Kirche ist Mission

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From the series: Edition IGW #2
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Die Reaktion aus der Zwei-Drittel-Welt

Die Freude der Vertreter eines ganzheitlichen Missionsverständnisses am Ergebnis von Grand Rapids hielt sich in Grenzen. Man nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass der sozialen Verantwortung auf Kongressebene erstmals Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Bedeutung anerkannt worden war. Damit war der Standpunkt der Vertreter eines ganzheitlichen Missionsverständnisses offiziell legitimiert. Eigentlich war das bereits in Lausanne durch den Artikel 5 über die soziale Verantwortung geschehen. Die Auseinandersetzungen, die auf Lausanne folgten, machten eine Konferenz wie Grand Rapids jedoch nötig, damit die Pflicht zum sozialen Handeln als gültige missiologische Position anerkannt wurde. Die Gräben waren zugeschüttet worden.

Allerdings ging vielen Evangelikalen aus der Zwei-Drittel-Welt der Bericht von Grand Rapids zu wenig weit. Der Kommentar von Valdir Steuernagel gibt dem Empfinden der sozial gesinnten Evangelikalen eine angemessene Stimme. Steuernagel kritisierte drei Umstände an Grand Rapids: Erstens sei die Konsultation den Evangelikalen keine Hilfe gewesen, die täglich mit Armut und Unterdrückung konfrontiert seien (Steuernagel 1988, 212). Es sei immer noch nötig, dass sich die evangelikale Bewegung um ein Dokument bemühe, dass die Frage von Verkündigung und sozialem Handeln aus der Sicht der Leidenden behandle. Zweitens habe man zu viel Rücksicht auf die Evangelikalen genommen, die eine konservative Theologie vertreten. Drittens seien die radikalen Vertreter aus der Zwei-Drittel-Welt zu wenig stark in leitende Positionen der Lausanner Bewegung eingebunden. Die evangelikale Theologie sei immer noch zu stark eine westliche Angelegenheit.

Steuernagels Kritik macht deutlich, dass sich das Missionsverständnis der Evangelikalen an einem kritischen Punkt befand. Noch nie hatte es sich so divers präsentiert. Die Evangelikalen im Westen hielten am traditionellen Missionsverständnis fest und zeigten immer noch gewisse koloniale Tendenzen in ihrer Einstellunggegenüber der Zwei-Drittel-Welt. Diese ihrerseits fühlte sich durch Lausanne in ihrer theologischen Position gestärkt. Das radikale Segment weitete sich zusehends aus, so dass am Anfang der 1980er Jahre gesagt werden konnte, dass der größte Teil der weltweiten evangelikalen Bewegung ein ganzheitliches Missionsverständnis vertrat. In einer Welt voller Hunger und Unterdrückung war es für diese Evangelikalen einfach nicht mehr möglich, das traditionelle Missionsverständnis zu akzeptieren, das sich vorwiegend auf die Verkündigung beschränkte. Auch die Tatsache, dass evangelikale Missionare sich von je her der Barmherzigkeit und der Hilfeleistung verpflichtet fühlten und sie auch praktizierten, genügte ihnen nicht. Sie wollten die soziale Aktion nicht länger als etwas Zweitrangiges verstanden wissen, das begrüßt wurde, weil es die Menschen für das Evangelium offen machte. Sie wollten mehr: Eine Erneuerung der evangelikalen Missionstheorie und ihrer Praxis, die relevant für den Kontext der Zwei-Drittel-Welt ist.

