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Einführungen in die Geschichtswissenschaft

Neuere und Neueste Geschichte

Herausgegeben von Julia Angster und Johannes Paulmann

Band 2

Roland Wenzlhuemer

Mobilität und Kommunikation in der Moderne

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Roland Wenzlhuemer ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: SS Great Eastern, Poster. akg-images/ LIBRARY OF CONGRESS/SCIENCE PHOTO LIBRARY

Korrektorat: Weingärtner, Gründau

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Nr. 5470

ISBN 978-3-8252-5470-4

Vorwort zur Reihe

Die in dieser Reihe erscheinenden Einführungen in die Geschichtswissenschaft behandeln zentrale Themen der europäischen Geschichte vom ausgehenden 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert in einer nationsübergreifenden Perspektive. Die Grundidee für die Reihe ist aus einer Erfahrung entstanden, die wir im Alltag der akademischen Lehre gemacht haben: Einführungsliteratur für Bachelor- oder Masterstudiengänge stellt in der Regel entweder Faktenwissen oder einen theoretischen Ansatz in den Mittelpunkt. Wir wünschten uns hier eine Verbindung zwischen diesen Ebenen, die wir in der akademischen Lehre ja regelmäßig leisten müssen. Die „Einführungen in die Geschichtswissenschaft“ sollen daher beides miteinander verknüpfen: Die Bände bieten jeweils anhand spezifischer Gegenstände eine Einführung in die Geschichtswissenschaft, also in die Arbeitsweise, die Methodik und die Denkweisen des Fachs. Geschichtswissenschaft als universitäres Fach soll zum wissenschaftlichen Arbeiten befähigen, also dazu, selbst Fakten zu analysieren, sie zu deuten und darzustellen. Es geht darum, selbständig Erkenntnisinteressen zu formulieren, und hierfür ist ein Überblick über die Pluralität und den Wandel der Zugänge des Fachs, über die Theorieentwicklung und die jeweils angemessenen Methoden unabdingbar. Diese Arbeitsweise lässt sich jedoch am besten am konkreten Beispiel vermitteln. Die Reihe bietet daher eine problemorientierte Vermittlung von Inhalten und einen theoriegeleiteten Zugang zu wichtigen historischen Themen. Ihr Ziel ist eine Einführung in wissenschaftliche Zugänge und Methoden, in Forschungsstand und Forschungskontroversen und damit in die Arbeitsweise und das Wesen von Geisteswissenschaft. Gedacht ist diese Reihe jedoch durchaus auch für Lehrende als Handreichung zur Vorbereitung von Seminaren oder einzelnen Sitzungen. Der Aufbau der Bände folgt daher jeweils der möglichen Struktur einer Seminarveranstaltung und bietet eine argumentative oder analytische Gliederung, die nach einer kurzen thematischen Einführung zunächst Kontroversen und Theorien der Forschung behandelt, Leitfragen entwickelt und diese dann an Beispielen in mehreren Kapiteln systematisch anwendet. Wir hoffen, damit einen sinnvollen Beitrag zu Lehre und Studium zu leisten.

Julia Angster und Johannes Paulmann

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe

IEinleitung

IIPerspektiven auf Mobilität und Kommunikation

1Mobilitätsgeschichte

2Technikgeschichtliche Perspektiven

3Wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven

4Kulturgeschichtliche Perspektiven

5Globalgeschichtliche Perspektiven

IIIThemen und Untersuchungsgegenstände

1Verregelmäßigung

2Dematerialisieung

3Kommodifizierung

4Standardisierung

5Kanalisierung

6Kollektivierung und Individualisierung

7Visualisierung

8Digitalisierung

IVSchluss

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Register

I. Einleitung
Mord in der Eisenbahn

Franz Müller hatte sich seine Ankunft in New York wahrscheinlich anders vorgestellt. Er hatte sich am 15. Juli 1864 in London auf der Victoria eingeschifft. Am Abend des 25. August erreichte der Segler schließlich die Lower Bay vor New York. Während der Fahrt durch die Bucht in Richtung Staten Island begegnete die Victoria einem Ausflugsschiff, dessen Passagiere sich im Vorbeifahren lautstark nach dem „Mörder "Müller“ erkundigten.[1] Dieser bekam das aber wohl nicht mit. Genauso wenig schien sich Franz Müller über die tausenden Schaulustigen zu wundern, die den Strand von Staten Island säumten und die Victoria begrüßten. Umso erstaunter war der junge Mann, als er schließlich noch an Bord des Segelschiffs von zwei Polizisten – einem Sergeant von Scotland Yard und einem Beamten der New Yorker Polizei – festgenommen wurde. Als Müller fragte, was ihm vorgeworfen werde, hörte er, dass man ihn in London des Mordes an dem Bankangestellten Thomas Briggs verdächtigen würde.

