Kirche ist Mission

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From the series: Edition IGW #2
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kulturell

Kultureller Wandel führt zu theologischen Veränderungen, und wenn sich die Theologie verändert, verändert sich auch die Mission. Mission findet nicht in einem geschichtlichen Vakuum statt, sie reagiert auf kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen und prägt die Kultur ihrerseits.

Die größte kulturelle Veränderung in Bezug auf die Mission seit Edinburgh ist das Ende des Kolonialismus. Mission und Kolonialismus waren eng miteinander verbunden. Ähnlich wie die Pax Romana zur Zeit des Apostels Paulus Voraussetzung für die schnelle Verbreitung des Evangeliums im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung war, war der Kolonialismus der Rahmen, der den Erfolg der Mission im 19. Jahrhundert ermöglichte. Doch diese Verbindung hatte auch ihre Schattenseiten. Von Seiten der ehemals kolonialisierten Länder ist der Vorwurf erhoben worden, dass die Missionare bewusst oder unbewusst Pioniere des westlichen Imperialismus gewesen seien (Bosch 1991, 304). Es gab zwar Kritik von Missionaren an die Adresse der lokalen Kolonialadministrationen. Oft waren die Missionare die einzigen, die für die Einheimischen Partei ergriffen, aber die Legitimität des Kolonialismus wurde nicht in Zweifel gezogen. Orlando Costas, ein evangelikaler Missiologe aus Puerto Rico, hatte Recht als er sagte, dass die Mission ein Instrument der Dominanz gewesen sei (Costas 1974b, 245). Das Bewusstsein der Richtigkeit dieser Kritik hat im ausgehenden 20. Jahrhundert Raum geschaffen für eine grundlegende Veränderung der Missionspraxis.

Der Kolonialismus war eng verbunden mit dem Geist der Aufklärung. Obwohl die Evangelikalen der Ideologie der Aufklärung harten Widerstand leisteten, sind doch manche ihrer Ergebnisse auch in die Theorie und Praxis der Mission eingeflossen. Die Vernunft wurde ein wesentliches Element der Theologie. Der Glaube an die menschliche Machbarkeit erhielt durch den wirtschaftlichen und technischen Vorsprung des Westens kräftigen Aufschub. Als in Edinburgh die große Missionskonferenz stattfand, zweifelte kaum jemand an der Überlegenheit der westlichen Kultur. Die Ineinssetzung von abendländischer christlicher Kultur mit dem Evangelium führte dazu, dass die Missionen zusammen mit der Bibel auch die westliche Lebensweise in die Kolonien exportierten. Diese Überlegenheit ist unterdessen Vergangenheit, aber die Verquickung von Mission und Kolonialismus ist eine Last der Geschichte, die noch nicht überwunden ist.

Die kulturellen Veränderungen, die heute auf die Mission einwirken, haben nicht zuletzt mit der massiven Verschiebung des Christentums von Nord nach Süd zu tun. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Christentum hauptsächlich eine westliche Angelegenheit. Der überaus größte Teil der Christen lebte in der nördlichen Erdhälfte. Bedingt durch den Erfolg der Mission in den Ländern des Südens und den Niedergang der Kirche in ihren europäischen Stammlanden, hat sich das Gesicht des Christentums entscheidend verändert. Heute befindet sich der weitaus größte Teil der Evangelikalen einschließlich der Pfingstkirchen in der südlichen Hemisphäre. „Das Zeitalter des westlich geprägten Christentums wird noch zu unseren Lebzeiten zu Ende gehen und das neue Zeitalter des ‚südlichen Christentums‘ bricht an“ (Jenkins 2006, 14). Missionare werden längst nicht mehr nur von Norden nach Süden ausgesendet, sondern zunehmend von Süden nach Norden. Die Unterteilung in sendende und empfangende Länder existiert nicht mehr.

Diese Kräfteverschiebung hat nachhaltige Auswirkungen auf die Kirche und die Mission. Das entscheidende Element in diesem Zusammenhang war das Ende des kolonialen Zeitalters. Der Peruaner Samuel Escobar (2002, 12) trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Das Modell der traditionellen Mission, das aus dem Christentum und dem Zeitalter des Kolonialismus hervorging, funktioniert heute nicht mehr.“ Die Untauglichkeit des traditionellen Modells hat damit zu tun, dass mit dem Ende des Kolonialismus die Länder des Südens ihre politische und kulturelle Unabhängigkeit fanden. Im Zuge dieser Unabhängigkeit erwachten die Kirchen der ehemals kolonialisierten Länder zur theologischen Selbständigkeit. Sie erkannten, dass die westliche Theologie keine neutrale Theologie ist und dass sie ihre Ergebnisse oft zu Unrecht über den eigenen Kontext ausgedehnt hatte. Lange Zeit erachtete man die Art und Weise wie im Westen Theologie betrieben wurde als neutral. Theologie war eine akademische Disziplin und wurde in der Sicherheit des Elfenbeinturms betrieben. Sie entstand im Zentrum der Macht und war darum über weite Strecken eine bürgerliche Theologie, welche den Erhalt der Macht zementierte.

