatomischen Instituts lautet ‚Dr. Senckenbergisches Zentrum der Morphologie‘, weil sich die Anatomie früher allein mit der Form der Zellen und Zellverbände beschäftigt hat. Daneben wurden auch ein ‚Dr. Senckenbergisches Zentrum der Pathologie‘ in Frankfurt und ein ‚Dr. Senckenbergisches Institut für Meeresforschung‘ in Wilhelmshaven und in Hamburg gegründet. Die Dr. Senckenbergische Stiftung mit ihren Instituten trug 1914 maßgeblich zur Gründung der Frankfurter Universität bei.“
„Du kennst dich aber gut aus, Lisa.“
„Natürlich. Das muss ich auch, wenn ich in der Anatomie promoviere. Das würde mir Professor Jürgens übelnehmen, wenn ich die Ursprünge unseres Instituts nicht kennen würde. Ich weiß, dass ihm die Geschichte der Medizin sehr wichtig ist. Und die Geschichte unseres Instituts sollte ich allemal kennen.“
Ich lache. „Da hast du Recht, Lisa. Ich wollte, ich würde über die George Washington University auch so gut Bescheid wissen.“
„Du kannst dich doch auch belesen, Lars.“
„Das stimmt. Aber erst einmal mache ich uns ein schönes Abendessen.“
Lisa schmiegt sich an mich. Und ich mag noch gar nicht mit dem Kochen beginnen.
Biomedical Informatics
Liebe Lisa,
tagsüber lese ich, was das Zeug hält. Verzeih bitte, dass mir abends, wenn ich nach dem Abendessen noch die Küche sauber gemacht habe, regelmäßig auf der Wohnzimmercouch die Augen zufallen und ich einschlafe. Ich genieße die Zeit mir Dir. Und wenn ich neben Dir auf der Couch liege und die Augen schließe, dann bin ich sehr glücklich.
Die Zeit, in der ich Francis morgens zu den GoetheKids bringe und nachmittags wieder abhole, ist die einzige Zeit des Tages, in der ich einmal an die frische Luft komme.
Den Rest des Tages verbringe ich an meinem Leseschirm. Manchmal lasse ich mir die Fachliteratur auch vom Computer vorlesen. Ich lese alles zu den Biomedical Informatics rauf und runter. Auch aktuelle Fachartikel muss ich lesen.
Diese Tage erinnern mich sehr an die Zeit meines Abiturs. Das einzige, das jetzt gegenüber meiner Abiturzeit anders ist, ist die Gegenwart von Dir und Francis. Es ist wundervoll, eine Familie zu haben.
Ich habe genau gelesen, was Du in unsere gemeinsame Cloud geschrieben hast. Du magst das vegetarische Essen jetzt mehr. Ich werde deshalb von nun an verstärkt das Fleisch im Essen weglassen. Für heute Abend habe ich als Gericht eine Antipasti-Bowl mit Mozzarella auf Risotto geplant. Ich bin mir sicher, Du wirst es mögen.
Bitte sage mir, wenn ich mehr für Dich tun kann. Nicht jeden Wunsch kann ich Dir von Deinen Augen ablesen. Aber dazu habe ich ja Ohren. Ich will Dir jeden Wunsch erfüllen. Alles, was mir möglich ist, will ich tun.
Lisa, Du bist meine Liebe.
Funktionshistologie
„Lars, ich glaube, ich werde deine Hilfe für meine Forschung in der Anatomie benötigen.“
„Ja? Was kann ich für dich tun?“
„Meine Aufgabe ist es ja, aus der Verknüpfung der Zellverbände der Großhirnrinde abzuleiten, welches Bild die Sterbenden zuletzt gesehen haben. Ich habe schon jede Menge dreidimensional rekonstruierte Großhirnrinden aus meinen elektronenmikroskopischen Untersuchungen erstellt. Aber jetzt weiß ich gar nicht, wie es weitergehen soll.“
„Gibt es denn Fotografien von den Räumen, in denen deine Körperspender verstorben sind?“
„Nein.“
„Ja, das geht nicht. Wir werden nie herausfinden können, wie die Daten im Hirn verschlüsselt werden, wenn wir die Zellverbände nicht mit dem zuletzt gesehenen Bild der Verstorbenen vergleichen können.“
„Was soll ich tun?“
„Du musst in Erfahrung bringen, wo genau die Körperspender verstorben sind. Dann musst du an die Orte fahren und Fotos von den Räumen anfertigen.“
„Puh. Und wenn das nicht geht?“
„In diesem Fall wären die Großhirnrinden, die du schon rekonstruiert hast, für diese Untersuchung unbrauchbar.“
„Dann habe ich mir vielleicht viel Arbeit umsonst gemacht?“
„Tja. Also, erst einmal muss das Studiendesign stehen, wenn man sich unnötige Arbeit ersparen möchte.“
„Ich wollte, ich hätte dich früher befragt. Was empfiehlst du mir?“