Der Fall hatte Anfang Juli in London und weit darüber hinaus für großes Aufsehen gesorgt.[2] Am Abend des 9. Juli 1864 hatte der 69-jährige Thomas Briggs am Bahnhof Fenchurch in der City of London einen Zug der North London Railway Richtung Hackney genommen. Nur wenige Minuten später stiegen in Hackney Wick zwei jüngere Bankangestellte zu und fanden Blut am Boden des Abteils, an den Fenstern und der Tür vor. Sie informierten den Schaffner. Das Abteil wurde abgesperrt, der Wagon abgehängt und in den Hauptbahnhof der North London Railway in Bow geschickt, während der Rest des Zuges schließlich weiter nach Hackney fuhr. Die Polizei stellte im Abteil Briggs Gehstock und seine leere Ledertasche sowie einen Hut sicher, der offensichtlich nicht ihm gehört hatte. Den schwer verletzten, nicht ansprechbaren Thomas Briggs fand man neben den Gleisen zwischen den Bahnhöfen Bow und Hackney Wick. Briggs war auf den Kopf geschlagen worden. Danach hatte man ihn einfach aus dem Zugfenster geworfen. Er verstarb, kurz nachdem man ihn gefunden hatte.

Schon früher hatte es immer wieder Verbrechen in der Eisenbahn gegeben. Reisende waren bestohlen, in manchen Fällen auch ausgeraubt, bedroht oder belästigt worden. Nun aber war das erste Mal in der britischen Eisenbahngeschichte ein Mord in einem Zug passiert. Viele Reisende und Pendler waren entsprechend beunruhigt. Unter anderem auch deshalb setzte Scotland Yard viel daran, das Verbrechen schnell aufzuklären. Inspektor Richard Tanner wurde mit dem Fall betraut. Der Täter hatte Briggs goldene Taschenuhr und – wohl versehentlich – auch Briggs Hut mitgenommen. Die eigene Kopfbedeckung hatte er am Tatort zurückgelassen. Die Polizei konnte die Uhr bald bei einem Juwelier mit dem klingenden Namen John Death sicherstellen. Death hatte sie nach eigener Aussage von einem bleichen jungen Mann gekauft, den er für einen Deutschen hielt. Wohl auch angespornt durch die ausgeschriebene Belohnung von £300 meldete sich bald ein Kutscher namens Jonathan Matthews, der den auffälligen Hut des Täters wiedererkannt haben wollte. Durch seine Aussage fand die Polizei Namen und Adresse des Verdächtigen heraus. In seiner Unterkunft fand sie ihn aber nicht vor. Nach Auskunft seiner Vermieterin hatte sich Franz Müller bereits auf dem Segelschiff Victoria nach Amerika aufgemacht.

Eine funktionierende Telegrafenverbindung über den Atlantik sollte erst zwei Jahre später in Betrieb genommen werden. Wollte er den Verdächtigen nicht entkommen lassen, so hatte Inspektor Tanner nur die Möglichkeit, sich auf einem schnelleren Schiff nach New York aufzumachen. Gemeinsam mit dem Sergeant, der später auch die Verhaftung vornehmen sollte, und den beiden Zeugen Death und Matthews bestieg der Inspektor am 20. Juli – also fünf Tage nach Abfahrt der Victoria – das Dampfschiff City of Manchester und kam in New York sogar drei Wochen vor Müller an. Während der Wartezeit verbreitete sich in Nordamerika die Kunde über den spektakulären Mordfall in London, die transatlantische Verfolgungsjagd und die bevorstehende Ankunft des Mordverdächtigen in New York. Der Kapitän der Victoria wurde bei Einfahrt in die Lower Bay von einem Lotsen über seinen Passagier informiert. Gleichzeitig telegrafierte man vom Leuchtturm in Sandy Hook nach New York, dass die Ankunft des Seglers kurz bevorstehe – daher die Rufe vom Ausflugsschiff und die Schaulustigen am Strand von Staten Island. Franz Müller wurde schließlich von den USA an das Vereinigte Königreich ausgeliefert, zurück nach London gebracht und dort im Old Bailey vor Gericht gestellt. Seine Verteidigung übernahm ein Anwalt, der von der German Legal Protection Society gestellt wurde. Dennoch wurde Müller des Mordes für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und schließlich am 14. November 1864 öffentlich erhängt.