Der größte Teil der Evangelikalen aus der Zwei-Drittel-Welt hatte sich unterdessen auf den Standpunkt gestellt, dass Evangelisation und soziale Aktion zwei unterschiedliche aber gleich wichtige Aspekte der einen Mission der Kirche sind (Adeyemo 1986a, 54–56). Mit dem Begriff der sozialen Aktion werden Aktivitäten persönlicher Hilfeleistung, sozialer Betätigung und politischen Einsatzes beschrieben, die das Ziel haben Lebensumstände zu verbessern. Ronald Sider spricht für die genannte Position, wenn er sagt: „Evangelisation und soziale Aktion sind gleich wichtige aber unterschiedliche Aspekte der gesamten Mission der Kirche“ (Sider und Stott 1977, 17). Er betont, dass es nur durch den Glauben an Jesus Christus persönliche Erlösung gibt, „aber das bedeutet nicht, dass Evangelisation wichtiger ist als soziale Aktion … Die Evangelien geben uns keine Anhaltspunkte, weder theoretisch noch durch den Raum, den sie beiden einräumen, dass Jesus die Verkündigung der Guten Nachricht als wichtiger erachtete als die Heilung der Kranken. Er hat uns aufgetragen, die Hungrigen zu speisen und das Evangelium zu predigen ohne hinzuzufügen, dass Letzteres vorrangig sei und Ersteres getan werden könne, wenn Zeit dafür zur Verfügung stehe oder Geld vorhanden sei“ (ebd.). Das Verhältnis zwischen Verkündigung und sozialer Aktion müsse am Beispiel von Jesus definiert werden: „Jesus ist unser einziges vollkommenes Vorbild. Wenn er als Mensch gewordener Gott dachte, er sollte – ja vielmehr müsste – einen großen Teil seiner potenziellen Zeit der Verkündigung der Heilung der Kranken widmen, dann sind wir ganz bestimmt untreue Nachfolger, wenn wir es versäumen, ihm in seinen Fußstapfen zu folgen“ (ebd.).

Die Integration der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag war für einige eine Kröte, die es zu schlucken galt. Für andere war es ein Schritt zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis, das sie ausdrücklich begrüßten. Vom Einfluss der Mission auf gesellschaftliche Strukturen und staatliche Institutionen – von einer Transformations-Orientierung der Mission – war bis zu diesem Zeitpunkt nur am Rande die Rede gewesen. Zu sehr war man mit Grundsatzdebatten über die Legitimität der sozialen Verantwortung beschäftigt. Das sollte sich nur ein Jahr nach Grand Rapids mit der Konferenz in Wheaton ändern.

Wheaton (1983)

Die Konferenz in Wheaton fand unter dem Thema „Ich will meine Gemeinde bauen“ statt und wurde in drei so genannten „Tracks“ mit jeweils eigenständigem Verlauf durchgeführt. In allen Tracks wurde das Verhältnis zwischen Evangelisation und sozialer Verantwortung erläutert (Berneburg 1997, 178). Man wollte sich eingehend mit der Antwort des Evangeliums auf die Not der Welt befassen.

Transformation

Es waren die Beiträge in Track 3 unter dem Thema „Die Antwort der Kirche auf die menschliche Not“, welche eine neue Dimension in die evangelikale Mission einbrachten: die Dimension der Transformation. Was mit diesem Begriff gemeint ist, zeigt sich im Schlussbericht, der den Titel „Transformation: The Church in Response to Human Need“ trägt. Transformation wurde wie folgt definiert:

Transformation meint die Umwandlung eines Zustandes der im Gegensatz zu Gottes Absichten steht, in eine Situation, in der die Menschen die Fülle des Lebens in Harmonie mit Gott erleben können (Joh 10,10; Kol 3,8–15; Eph 4,13). Diese Umwandlung kann nur durch den Gehorsam von einzelnen Menschen und Gemeinschaften gegenüber dem Evangelium von Jesus Christus geschehen, dessen Kraft das Leben von Männern und Frauen verändert, indem es sie von der Schuld, der Macht und den Konsequenzen der Sünde befreit und sie befähigt, mit Liebe zu Gott und zum Nächsten zu reagieren (Röm 5,5) und zu neuen Kreaturen in Christus zu werden (2Kor 5,17). (Transformation 1987 [1983], II.11)

In Wayne Braggs Beitrag „From Development to Transformation“ finden sich weitere Definitionen von Transformation. Bragg verbindet den Transformationsgedanken mit dem Alten Testament:

Das Ziel der Transformation besteht darin, dass Gottes Absicht realisiert wird, wie sie im alttestamentlichen Konzept des Schalom – Harmonie, Friede, Gesundheit, Wohlergehen, Wohlstand, Gerechtigkeit – und im neutestamentlichen Bild des Reiches Gottes, das sowohl gegenwärtig als auch zukünftig ist, offenbart wird. Transformation ist darauf ausgerichtet, die bösen sozialen Strukturen des gegenwärtigen Zeitalters zu bekämpfen und durch die Mission der Kirche die Werte des Reiches Gottes im Gegensatz zu den Werten der „Fürsten und Gewalten“ dieser Welt einzusetzen. (Bragg 1987, 39)

Nach Bragg (1987, 40–46) hat Transformation damit zu tun, dass gerechte Beziehungen angestrebt werden und Völker in Freiheit gesetzt werden. Dies sei nur möglich, wenn durch Buße eine geistliche Transformation des einzelnen Menschen geschehe. Diese müsse aber weiter gehen und das soziale Leben der Menschen und die gesamte Schöpfung umfassen. Braggs Forderung, der Entwicklungsgedanke müsse vom Transformationsgedanken abgelöst werden, wurde im Schlussbericht von Track 3 aufgenommen. Der Begriff der Transformation sei historisch nicht belastet und theologisch besser geeignet, Gottes Absichten mit der Welt zum Ausdruck zu bringen (Transformation 1987 [1983], II.8–13). Bragg selbst meinte dazu:

Die so genannte „entwickelte“, moderne Welt braucht Transformation, um sich von ihrem säkularen, materialistischen Zustand zu befreien, der durch zerbrochene Beziehungen, Gewalt, wirtschaftliche Unterjochung und die Zerstörung der Umwelt gekennzeichnet ist. Und die „unterentwickelte“ Welt braucht die Transformation ihres unmenschlichen Zustandes von Armut, niedriger Lebenserwartung, Hunger, Schutzlosigkeit, Unterdrückung, Krankheit und Angst. Während „Entwicklung“ ein Begriff ist, welcher der Westen gerne auf die Dritte Welt anwendet, ist Transformation sowohl für die „überentwickelte“ als auch die „unterentwickelte“ Welt anwendbar. (Bragg 1987, 40)

Der Bericht von Track 3 führt aus, dass die gesamte Gesellschaft umgewandelt werden solle, so dass die Menschen in der Lage seien, so zu leben, wie Gott sich das Leben gedacht habe. Ungerechtigkeit müsse beseitigt werden und die Kirche müsse sich am Protest gegen diese beteiligen. Soziale Strukturen, ja die gesamte Kultur einer Gesellschaft müssten transformiert werden. Jesus sei das Vorbild der Transformation. Durch seine Taten der Barmherzigkeit und die Verurteilung von Ungerechtigkeit habe Jesus eine prophetische Leidenschaft gezeigt, die zu einer Gemeinschaft geführt habe, welche im Gegensatz zum Establishment gestanden habe.

 

Das Streben nach Transformation hat, wie Track 3 deutlich macht, durchaus eine kämpferische Note. Nicht verwunderlich ist denn auch, dass der Umstand beklagt wird, die Kirche und die christlichen Entwicklungsorganisationen würden durch ihr Schweigen zur Ungerechtigkeit den Status Quo nicht selten zementieren. Der Schlussbericht folgert, dass Mission heute umfassend definiert werden muss:

Die Mission der Kirche umfasst sowohl die Proklamation des Evangeliums als auch seine Demonstration. Deshalb müssen wir evangelisieren, Antworten auf drängende menschliche Nöte geben und uns für soziale Transformation einsetzen. (Transformation 1987 [1983], V.26)