Seit die Kirchen des Südens ihre theologische Mündigkeit entdeckt haben, wird auch evangelikale Theologie von einer neuen Perspektive aus betrieben – aus der Perspektive der Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Es ist ein Unterschied, ob man sich in Zürich oder Hamburg in relativer Sicherheit bewegt oder in Rio de Janeiro oder Bombay unter den Armen lebt. Wer die Bibel mit vollem Kühlschrank im Haus liest, versteht sie anders als einer, der in einer Blechhütte sitzt oder sich mit den Armen solidarisiert.

hermeneutisch

Damit ist eine hermeneutische Veränderung angesprochen, die zu unumkehrbaren Umbrüchen in der Mission geführt hat. Es ist eines der Anliegen dieses Buches, diese hermeneutischen Veränderungen nachzuzeichnen und zu zeigen, welche Möglichkeiten sie für die Erfüllung des Missionsauftrags in einer sich ständig verändernden Welt bieten. Die Hermeneutik – die Lehre von den Auslegungsgrundsätzen der Bibel – ist für das Missionsverständnis von zentraler Bedeutung. Dieser Punkt kann nicht genug betont werden, denn Mission muss ständig von der Bibel her begründet und ihre Praxis von ihr überprüft werden. Wie aber begründen wir Mission?

Traditionell wurde die Mission mit dem Tod und der Auferstehung von Jesus und dem Missionsbefehl von Mt 28 begründet. Diese Missionsbegründung reichte für das koloniale Zeitalter aus, zumal man Mission hauptsächlich als Herausrettung einzelner Menschen aus der Welt verstand. Für unsere veränderte Weltlage aber ist die traditionelle Begründung eine zu schmale Basis, um Mission langfristig zu sichern. Diese These trifft die evangelikale Theologie an einer empfindlichen Stelle, haben die Evangelikalen sich doch immer durch ihr Bibel- und Missionsverständnis definiert. Ich werde diese These im Laufe dieses Buch erläutern und begründen. Schon jetzt kann gesagt werden, dass Mission aus biblischer Sicht ein viel umfassenderes Geschehen ist als die Rettung von Seelen aus der Welt heraus. Die Begründung der Mission darf sich nicht einzig auf das Kreuz und den Missionsbefehl von Mt 28 stützen – so wichtig diese auch sind. Und die Praxis der Mission muss weiter greifen als die bloße Verkündigung des Evangeliums – auch wenn dies in Zukunft die zentrale Aufgabe bleibt.

Die große missiologische Veränderung im ausgehenden 20. Jahrhundert bestand in hermeneutischer Hinsicht darin, dass Mission nicht mehr nur vom Missionsbefehl her begründet wurde, sondern von der gesamten Bibel her. Die missiologische Basis wurde sozusagen erweitert. Es gab nicht mehr nur einzelne Bibelstellen, welche eine Begründung für die Mission liefern, sondern die ganze Bibel wurde missiologisch gedeutet. Die traditionelle Mission wurde hinterfragt und kritisiert. Dies geschah nicht aus mangelndem Interesse an der Mission. Im Gegenteil: Man nahm die Brille des Kolonialismus ab und versuchte Kirche und Mission von der Bibel her neu zu definieren. Konkret waren es drei Neuerungen, die einen hermeneutischen Paradigmenwechsel herbeiführten, der bedeutende Veränderungen in der Missionstheorie zur Folge hat.

Die erste Neuerung, die zu einem veränderten Missionsverständnis geführt hat, bestand darin, dass der Kontext in den Erkenntnisprozess einbezogen wurde. In der Solidarität mit den Armen erkannte man, dass es keine neutrale Auslegung der Bibel gibt und dass dort die Botschaft des Evangeliums am klarsten erkannt wird, wo Auslegung und Dienst am Nächsten Hand in Hand gehen. Es entstand eine Hermeneutik der Betroffenheit, die ihr Zentrum nicht in der akademischen Disziplin hat, sondern im Dienst am Mitmenschen. Es setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Kontext (die Situation) in dem sich der Ausleger oder Missionar befindet, sein Verständnis der Bibel beeinflusst. Damit aber war das Ende einer neutralen und objektiven westlichen Leseart der Bibel besiegelt.