Die britischen Medien berichten zwischen Juli und Oktober 1864 ausführlich über den Fall, der aus Sicht der Zeitgenossen sicherlich zu den aufsehenerregendsten Mordfällen im Großbritannien der 1860er-Jahre gezählt werden darf. Der Fall hatte alles, was es für eine spektakuläre Berichterstattung brauchte: einen brutalen Mord an einem ungewöhnlichen Ort, einen ausländischen Tatverdächtigen, eine transatlantische Verfolgungsjagd und jede Menge diplomatischer Verwirrungen – sowohl im Rahmen des Auslieferungsgesuchs an die Vereinigten Staaten wie auch hinsichtlich des Interventionsversuchs von Seiten des preußischen Königs Wilhelm, der mittels Telegramm an Königin Victoria erfolglos versuchte, die Hinrichtung Müllers verschieben zu lassen. Jenseits des zeitgenössischen Sensationalismus, der später in Kapitel III.3 im Zusammenhang mit der penny press nochmals kurz aufgegriffen wird, bietet diese ungewöhnliche Episode aber auch einen guten Einstieg für eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Mobilität und Kommunikation im langen 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Der Fall führt viele zentrale Aspekte der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte zusammen und macht sie in ihrer Bedeutung und Prägekraft für die zeitgenössischen Gesellschaften spürbar.

Mobilität und Kommunikation

Schauen wir zunächst einmal auf Franz Müller selbst. Er wurde im Jahr 1840 in einem kleinen Ort im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach geboren. Müller lernte das Schneiderhandwerk und war als Geselle hochgradig mobil. Im Mai 1859 kam er nach München, zog 1861 aber weiter nach Köln. Im März des Jahres 1862 machte er sich nach London auf, wohl schon mit der Absicht, von dort nach Amerika auszuwandern, sobald er die notwendigen finanziellen Mittel zusammen haben würde. Franz Müller steht damit stellvertretend nicht nur für unzählige Wandergesellen, die sich nach ihren Lehrjahren oft für einige Jahre auf Wanderschaft in fremde Länder und Regionen aufmachten. Er war zugleich einer von mehreren Millionen Deutschen und anderen Europäern, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit oder einfach einem besseren Leben verließen und anderswo – häufig in Nordamerika – ihr Glück suchten.[3]

Dann ist da natürlich der besondere Tatort, an dem Thomas Briggs angegriffen und ausgeraubt wurde. Sowohl das Mordopfer wie auch die beiden Bankangestellten, die das Blut entdeckten, waren Berufspendler. Sie arbeiteten in der Londoner Innenstadt, wohnten aber wie viele andere am Stadtrand oder in den Vororten. Dieses tägliche Pendeln über vergleichsweise lange Strecken wurde in größerem Maßstab überhaupt erst durch die Verfügbarkeit eines verlässlichen, regelmäßigen und bezahlbaren Verkehrsmittels wie der Eisenbahn möglich (siehe Kapitel III.1 und III.6). Seit den 1840er-Jahren entstanden in großen Teilen Europas und Nordamerikas Eisenbahnnetze, die den Personen- und Warenverkehr auf eine gänzlich neue logistische Basis stellten. In Großbritannien vollzog sich dieser Wandel besonders schnell und tiefgreifend. Die Eisenbahn wurde für viele Menschen schnell zu einem festen Bestandteil ihres Alltags – hinsichtlich ihres Berufslebens ebenso wie im Rahmen ihrer Freizeitgestaltung. Die gesellschaftliche Bedeutung des Zugverkehrs wird auch an der öffentlichen Beunruhigung über den so genannten Eisenbahnmord und die Diskussion über die Sicherheit von Eisenbahnreisen deutlich. Der Fall hatte am Ende sogar unmittelbare Auswirkungen auf die staatliche Regulierung des Eisenbahnwesens. Der 1868 verabschiedete Regulation of Railways Act sah neben vielen anderen Punkten auch vor, dass Passagiere an Bord eines Zuges die Möglichkeit haben mussten, in einem Notfall das Zugpersonal zu kontaktieren.[4]