Umfassende Mission

Berneburg (1997, 197–198) fasst den Beitrag in Wheaton zur Entwicklung des Missionsverständnisses in den folgenden vier Punkten zusammen: Erstens sprach man sich in Wheaton für einen umfassenden Heilsbegriff aus. Es wurden „biblische Horizonte eröffnet, die die individualistische Begrenzung auf die Bekehrung des einzelnen als heilsgeschichtliches Ziel des Wollens Gottes zu überwinden versprechen.“ Zweitens hat man unter dem Begriff der Transformation das umfassende Heil als in allen Lebensbereichen wirkend definiert. Drittens diente das Reich Gottes als Modell für die Transformation. Wheaton „hat die Reich-Gottes-Verkündigung zum Ausgangs- und Angelpunkt des missionarischen Denkens gemacht.“ Viertens ist erklärt worden, dass Mission gleichermaßen in Wort und Tat geschieht. Die Sendung der Kirche soll „sich nicht auf die Verkündigung des Heiles zur Rettung aus der Verlorenheit des Menschen beschränken, sondern gleichberechtigt die Auswirkungen des Heiles in den sozialen Beziehungen demonstrieren.“ Berneburg steht dieser Entwicklung kritisch gegenüber:

Ohne Zweifel drängt sich die Frage auf, ob mit dieser Parallelisierung von göttlichem ewigen Handeln und menschlichem Engagement, das immer der Vorläufigkeit der Weltzeit verhaftet bleibt, nicht letztlich das reformatorische Verständnis der Rechtfertigung allein durch Gottes Gnade aufgegeben wird. Die Stärke der evangelikalen Missionstheologie lag bisher darin, dass sie die Verkündigung der freien Gnade in Jesus Christus gegenüber jeder Verkürzung durch Ethisierung oder durch innerweltliche Veränderungsprogramme bewahrte. Nun steht selbst die evangelikale Missionstheologie in der Gefahr, die missionarische Heilsverkündigung zugunsten eines ganzheitlichen Engagements aus dem Zentrum ihres Anliegens zu verlieren. (Berneburg 1997, 199)

Während Berneburg bei der Transformations-Orientierung von einer „Verkürzung“ des Evangeliums spricht, ist seit Wheaton ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen der Auffassung, dass die Transformation eine biblische Erweiterung der Mission darstellt. Das macht deutlich, dass in dem knappen Jahrzehnt seit dem Lausanner Kongress sich die evangelikale Mission rasant gewandelt hatte. War in Lausanne noch zögerlich von der Integration der sozialen Verantwortung in die missionarische Aufgabe die Rede gewesen, wurde diese in Wheaton bereits vorausgesetzt. In Wheaton ging man einen Schritt weiter als in Lausanne und erörterte die Integration der strukturellen Veränderung als Teil der Mission. Lausanne berechtigte die sozial gesinnten Evangelikalen, ihre Tätigkeit als Teil der Mission Gottes zu betrachten. Wheaton ermutigte sie dazu in diese Richtung weiter zu marschieren und die Bekämpfung der Ursachen der sozialen Nöte in den Missionsauftrag zu integrieren. In Wheaton rückte erstmals der ganze Mensch mit all seinen Nöten und die ganze Welt mit all ihren Herausforderungen in den missionarischen Fokus. Die Welt war zur Arena der evangelikalen Mission geworden.

Manila (1989)

Unter dem Thema „Verkündigt Christus, bis er kommt – ein Ruf an die Gemeinde, das ganze Evangelium der ganzen Welt zu bringen“ fand 1989 der größte evangelikale Kongress seit Lausanne statt (auch Lausanne II genannt). Das Thema widerspiegelt das veränderte Gesicht der evangelikalen Mission im ausgehenden 20. Jahrhundert. Der Ausdruck „das ganze Evangelium“ bezog sich auf die Integration der sozialen Verantwortung in das Missionsverständnis. Das Bewusstsein, auf die Nöte der Welt eine biblische Antwort geben zu müssen, war in Manila evangelikales Allgemeingut. Das hatte nicht zuletzt mit dem Umstand zu tun, dass die evangelikale Bewegung repräsentativer vertreten war als früher. 60 Prozent der Teilnehmer kamen aus der Zwei-Drittel-Welt, 25 Prozent waren Frauen.10

