Kirche ist Mission

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From the series: Edition IGW #2
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integrativ

Die neue Perspektive, welche evangelikale Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt ins evangelikale Lager getragen haben, ist ihrer Natur nach kontextuell und hat damit integrativen Charakter. Sie hat sich gelöst von der Vorstellung, dass die biblische Wahrheit am besten in Abgrenzung von anderen theologischen Positionen erkannt werden kann. Sie geht den gegenteiligen Weg und will von anderen Denkansätzen lernen, insbesondere solchen, die im Kontext von Unterdrückung entstanden sind. Es wird in dieser neuen Perspektive der Bibelauslegung versucht, die Erkenntnisse dieser Ansätze in das eigene Verständnis zu integrieren sofern sie mit dem evangelikalen Schriftprinzip vereinbar sind. Zu den Ansätzen, bei denen die evangelikale kontextuelle Theologie Anleihen macht, gehören das Social Gospel, die Befreiungstheologie und die Theologien im Umfeld des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Das integrative Vorgehen birgt Chancen und Gefahren. Die Chance besteht darin, Erkenntnisse aus anderen Kulturen und von anderen theologischen Positionen fruchtbar zu machen, die uns verschlossen sind. Im besten Fall erkennen wir durch dieses Vorgehen Wahrheiten, zu denen wir durch unsere begrenzte Sichtweise keinen Zugang haben. Die Gefahr besteht darin, dass das evangelikale Schriftprinzip unterwandert wird. Im schlimmsten Fall führt dies zu einer unbiblischen, bloßen humanistischen Sicht von Mission und damit zur Preisgabe des Evangeliums. Wir müssen darum die Chancen ausloten, die sich durch eine integrative Leseart der Bibel bieten und den Mut haben, neue Erkenntnisse in unsere Theologie zu integrieren. Gleichzeitig müssen wir die damit verbundenen Gefahren erkennen und falsche Forderungen zurückweisen. Das soll in diesem Abschnitt geschehen.

Die Befreiungstheologie

Die kontextuelle Leseart evangelikaler Prägung ist wesentlich durch die lateinamerikanische Befreiungstheologie beeinflusst. Man spricht seit den 1960er Jahren von einer eigenständigen lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Ihr ging es darum, eine Antwort zu finden auf die Abhängigkeitssituation Lateinamerikas von den westlichen Machtzentren. Ihre Vertreter gingen davon aus, dass die Menschen in Lateinamerika unter gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zwängen leben und dass die Botschaft der Bibel es ihnen ermöglicht, ihre Freiheit zu erringen. Einige evangelikale Lateinamerikaner haben in den späten 1960er Jahren begonnen, einzelne Erkenntnisse der Befreiungstheologie auf die evangelikale Missionstheorie anzuwenden, wie ich in Kapitel 2 gezeigt habe. Welche Chancen bieten sich von diesem Denkansatz her und wo liegen die Gefahren?

Einer der einflussreichsten Theologen der Befreiung ist der Peruaner Gustavo Gutiérrez. In seinem Hauptwerk Theologie der Befreiung beschreibt er die Befreiungstheologie als „kritische Reflexion der Praxis“. Der Ausgangspunkt der Erkenntnis ist die Praxis, zu der die Liebe zu und der Dienst an den Menschen gehört. Theologie ist ein „zweiter Akt“, in welchem die Erfahrungen der Praxis reflektiert werden:

Erstes Moment der Theologie ist der Glaube, der sich in Gebet und Engagement Gestalt gibt. In Gehorsam gegenüber den Forderungen des Reiches Gottes will Theologie der Befreiung die Konkretisierung dieser beiden Grunddimensionen der christlichen Existenz sein … Im zweiten Akt, das heißt im Akt der eigentlichen Reflexion, geht es darum, die ganze komplexe Praxis im Lichte des Wortes Gottes zu interpretieren. (Gutiérrez 1992 [1973], 41)

Die Verpflichtung zu Liebe und Dienst hat nach Gutiérrez vor allem mit der Solidarität mit den Unterdrückten zu tun: „Nur in konkreter und wirksamer Solidarität mit den ausgebeuteten Menschen und Klassen, nur wenn wir uns an ihren Kämpfen beteiligen, können wir die Implikationen des Evangeliums verstehen und in der Geschichte zur Geltung bringen“ (Gutiérrez 1992 [1973], 329). Persönliches Engagement ist also Voraussetzung für die richtige Erkenntnis. Ebenso wichtig ist eine Analyse der Gesellschaft. Mit Hilfe der Sozialwissenschaften wird die Unterdrückungssituation Lateinamerikas analysiert (Gutiérrez 1992 [1973], 28). Das persönliche Engagement und die Analyse der Situation mit Hilfe der Sozialwissenschaften ist der erste Akt der Theologie.