Nicht zu vergessen ist zudem die Verfolgungsjagd über den Atlantik, die eines der narrativen Kernelemente der medialen Begleitung des Falles darstellte. Franz Müller schiffte sich für die Überfahrt nach New York auf dem Segelschiff Victoria ein. Bis die Polizei ihm auf die Spur kam, hatte er bereits mehrere Tage Vorsprung und wäre mit einem anderen regulären Transatlantiksegler wohl kaum einzuholen gewesen. Müller wäre in New York von Bord gegangen, und wenn er sich geschickt angestellt hätte, wäre es sehr schwer geworden, seiner habhaft zu werden. Inspector Tanner und seine Begleiter aber nahmen mit der City of Manchester einen Dampfer nach New York. Seit den 1840er-Jahren fanden immer mehr Dampfschiffe Verwendung im transatlantischen Linienverkehr (siehe Kapitel III.1). Diese waren unabhängiger von Wind und Strömung und konnten daher oft kürze Routen zwischen ihren Anlegeorten fahren. Mitte der 1860er-Jahre war die Dampfschifftechnik soweit fortgeschritten, dass die City of Manchester trotz späterer Abfahrt etwa drei Wochen vor der Victoria ihr Ziel erreichte und die Polizisten dort in aller Ruhe Vorbereitungen für Müllers Verhaftung treffen konnten. Trotz ihres gut funktionierenden Dampfantriebs war aber auch die City of Manchester wie praktisch alle Dampfschiffe dieser Zeit zusätzlich mit Segeln ausgestattet. Gegen Ende ihres Dienstes wurde der Dampfantrieb ausgebaut und das Schiff noch einige Jahre unter Segeln betrieben.[5] Die City of Manchester ist damit ein typisches Beispiel für die Gleichzeitigkeit verschiedener Mobilitätsformen.

Nur zwei Jahre später wäre die Verfolgung über den Atlantik nicht mehr nötig gewesen und wohl in dieser Form auch nicht mehr durchgeführt worden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen seit den späten 1850er-Jahren ging 1866 eine dauerhafte telegrafische Verbindung über den Atlantik in Betrieb. Scotland Yard hätte ab dieser Zeit die amerikanischen Kollegen relativ einfach per Telegramm über die bevorstehende Ankunft eines Mordverdächtigen informieren können. Aber auch im tatsächlichen Geschehen ist der Telegraf als Kommunikationsmittel präsent. So wird die Ankunft der Victoria vom Leuchtturm in Sandy Hook telegrafisch nach New York weitergegeben. Eine solche Vorankündigung ankommender Schiffe war im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Praxis, für die in anderen Fällen auch optische Telegrafensysteme oder Boten eingesetzt wurden. Aber auch die oben bereits erwähnte Intervention des preußischen Königs bei der royalen Verwandtschaft in London, mit der Wilhelm einen Aufschub von Müllers Hinrichtung erwirken wollte, erfolgte per Telegramm. Bereits in diesen beiden Zusammenhängen offenbaren sich die Kernqualitäten dieses damals noch jungen Mediums (siehe Kapitel III.2 und Kapitel III.8). Eine telegrafische Nachricht erreichte New York von Sandy Hook aus schneller als das Schiff, von dessen Ankunft berichtet wurde. Und mit einem Telegramm ließ sich angesichts einer drohenden Hinrichtung rasch zwischen Berlin und London kommunizieren.

Schließlich ist da noch die ausführliche Berichterstattung über den Mordfall, der über viele Monate nicht nur die britischen, sondern auch viele amerikanische und kontinentaleuropäische Zeitungen und ihre Leserschaft beschäftigte. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Europa und Nordamerika nicht nur eine dichte, ausdifferenzierte Zeitungslandschaft, die sich schrittweise immer neue Leserschichten erschloss, sondern auch neue Formen der Berichterstattung und des Journalismus, die unter anderem auch auf Sensationen und Spektakel setzten (siehe Kapitel III.3). Gleichzeitig erreichte mit dem Aufkommen von professionellen Nachrichtenagenturen der weltweite Handel mit Neuigkeiten bisher unerreichte Höhen. Nachrichten waren endgültig zur Ware geworden. Der Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen sollte gute Absatzmärkte für diese Ware schaffen.