Die Armen

Durch den richtungsweisenden Vortrag von Tom Houston traten die Armen in den missionarischen Fokus (Weth 1990, 100).11 Ausgehend von Lk 4,18, wo Jesus sagt, dass er den Armen gute Nachricht bringt, regte Houston zum Nachdenken über die Bedeutung der Armen in Bezug auf das Evangelium dar. Die Armen seien bei Jesus ein Sammelbegriff für die Blinden, Gefangenen und Unterdrückten. Wenn man also sage, dass Jesus kam, um den Armen gute Nachricht zu verkünden, müsse das Evangelium insbesondere den Benachteiligten dieser Welt gebracht werden (Houston 1990, 108–110). Houston forderte eine Evangelisation für die Armen: „Weil fast die Hälfte der Weltbevölkerung arm ist, wird die Welt erst dann evangelisiert werden, wenn die Gute Nachricht auch zu den Armen gebracht wird“ (Houston 1990, 113). Das erfordere konkretes Handeln:

Ich glaube, dass wir die Gute Nachricht von Jesus in einer feindlichen oder ungläubigen Welt überzeugend darstellen können, wenn wir durch Erbarmen das Anliegen der Armen und ihre Bedürfnisse ernst nehmen. Und ich glaube, dass wir in der Lage sein werden, den Säkularismus im Westen zu bekämpfen, wenn wir diese Art von Authentizität der Guten Nachricht Jesu wiederherstellen. (Houston 1990, 115)

Houston forderte die Reichen auf, ihren Beitrag in einer verarmten Welt zu leisten. Mehr als die Hälfte der Evangelikalen weltweit lebe im Reichtum. Würden sie ihren Reichtum mit dem Armen teilen, könnten die meisten Probleme der Welt einschließlich das des Hungers, der Armut und der Krankheit gelöst werden (Houston 1990, 115). Houston rüttelte die reichen Evangelikalen mit der Klage auf: „Während fast eine Milliarde Menschen in absoluter Armut leben, sind die Nachfolger Jesu in ihrem Begehren, noch mehr zu besitzen, kaum von den anderen zu unterscheiden“ (Houston 1990, 114). Sein Hauptanliegen fasste Houston in der Forderung zusammen, dass das Evangelium mit Wort und Tat und Zeichen verkündigt werden müsse (Houston 1990, 116). Mit Houston sprach sich zum ersten Mal ein anerkannter evangelikaler Leiter, der weder dem radikalen Segment angehörte noch aus dem Süden stammte, dezidiert für eine Evangelisation der Armen aus.

Soziale Verantwortung

Die soziale Verantwortung war ein wichtiges Thema in Manila. Der Social Concern Track befasste sich mit der Bedeutung sozialen Handelns. Es ging weniger um eine theologische Erörterung der sozialen Verantwortung als um Erfahrungsberichte und Anregungen für die Praxis. Dieser Umstand ist bemerkenswert. Die soziale Verantwortung war unterdessen in die Missionstheologie integriert worden, so dass es nicht mehr nötig war, ihre Berechtigung zu diskutieren. Mission ohne soziale Verantwortung war unter den Evangelikalen nicht mehr denkbar.

Der Abschlussbericht des Social Concern Tracks zeugt von einer gründlichen theologischen Reflexion der sozialen Verantwortung als Teil der Mission.12 Unter dem Titel „Das ganze Evangelium“ wird der Abschlussbericht mit folgenden Statements eröffnet:

Die Gute Nachricht besteht darin, dass Gott sein Königreich der Gerechtigkeit und des Friedens durch die Menschwerdung, den Dienst, den Sühnetod und die Auferstehung seines Sohnes Jesus Christus errichtet hat. Das Reich Gottes erfüllt das Ziel der Schöpfung Gottes, indem es der Menschheit und der ganzen Schöpfung Ganzheit verleiht. Im Reich Gottes erhalten die Menschen allein aus Gnade einen neuen Status vor Gott und den Menschen, eine neue Würde und einen neuen Wert als Töchter und Söhne, und sie werden bevollmächtigt durch seinen Geist, Haushalter der Schöpfung zu sein und sich in einer neuen Gemeinschaft gegenseitig zu dienen. Das Reich Gottes wird in einem neuen Himmel und einer neuen Erde seine Vollendung erst dann erfahren, wenn Jesus wiederkommt. Diejenigen, die materiell arm sind oder ohnmächtig und sich von dieser Guten Nachricht ansprechen lassen und darauf antworten, werden durch den Heiligen Geist bevollmächtigt, und ihnen wird von anderen Gliedern der Gemeinde des Reiches Gottes gedient werden, damit sie ihr ganzes Menschsein als Haushalter der Schöpfung Gottes erfahren und erleben. Die Nicht-Armen, die arm im Geiste werden, empfangen wahre Würde, die ihren falschen Stolz auf ihre Reichtümer ersetzt und sie befreit, wirklich menschlich werden zu können mit einer Leidenschaft für Gerechtigkeit für die Armen. Sie müssen sich auf die Kraft des Geistes Gottes verlassen, der sie befähigt, zu dienen statt zu kontrollieren. Sie kommen in eine neue Familie, die sie annimmt aufgrund dessen, was sie sind und nicht aufgrund irgendwelcher Leistungen, die sie erbracht haben – in materieller Hinsicht oder hinsichtlich ihres Status. Die Aufgabe der Evangelisation unter der Mehrheit der unerreichten Armen wird in erster Linie von denen ausgeführt werden, die selber arm sind, mit angemessener Unterstützung von wirtschaftlich Bessergestellten, die geistlich arm sind. (Samuel 1990, 151)

Dieses Statement widerspiegelt das umfassende Missionsverständnis gut, wie es sich als Folge von Lausanne I entwickelte: Das Reich Gottes ist eine grundlegende theologische Kategorie für die Mission der Kirche. Die Menschen werden aus Gnade gerecht, aber es geht auch darum, dass sie gute Haushalter der Schöpfung Gottes sein können. Und die Armen spielen eine missiologische Schlüsselrolle.

Im Abschlussbericht des Social Concern Track wird unter dem Titel „Die Wirkung des ganzen Evangeliums“ ein Maßnahmenkatalog aufgestellt, dem sich die Evangelikalen verpflichten sollten. In diesem Katalog treten einige radikale Anliegen hervor.13

Seit Lausanne I sind die sozialen Nöte der Menschen eskaliert, und die Möglichkeiten, diesen Nöten zu begegnen, sind geringer geworden. Wenn wir die Menschen mit den Augen Jesu sehen, dann erfordert die Verkündigung und Veranschaulichung des ganzen Evangeliums, dass die evangelikalen Christen sich zusammentun und gemeinsam vorgehen, um

• mit denjenigen Aspekten der Guten Nachricht zu beginnen, die einen direkten Bezug zu den Nöten und Hoffnungen der Menschen haben.

• dafür zu sorgen, dass die den Menschen von Gott gegebene Kraft freigesetzt werden kann, damit sie ihre christliche Theologie und christlichen Werte innerhalb ihrer eigenen Kultur und ihrer Lebenszusammenhänge entwickeln können.

• überall, wo es nur möglich ist, mit anderen Christen zusammenzuwirken, um die Weltevangelisation und das soziale Engagement weiterzubringen und voranzutreiben, ohne dabei die Einladung zu unterschlagen, dass wir Jesus folgen sollen.

• teilzuhaben am prophetischen Dienst, der sich auf eine ordentliche Sozialanalyse der Zusammenhänge stützt, in denen die Gute Nachricht verkündet werden soll.

• sich klarzumachen, dass die Quelle von einem Großteil des Geldes, das zur Weltevangelisation eingesetzt wird, dem exzessiven Reichtum der Ersten Welt entspringt, von dem wiederum ein Großteil aus Zinszahlungen der armen Länder stammt. Lassen Sie uns die Gelder nicht benutzen, um arme Menschen einzusperren, sie zu beschwichtigen oder zu frustrieren. Arbeiten Sie auf eine rasche Lösung des weltweiten Schuldenproblems hin, das manche christliche Beteiligung in der Entwicklungsarbeit zum Scheitern bringt.

• deutlich zu machen, dass Gott eine gute Regierung gefällt, besonders wenn sie Flüchtlinge aufnimmt, und dass er Gericht hält über jene, die ständig das Böse belohnen, insbesondere diejenigen, die mit Gewalt die Hoffnungen der Menschen auf Frieden und Gerechtigkeit zunichte machen. (Samuel 1990, 151–152)