Die zweite Neuerung, die Anstoß zu einem veränderten Missionsverständnis gab war, dass Mission nicht mehr nur vom Tod und der Auferstehung Jesu aus begründet wurde, sondern von seinem Gesamtwerk her. Nicht mehr nur das Leiden und Sterben von Jesus und seine Auferstehung wurden als Grundlage der Mission begriffen, sondern ebenso seine Menschwerdung und damit seine Identifikation mit den Leidenden. Die Stellung Jesu zu den Sündern und den Armen und seine Konfrontation mit den Mächtigen wurden zu wichtigen Grundlagen für die Art und Weise wie Mission geschehen soll. Es kam zu nichts weniger als einer veränderten Christologie (Lehre von Christus). Die evangelikale Christologie des Westens besteht im Wesentlichen darin, dass Jesus geboren wurde, um zu sterben. Das ist natürlich richtig, aber es ist nicht einmal die halbe Geschichte. Jesus kam um ein Leben zu leben, das seine Nachfolger nachahmen sollen. Wenn das Gesamtwerk Jesu Mission definiert, dann muss Mission einen konkreten Bezug zur Welt mit ihren Nöten haben. Sie darf sich nicht auf die Verkündigung beschränken, denn das hat Jesus auch nicht getan.

 

Die dritte Neuerung war der gewichtige Umstand, dass das Alte Testament als Missionsbegründung herangezogen wurde. Im Leben des alttestamentlichen Israel entdeckte man Elemente, die für eine Missionspraxis mit einem starken Weltbezug relevant sind. Israel erlebte nicht eine bloße geistliche Erlösung. Israels Erlösungwar, wie der Exodus zeigt, ebenso eine politische und gesellschaftliche Befreiung. Die Gesetze, die Jahwe seinem Volk gab, man denke an das Jubeljahr, waren darauf ausgerichtet, dass Israel volles Leben und umfassendes Heil erfahren konnte. Mit dem Blick auf das Alte Testament erkannte man, dass der Gott der Mission das Heilsein seiner ganzen Schöpfung will und dass Mission die Transformation (Umwandlung) der Strukturen (Gesetze, Gesellschaft, Staat) einschließen muss. Diese Erkenntnis wurde insbesondere in den 1980er Jahren auf die evangelikale Missionstheorie angewendet, wenn sie auch nicht ohne Widerspruch blieb.

Die skizzierten Veränderungen vollzogen sich fast ausschließlich unter den Evangelikalen der Zwei-Drittel-Welt. Dieser Umstand kann uns im Westen allein schon wegen des neuen Kräfteverhältnisses im weltweiten Christentum nicht gleichgültig sein. Während in Edinburgh von den 1400 Teilnehmern gerade einmal 17 Personen aus dem Süden kamen, befindet sich das Zentrum des erwecklichen Christentums heute in der südlichen Hemisphäre. Nachdem der Westen während Jahrhunderten seine Sicht des Evangeliums in die Welt exportierte (und dabei zweifellos auch viel Gutes bewirkte), ist es an der Zeit, dass wir im Westen auf unsere Brüder und Schwestern im Süden und im Osten hören. Sie haben in der Solidarität mit den Armen eine missiologische Sichtweise entwickelt, welche für unsere veränderte Welt mit ihren globalen Verwerfungen äußerst relevant ist.

missiologisch

Die angedeuteten kulturellen und hermeneutischen Veränderungen, haben seit den 1960er Jahren zu einer veränderten evangelikalen Missionstheorie geführt. Diese Veränderung kann in den Stichworten Evangelisation, soziale Verantwortung, Transformation und Inkarnation zusammengefasst werden. Sie beschreiben Stadien einer unumkehrbaren Entwicklung, die Anstoß zu einem Missionsverständnis gegeben haben, das auf der gesamten Botschaft der Bibel beruht.

Evangelisation

Bis in die 1960er Jahre setzten die Evangelikalen Mission weitgehend mit Evangelisation gleich. Es gab zahlreiche soziale Tätigkeiten im Umfeld der Mission, aber dieser Einsatz wurde nicht als missionarische Verpflichtung verstanden, sondern der Pflicht der Nächstenliebe zugeordnet. Soziale Verantwortung wurde nicht in erster Linie als Aufgabe der Kirche und der Mission gesehen, sondern als individuelle Pflicht einzelner Christen.

Die Evangelisation wurde als die vorrangige Aufgabe der Kirche verstanden. Es gab noch keine theologische Integration der sozialen Verpflichtung in den Missionsauftrag. Man befand sich im Grunde genommen immer noch auf dem Terrain von Edinburgh, wo Mission als Verkündigung im Vordergrund stand. So sagte Billy Graham an einem Kongress über Evangelisation in Berlin 1966, dass die soziale Verantwortung unter anderem deshalb wichtig sei, weil sie eine Brücke zur Evangelisation bildet (Johnston 1984, 162–163). Die soziale Verantwortung besaß, wie diese Aussage von Billy Graham zeigt, zu jenem Zeitpunkt keine eigenständige missionarische Legitimation. Mission wurde als die verbale Verkündigung der Heilstatsache von Golgata und dem Ruf zum Glauben definiert und diese Aufgabe wurde als das einzige Ziel der Mission betrachtet.