Der Aufbau des Buches

Schon diese fünf exemplarischen Punkte, die allesamt in der Geschichte von Franz Müller zusammenlaufen, verweisen auf die zentrale Bedeutung von Mobilität und Kommunikation in der Geschichte der Moderne und auf den tiefgreifenden Wandel, der diese Lebensbereiche in jener Zeit erfasste. Hier setzt auch dieses Buch an. Es will die gesellschaftliche Prägekraft mobiler und kommunikativer Praktiken verdeutlichen und die vielschichtigen technischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen dahinter beleuchten. Die Struktur des Buches spiegelt diesen Anspruch wider. Auf diese Einleitung folgt zunächst ein theoretischer Abschnitt, der verschiedene wissenschaftliche und gesellschaftliche Perspektiven auf menschliche Mobilität und Kommunikation aufzeigen und anhand dessen auch Fragestellungen und Erkenntnisinteressen, die eine historiografische Untersuchung dieser Lebensbereiche betreffen, entwickeln will. Im Kern beschäftigt sich dieses Kapitel mit der Frage, warum man sich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht überhaupt mit Mobilität und Kommunikation beschäftigen sollte und wie eine solche Beschäftigung aussehen könnte.

Die folgenden acht Kapitel widmen sich dann dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Anstatt sich chronologisch oder entlang technologischer Entwicklungen durch das Thema zu arbeiten, folgen die einzelnen Abschnitte acht transformativen – teilweise disruptiven – Großprozessen, die die Geschichte menschlicher Mobilität und Kommunikation im Untersuchungszeitraum und darüber hinaus entscheidend geprägt haben. Diese übergreifenden Prozesse hängen zumeist nicht an einzelnen Medien, Praktiken oder technologischen Errungenschaften, sondern verweisen auf die tieferen qualitativen Veränderungen im Bereich von Mobilität und Kommunikation und damit letztlich im Kontext menschlichen Zusammenlebens.

Einen ersten solchem Prozess stellt die zunehmende Verregelmäßigung und die damit einhergehende bessere Planbarkeit von vielen Kommunikations- und Transportabläufen dar. Verkehrsmittel wie die Kutsche oder später das Dampfschiff und die Eisenbahn operierten immer stärker auf festen Routen und zu festgelegten Zeiten. Sie verkehrten nach Fahrplan, wurden dadurch berechenbarer und fügten sich in logistische Ketten ein. Eine wesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte die Nutzbarmachung der Dampfkraft für das Verkehrswesen.

Der folgende Abschnitt beleuchtet den Prozess der Dematerialisierung von Informationsflüssen und die damit verbundene Entkoppelung von Kommunikation und Transport. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fand man effiziente Wege, um Informationen in optische oder elektrische Signale zu encodieren und zu verschicken. Diese Inhalte konnten sich frei von den Beschränkungen materiellen Transports bewegen und waren daher zumeist schneller als dieser. Das eröffnete unter anderem neue Möglichkeiten zur Kontrolle von Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn oder dem Dampfschiff.

Einen dritten zentralen Prozess der modernen Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte stellt die zunehmende Kommodifizierung von Informationen dar. Nachrichten wurden mehr und mehr zu Waren, mit denen man handeln konnte. Gleichzeitig wurde dieser Nachrichtenhandel, der seinen Anfang bereits in der Frühen Neuzeit genommen hatte, immer globaler. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang nicht nur das Zeitungswesen, sondern auch die im 19. Jahrhundert entstehenden Nachrichtenagenturen, die bald den weltweiten Nachrichtenhandel dominieren sollten.

Solche überregionalen, oft globalen Austauschprozesse machten eine zunehmende Standardisierung ihrer Normen und Grundlagen notwendig. Was Ende des 18. Jahrhunderts im revolutionären Frankreich mit der Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten begann, ergriff bald auch die Bereiche Kommunikation und Transport, die durch ihren verbindenden Charakter ganz besonders auf geteilte Standards angewiesen sind. Unter anderem die im ersten Abschnitt besprochene Verregelmäßigung von Transportprozessen machte zudem auch eine Vereinheitlichung der Zeitmessung wünschenswert.