Der zweite Akt ist die theologische Reflexion. Die Bibel zeigt, auf welches Ziel sich die Gesellschaft zu bewegen soll. Der Exodus ist für Gutiérrez das entscheidende Ereignis der Befreiung. Vom Exodus aus wird der biblische Erlösungsbegriff als Befreiung aus Unterdrückung verstanden (Gutiérrez 1992 [1973], 214– 215). Damit sind die Eckpunkte der Theologie der Befreiung umrissen. Sie versteht Heil als die Herausführung des lateinamerikanischen Volkes aus der Unterdrückung in die Freiheit. In einer neuen, befreiten Zivilisation zeigt sich das Heil Gottes. Erlösung ist Befreiung von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Zwängen. Sünde ist das Zerbrechen der Gemeinschaft und die Bibel ein Partner im Befreiungsprozess.

Chancen

Während die Befreiungstheologie von den Evangelikalen im Westen fast ausschließlich als Gefahr empfunden wird, haben die lateinamerikanischen Evangelikalen auch ihre Chancen herausgearbeitet. Im August 1988 versammelten sich im kolumbischen Medellin etwa 400 evangelikale Theologen, Missionare und Politiker, um über die Herausforderung der Befreiungstheologie nachzudenken. Das Ergebnis dieser Zusammenkunft, die Erklärung von Medellin, beweist den Mut der lateinamerikanischen Evangelikalen, sich von der Befreiungstheologie herausfordern zu lassen. Der Zweck der Zusammenkunft war, „die Befreiungstheologie zu analysieren, doch beschäftigten wir uns mehr und mehr mit der Praxis der evangelischen Kirche selbst auf unserem Kontinent … Unsere gründliche und ernsthafte Untersuchung hat uns bei unseren Überlegungen angespornt und uns geholfen, viele Aspekte der Lehre und Praxis innerhalb der evangelischen Kirche zu hinterfragen“ (Medellin 1988, 2). In der Erklärung von Medellin werden zunächst einige positive Aspekte der Befreiungstheologie herausgestrichen und eigene Versäumnisse offen gelegt:

Unser Herz schlägt im Einklang mit den Theologen der Befreiungstheologie angesichts des Dramas und der Tragödie des Elends in den Großstädten sowie in den vielen ländlichen Gebieten unseres Subkontinents … Die Tatsache, dass wir zugeben müssen, dass die meisten Evangelikalen innerhalb der hundert Jahre, in denen sich die protestantische Kirche in Lateinamerika etabliert hat, nicht die Stimme gegen die soziale Ungerechtigkeit erhoben haben, erfüllt uns mit Reue. Wir bedauern es sehr, dass es notwendig geworden ist, dass einige Ideologien innerhalb der protestantischen Welt, wie jetzt die Befreiungstheologie, mit Gewalt in die kirchliche und soziale Szene Lateinamerikas einbrechen mussten, damit das soziale Gewissen der Evangelikalen erwacht. (Medellin 1988, 2–3)

Mit diesem Bekenntnis bewiesen die Evangelikalen ihre Fähigkeit zur Selbstkritik und die Bereitschaft zur Integration neuer Erkenntnisse. Weiter wird in der Erklärung von Medellin festgehalten, dass man in der Befreiungstheologie „positive Elemente“ erkannt hat, welche die lateinamerikanische Theologie bereichern. Im Grundsatz wird ein Bekenntnis zur kontextuellen Leseart der Bibel mit den Worten abgelegt:

Nach all dem, was in den vergangenen 25 Jahren über die Kontextualisierung in den weltweiten, evangelikalen Kreisen gesagt wurde, nach den neuesten Untersuchungen auf dem Gebiet der Bibelexegese, nach der Herausforderung durch die Theologie der Befreiung können wir auf dem Weg der evangelischen Hermeneutik (Auslegung) nicht mehr zurück. (Medellin 1988, 3)

Dieses Bekenntnis zur kontextuellen Leseart führte die Evangelikalen in Medellin zu einer neuen Wahrnehmung der sozialen Not Lateinamerikas. Es hatte nichts weniger als eine Richtungsänderung in der missionarischen Aufgabe der Kirche zur Folge:

Es ist nicht möglich, die Heilige Schrift zu interpretieren und gleichzeitig unserer kulturellen und sozialen Wirklichkeit den Rücken zu kehren. Eine neue Ära ist für die evangelische Theologie Lateinamerikas angebrochen. Die Befreiungstheologie war einer der entscheidenden Faktoren bei der Festlegung der Richtung, die unsere theologische Arbeit in Lateinamerika nehmen wird. (Medellin 1988, 3)

Die Erklärung von Medellin ist ein Beispiel für den integrativen Charakter der evangelikalen Theologie, wie sie außerhalb des westlichen Kontexts seit den 1970er Jahren anzutreffen ist. Viele Evangelikale in der Zwei-Drittel-Welt haben die Herausforderungen der Befreiungstheologie und anderer kontextuellen Theologien als Chance genutzt. Sie haben begonnen, ihren theologischen Standpunkt zu hinterfragen und durch die Integration einzelner Elemente aus diesen Theologien, die eigene Theologie zu erneuern.

Nachdem wir gesehen haben, dass die Integration neuer Erkentnisse die Chance bietet, gewisse Aspekte des Evangeliums klarer zu erkennen, müssen wir nach den Gefahren einer solchen Vorgehensweise fragen.

Gefahren

Ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen in der Zwei-Drittel-Welt hat Erkenntnisse aus anderen Denkansätzen in das eigene theologische Verständnis integriert. Dass diese Integration fruchtbar war, liegt nicht zuletzt daran, dass sie auch mit kritischem Blick erfolgte. So heißt es in der Erklärung von Medellin, dass die Befreiungstheologie für die Evangelikalen Lateinamerikas nicht nur Chance, sondern auch „Grund ernsthafter und unvermeidlicher Besorgnis“ ist (Medellin 1988, 3). Insbesondere die linksgerichteten Tendenzen in der Auslegung und die Vorstellung, dass Christus wichtiger sei als die Bibel, wurden zurückgewiesen (ebd.). Zu den Punkten, welche bei den Evangelikalen in Medellin Beunruhigung auslösten, gehören folgende:

 

Uns beunruhigt ernstlich die Dimension des Klassenkampfes, den die Befreiungstheologen dem Evangelium unterstellen, und ihr Versuch, den Klassenkampf zu provozieren, indem sie die Tür für eine Eskalation der Gewalt in unseren Breiten öffnen.

Uns beunruhigt das anthropologische Konzept der Befreiungstheologen, eine Ideologie, die an einigen Stellen viel zu anthropozentrisch ist, d. h. viel zu sehr den Menschen in den Mittelpunkt stellt und damit über die Privilegstellung hinausgeht, die Gott dem Menschen in seinem Wort gibt. Uns beunruhigt, dass man in der Befreiungstheologie zuwenig Bedeutung der Wiedergeburt des einzelnen bemisst, oder der Reue, zu der alle Menschen jeglicher sozialen Schicht aufgerufen sind.

Uns besorgt, dass die Befreiungstheologie die Sünde der Unterdrücker anklagt, jedoch nicht die der Unterdrückten.

Uns besorgt, dass man die Erlösung im Rahmen der Geschichte sucht, jedoch nicht die, die die irdische Realität übersteigt. (Medellin 1988, 4)

Diese Aussagen machen deutlich, dass man sich in Medellin der Gefahren der Befreiungstheologie durchaus bewusst war. Die lateinamerikanischen Evangelikalen sind mit ihrer Besorgnis nicht allein. Eine unkritische Übernahme befreiungstheologischer Positionen findet sich auch bei den Evangelikalen nicht, die radikaler denken als der Querschnitt in Medellin und die Befreiungstheologie im Grundsatz willkommen heißen. So hält Chris Sugden (1983, 130–131) fest, dass die Befreiungstheologie gewisse Aspekte überbetont und die Bedeutung der Armen im hermeneutischen Prozess überschätzt. Orlando Costas (1974b, 251), der die Intention der Befreiungstheologie grundsätzlich begrüßt, bezeichnet den befreiungstheologischen Ansatz als Situationshermeneutik. Die Situation, die der Befreiungstheologe verändern wolle, rücke in den Vordergrund und die Bibel werde zu einem bloßen Referenzpunkt. Costas erkannte früh die Richtung, in die sich die Befreiungstheologie entwickeln würde und warnte, dass sie durch ihren Mangel an biblischer Gründung dem Synkretismus erliegen könnte (ebd.). Das klare Bekenntnis von Costas zur biblischen Offenbarung zeigt, dass sich im Rahmen eines evangelikalen Schriftverständnisses durchaus Erkenntnisse der Befreiungstheologie integrieren lassen: „Nur eine Hermeneutik, welche die Autorität des Wortes Gottes ernst nimmt, das durch die Präsenz des Heiligen Geistes vermittelt wurde, kann den Erhalt der Unverwechselbarkeit des christlichen Glaubens garantieren“ (Costas 1974b, 252).