„Ich empfehle, die Sterbezimmer zu der Tageszeit und mit den Lichtverhältnissen zu fotografieren, zu denen die Körperspender verstorben sind. Und dann vergleichen wir helle und dunkle Sterbeorte, um erst einmal im Ansatz herauszufinden, wie helle und dunkle Flächen im Hirn kodiert werden. Wenn wir das haben, dann suchen wir helle und dunkle Objekte innerhalb der Fotografien eines Sterbeortes und innerhalb des zugehörigen Hirns auf. Wir werden uns also anfänglich allein auf Schwarz-Weiß-Informationen beschränken, um zu beschreiben, wie Formen und Umrisse im Gehirn verschlüsselt werden.“
„Und Farben kommen später einmal.“
„Irgendwann. Ja.“
„Dann habe ich ja noch einen weiten Weg vor mir. Ich glaube, ohne einen Biomedizinischen Informatiker deines Formats könnte ich diese Arbeit nicht bewältigen. Aber Professor Jürgens hat mich schon beruhigt. Er hat gesagt, es sei auch Forschung, wenn man in einer Dissertation zeigen könnte, mit welchen Methoden man nicht zum Ziel kommt. Dann können sich nachfolgende Untersuchungen gezielt anderen Wegen widmen.“
„Da hat dein Doktorvater Recht, Lisa.“
„Glaubst du, ich werde jemals ein Bild aus den Zellverbänden der Großhirnrinde ableiten können?“
„Grob gerasterte Schwarz-Weiß-Bilder vielleicht schon. Für exaktere Farbbilder wird ein neues Studiendesign notwendig sein.“
„Wie würde das aussehen?“
„Man käme nicht drumherum, den Sterbenden eine Kamera anzulegen, die die letzten visuellen Wahrnehmungen aufzeichnet. Die Frage ist nur, wer das will.“
„Wir haben ja ausschließlich Körperspender, die sich der Wissenschaft verbunden fühlen.“
„Ja. Trotzdem ist doch der Tod ein sehr intimer und privater Moment. Wer will ihn schon auf solch technische Weise mit den Forschern und der Nachwelt teilen? Ich bin mir unsicher.“
„Denkst du manchmal an das Sterben?“
„Ja, Lisa. Mein Papa hatte ja schon Jahre vor seinem Sterben eine Nahtoderfahrung, die mich sehr bewegt hat, als er sie mir berichtete. Lange hatte Papa ja darüber geschwiegen und sich nicht getraut, mit anderen zu teilen, was er erlebt hatte. Er wollte vermeiden, dass andere denken, er sei ein Spinner. Über meinen Papa haben, solange er lebte, immer wieder viele Menschen gelacht. Für manche war er mehr so eine traurige Witzfigur.“
„Woher kam das?“
„Mein Papa war in einem Heim aufgewachsen. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Er hatte nie jemanden, der an ihn geglaubt hat. Niemand hat ihn gefördert. Und Freunde hatte er auch nicht, bis er Mama kennenlernte. Mit Mama fing Papas Leben noch einmal ganz neu an. Aus Papa wäre beruflich viel mehr als nur ein Versicherungsmathematiker geworden, wenn er gute Förderung erfahren hätte.“
„Glaubst du, Stephan war glücklich mit seinem Leben?“
„Ja. Papa hat das Beste aus allem gemacht. Und das Beste war, Mama kennenzulernen und mich als Sohn zu bekommen. Und seine Nahtoderfahrung hat auch noch einmal sein Leben umgekrempelt.“
„Stephan war damals bei Hannah und Johannes in Heidelberg und hat sich alles zum Glauben erklären lassen, nicht wahr, Lars?“
„Ja. Und seither ist es in unserer Familie üblich, tiefgehende Fragen und Lebenszweifel mit Hannah und Johannes zu besprechen.“
„Als ehemalige Diakonisse ist Hannah dazu ja auch bestens geeignet. Mein Vater sagt immer, dass Hannah das Diakonissenkrankenhaus früher echt vorangebracht hat.“
Ich nicke. „Wir haben damals unser Krisengespräch mit Hannah und Johannes nicht zu Ende gebracht.“
„Hannah und Johannes haben sich darauf beschränkt, für uns zu beten, anstatt uns Lebenstipps mit auf den Weg zu geben.“
„Ja. Das haben sie. Wollen wir die beiden in Heidelberg besuchen gehen? Sie müssen wissen, dass zwischen uns alles gut ist.“
Lisa lacht herzlich „Ja, Lars. Das ist für die zwei eine Gebetserhörung. Da sollten sie auch eine Rückmeldung bekommen. Das wird die beiden auch ermutigen. Ihre Gebete waren nicht umsonst.“
„Ich werde ihnen einen Call senden. Und dann besuchen wir sie.“ Ich tippe auf das Holokrypt-Tattoo an meinem Handgelenk. Ich habe sofort eine Verbindung mit Johannes. Wir dürfen sie am Wochenende besuchen gehen. Perfekt.