Ein fünfter Abschnitt untersucht Prozesse der Kanalisierung von Mobilität und Kommunikation. Um immer größere Ströme von Personen und Waren überblicken und effektiv kontrollieren zu können, mussten diese entlang bestimmter Routen und Kontrollpunkte geleitet werden. So ermöglichte ein Bauwerk wie etwa der Sueskanal einerseits höhere Mobilität, erlaubte gleichzeitig aber auch einen verbesserten Zugriff auf die sich bewegenden Waren und Menschen. Die Kontrollen dienten unter anderem dem Schutz und der Selbstvergewisserung der in dieser Zeit entstehenden Nationalstaaten.

Schwerer in einen einzigen prozessualen Begriff zu fassen sind die Entwicklungen, die im darauffolgenden Abschnitt behandelt werden. Es geht um die scheinbar gegenläufigen und doch eng miteinander verzahnten Prozesse von Kollektivierung und Individualisierung,um Masse und Individuum. Sowohl Mobilitäts- wie auch Kommunikationspraktiken waren im Untersuchungszeitraum geprägt von beiden Phänomenen: Massenverkehr und Massenkommunikation auf der einen Seite, Individualverkehr und Einzelkommunikation auf der anderen.

Der siebente Abschnitt spürt der Visualisierung nach. Neben Texten spielten im Untersuchungszeitraum vermehrt auch bildliche Inhalte in Kommunikationsprozessen eine wichtige Rolle. Fortschritte in der Drucktechnik und das Aufkommen der Fotografie machten das technisch möglich. Bilder wirkten anders als Worte und erfüllten gänzlich andere Kommunikationsbedürfnisse. Sie konnten über große Distanzen hinweg eine gefühlte Nähe herstellen und vermittelten Authentizität und Glaubhaftigkeit.

Ein letzter Abschnitt widmet sich dem hochaktuellen Prozess der Digitalisierung und versucht dieses gegenwärtige Phänomen historisch zu verorten. Digitalisierung ist im Kern nichts anderes als die Überführung von Informationen in zählbare Werte und deren rechnerische Weiterverarbeitung. Nach bescheidenen Anfängen im 19. Jahrhundert, erlangte dieser Prozess nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Dynamik und begann eine ungeahnte gesellschaftliche Prägekraft zu entfalten, die im Wesentlichen von der Entwicklung leistungsfähiger Rechenmaschinen und deren sukzessiver Vernetzung getragen wurde und auch heute noch wird.

Ein solcher Fokus auf transformative Prozesse hat natürlich auch blinde Flecken. Wichtige Inhalte und Themen der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte haben in diesem Zugang nicht den ihnen vielleicht zustehenden prominenten Platz gefunden und hinterlassen unbefriedigende Leerstellen. Beispielsweise konnten Migrationsbewegungen, die eine so prägende Rolle in der Geschichte der Moderne einnehmen, nicht wirklich systematisch erörtert werden. Sie tauchen an vielen Stellen im Buch auf, nehmen analytisch aber keine zentrale Position ein. Zudem wird kaum einmal gezielt über den sich im 19. Jahrhundert intensivierenden Tourismus gesprochen oder über die damit oft in Verbindung stehende Praxis des Reiseberichts, der auch in seiner Funktion als historische Quelle Beachtung verdient hätte. Überhaupt kommen Reiseerfahrungen, die unter anderem in kulturhistorischen Zugängen zur Mobilität zentral sind,[6] in diesem Buch zu kurz. Und auch zu einzelnen Trägertechnologien oder Mobilitätserscheinungen hätte man viel mehr sagen können: über die Bedeutung des Straßenbaues, über das nordenglische Kanalsystem[7] oder vielleicht über das Grand Hotel.[8] Zusätzlich dazu werden jeder Leserin und jedem Leser entlang der eigenen Interessen weitere Leerstellen auffallen. All diese Auslassungen sind schmerzlich, ließen sich aber aus dem prozessualen Zugang des Buches heraus schwerlich vermeiden. Umso weniger kann und will diese Einführung einen Anspruch auf eine vollständige Abbildung der Mobilitäts- und Kommunikationsgeschichte der Moderne erheben.