Der Westen als Kontext

Um die Mission in unserer nachkolonialen Welt langfristig zu sichern, reicht es nicht aus, die Berechtigung verschiedener Denkansätze zu billigen. Die Erneuerung der evangelikalen Theologie muss tiefer gehen. Sie muss zu einer Veränderung in der Wahrnehmung der eigenen theologischen Möglichkeiten und Grenzen führen. Diese Besinnung ist nötig, weil der Westen sich theologisch lange überschätzt hat.

Der kontextuelle, integrative Charakter der neuen evangelikalen Leseart bietet die Chance, dass wir im Westen unsere Theologie selbst als kontextuelle Theologie erkennen. Die vielfältigen theologischen Entwürfe, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind, können uns die Augen dafür öffnen, dass im Grunde genommen jede Theologie kontextuell ist. Das heißt, dass jede Theologie durch ihren Kontext beeinflusst wird, dass jede Theologie Antworten auf die spezifischen Fragen ihres Kontexts gibt, und jede Theologie ihre größte Relevanz innerhalb ihres Kontexts erreicht.

Auf diesen Umstand haben radikale evangelikale Vertreter schon früh aufmerksam gemacht. Aber es scheint, dass wir ihnen noch kaum zugehört haben. Sie haben darauf hingewiesen, dass die evangelikale Theologie stark mit den Denkvorgaben der westlichen Kultur verbunden ist und in der Vergangenheit nicht selten westlichen Interessen diente. Die traditionelle evangelikale Theologie gibt Antworten auf Fragen, die für den westlichen Kontext relevant sind, in der Zwei-Drittel-Welt jedoch oft an der Realität vorbei gehen.

Wesentlich für die evangelikale Theologie der Zwei-Drittel-Welt ist, dass ihre Vertreter Theologie in einem „offenen Haus“ betreiben. Sie scheuen sich nicht, Erkenntnisse und Methoden anderer Theologien in ihr eigenes Verständnis zu integrieren. Anders im Westen: Theologie wird bei uns nach wie vor in Abgrenzung von anderen Theologien betrieben und nicht durch integrative Lernbereitschaft. Woher kommt dieser Unterschied? Wir können den Gegensatz zwischen dem „offenen Haus“ und dem „Elfenbeinturm“ nur verstehen, wenn wir die evangelikale Theologie sowohl in der Zwei-Drittel-Welt als auch im Westen als kontextuelle Theologie begreifen. Um die Bedeutung dieser Behauptung zu verstehen, müssen wir fragen, auf welche Umstände die evangelikale Theologie in der Zwei-Drittel-Welt einerseits und in der westlichen Welt anderseits reagiert.

Die evangelikale Theologie in der Zwei-Drittel-Welt will in erster Linie die Relevanz des Evangeliums in einer leidenden Welt demonstrieren. Die Kardinalfrage in diesem Kontext ist die Frage nach der Bedeutung des Evangeliums für den Mann in den brasilianischen Favelas, der kein sauberes Trinkwasser hat und die Frau in Nairobi, die sich prostituieren muss, um ihre Familie zu ernähren. Diese Not, dieser Kontext verlangt nach ganz bestimmten Antworten und Aktionen. Die Evangelikalen in diesen Ländern haben in der Bibel Antworten auf diese Nöte gefunden. Entsprechend ist ihre Theologie auf die Praxis bezogen und hat eine stark sozialethische und zuweilen kämpferische Färbung.

Weil die Evangelikalen in diesen Ländern von der weltweiten evangelikalen Bewegung kaum Unterstützung für ihre theologische Aufgabe erhielten, haben sie sich mit der Befreiungstheologie und den sozial-politisch orientierten Theologien im Umfeld des Ökumenischen Rates der Kirchen befasst. In diesen Theologien haben sie Aspekte entdeckt, die dem Evangelium gemäß sind und diese in ihr evangelikales Grundkonzept integriert.

Der Kontext im Westen war ein anderer und entsprechend anders zeigt sich die Theologie, die aus dem christlichen Abendland hervorging. Lange Zeit war die Theologie die Königin der akademischen Disziplinen und die Kirche ihre Hüterin. In der Aufklärung begann sich die Gesellschaft von der Bevormundung der Kirche zu lösen und ihre eigenen Antworten auf der Grundlage eines humanistischen Menschenbildes zu entwerfen. In der Folge musste sich die Kirche im Westen gegen zahlreiche Ideologien zur Wehr setzen. Sie befand sich fortan unter wissenschaftlichem Dauerbeschuss und musste um ihre Existenz kämpfen. Sie musste den historischen Glauben gegen Ideologien wie den wissenschaftlichen Darwinismus und den theologischen Liberalismus verteidigen. Gleichzeitig musste sie auf die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Ideologien, wie der Zerfall der moralischen Werte und die Auflösung der Familie, eine Antwort finden.

Diese Bedrängtheit der Kirche und ihrer Theologie brachte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den protestantischen Fundamentalismus hervor. Er verstand sich als Wall gegen die aufstrebenden Ideologien und ihre Folgen und als Bewahrung des historischen Glaubens. Die evangelikale Theologie bildete einen der Hauptströme des protestantischen Fundamentalismus. Sie musste sich in einem Kontext behaupten, in dem die Frage nach der Wahrheit im Vordergrund stand und die dringlichste Aufgabe der Theologie die Verteidigung des Glaubens war. Dieser bedrängende Umstand hatte zur Folge, dass das wahre Christentum als die Übernahme von richtigen Überzeugungen definiert wurde. Die eigene Erfahrung mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung brachte so die Überzeugung hervor, dass der wahre Glaube in Abgrenzung falscher Ideologien gesichert werden kann. Die evangelikale Theologie im Westen will in erster Linie die historischen Wahrheiten des Christentums gegen das Eindringen liberaler Ideologien verteidigen.

Innerhalb des westlichen Kontexts waren die Antworten, die die Evangelikalen auf die wissenschaftliche und moralische Herausforderung gaben, über weite Strecken relevant. Der Glaube musste verteidigt werden. Um Überzeugungen musste gerungen werden. Das Problem war, dass die westliche Art, den Glauben zu verstehen, zu definieren und zu verteidigen als universale Theologie betrachtet und mit diesem Anspruch in die Welt exportiert wurde. Im Grunde genommen aber war und ist die westliche Theologie eine kontextuelle Theologie. So wertvoll viele ihrer Ergebnisse sind – sie ist nicht mehr als eine Antwort auf die Herausforderungen des westlichen Kontexts. Die Relevanz der evangelikalen Theologie für die Situation des Westens war jedoch nicht gleich bedeutend mit ihrer Relevanz für den Rest der Welt. Man war im Westen nicht gefasst auf die Herausforderungen einer leidenden Welt. Man hatte keine fundamentalen Antworten bereit auf die Fragen der nach Freiheit strebenden Länder im Zuge der Entkolonialisierung. Folglich mussten die Evangelikalen in diesen Ländern ihre eigenen Antworten auf die Herausforderungen ihres Kontexts finden – und das war gut so.

Damit ist die Frage nach der Erkenntnis der Wahrheit aufgeworfen, die wir hier noch kurz behandeln müssen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Bedeutung des Evangeliums für einen bestimmten Kontext nur innerhalb dieses Kontexts adäquat erfasst werden kann. Die Wahrheit des Evangeliums gilt für alle Zeiten, Kulturen und Orte. Im Westen hat man lange geglaubt, dass unsere Art Theologie zu betreiben neutral sei und wir sämtliche Antworten von der Bibel her für sämtliche Kulturen beantworten könnten. Wir verstanden Theologie als geisteswissenschaftliche Disziplin, die eindeutige Ergebnisse hervorbringe, die in anderen Kulturen nur noch angewendet werden müssten. Die Geschichte hat dies als Irrtum und Selbstüberschätzung entlarvt. Wir im Westen waren nicht in der Lage, die soziale Dimension des Evangeliums zu entdecken und biblische Antworten zu formulieren, die relevant sind für die unterprivilegierten Massen wenig entwickelter Nationen. Es brauchte die Solidarität unserer Brüder und Schwestern im Süden mit den Armen und Unterdrückten, damit die soziale Dimension des Evangeliums neu entdeckt werden konnte. Damit ist der geschichtliche Beweis erbracht, dass die Bedeutung des Evangeliums für einen bestimmten Kontext nur innerhalb dieses Kontexts in seinem ganzen Bedeutungsspektrum erkannt werden kann.

Eine evangelikale kontextuelle Theologie mit integrativem Charakter bietet demnach die Chance, die Fülle des Evangeliums klarer zu erkennen. Wie die neuere Geschichte bewiesen hat, ist es möglich eine echte evangelikale Theologie zu betreiben, welche die historischen Wahrheiten des Glaubens verteidigt und gleichzeitig relevant für verschiedene Kontexte ist.

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