Zweifellos war es wichtig, dass sich die Evangelikalen zur Evangelisation bekannten und darauf bestanden, dass das Heil einzig in Christus zu finden ist. In den ökumenischen Theologien war dieses Ziel zu jenem Zeitpunkt weitgehend aufgegeben worden, und den sozialen Aufgaben wurde vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Wenige Jahre vor Berlin hatte die ökumenische Bewegung eine Humanisierung und Politisierung des Heilsbegriffs eingeleitet. Von diesem Umstand her waren die Ängste der Evangelikalen vor der Preisgabe der Mission als Evangelisation verständlich. Die Veränderungen in der ökumenischen Missionstheologie und das Bewusstsein weltweiter sozialer Nöte blieben dennoch nicht ohne Auswirkungen auf die Evangelikalen und ihr Missionsverständnis.

Mitte der 1960er Jahre erwachte das soziale Gewissen der Evangelikalen wieder, das in der frühen evangelikalen Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt hatte. In jene Zeit fiel, zusammen mit großen evangelistischen Bemühungen, eine intensive soziale Tätigkeit der Evangelikalen (Tidball 1999, 261–267). Dabei spielten so bekannte Namen wie John Wesley, William Wilberforce, Charles Finney und Jonathan Edwards eine wichtige Rolle. Sie alle hatten ein traditionelles Evangelisationsverständnis, gleichzeitig war die soziale Betätigung, bis hin zum politischen Einsatz einzelner, ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Die soziale Tätigkeit kam auch auf struktureller Ebene zum Ausdruck. So hatte die Evangelische Allianz, die 1846 in London gegründet wurde, von Anfang an eine soziale Agenda. Sie wurde namentlich auch deshalb gegründet, um für das Recht auf Religionsfreiheit auch für die Angehörigen anderer Religionen einzutreten (Randall und Hilborn 2001, 45–70).

Mit dem Aufkommen des protestantischen Fundamentalismus in Nordamerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerbrach in der so genannten „großen Wende“ das Miteinander von Evangelisation und sozialer Aktion. Edinburgh lag nur einige Jahre zurück, aber die Situation hatte sich für die Kirche bereits verschlechtert. Vom Geist der Aufklärung beflügelt, begannen liberale Ideologien wie der Darwinismus und die Bibelkritik ihren Marsch durch die theologischen Institutionen. Die Evangelikalen mobilisierten im Kampf gegen den Liberalismus ihre Kräfte für die Verteidigung des Glaubens und die Selbsterhaltung. Eine zunehmend pessimistische Weltsicht als Folge des Ersten Weltkriegs verstärkte den Trend zum Rückzug aus der gesellschaftlichen Verantwortung. In der Folge konzentrierte man sich auf die Evangelisation als alleinige Aufgabe der Kirche. Man sah in der Welt ein sinkendes Schiff, aus dem die letzten Seelen zu retten waren – ein Bild, das auf den Evangelisten und Erweckungsprediger Dwight Moody zurückgeht und bis heute den Missionsgedanken der Evangelikalen prägt.

Soziale Verantwortung

In den 1970er Jahren versuchten die Evangelikalen an das sozialethische Erbe der frühen evangelikalen Bewegung anzuknüpfen. Am Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974 begann die moderne evangelikale Bewegung sich erstmals gründlich mit der sozialen Aufgabe zu befassen. Das Verhältnis zwischen Verkündigung und sozialer Verantwortung wurde in die missionstheologische Diskussion aufgenommen und die soziale Verantwortung im Schlussdokument des Kongresses, in der Lausanner Verpflichtung, wie folgt beschrieben (Artikel 5):

Wir bekräftigen, dass Gott zugleich der Schöpfer und Richter aller Menschen ist. Wir müssen deshalb seine Sorge um Gerechtigkeit und Versöhnung in der ganzen menschlichen Gesellschaft teilen. Sie zielt auf die Befreiung der Menschen von jeder Art von Unterdrückung. Da die Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, besitzt jedermann, ungeachtet seiner Rasse, Religion, Farbe, Kultur, Klasse, seines Geschlechts oder Alters, eine angeborene Würde. Darum soll er nicht ausgebeutet, sondern anerkannt und gefördert werden. Wir tun Buße für dieses unser Versäumnis und dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschließend angesehen haben. Versöhnung zwischen Menschen ist nicht gleichzeitig Versöhnung mit Gott, soziale Aktion ist nicht Evangelisation, politische Befreiung ist nicht Heil. Dennoch bekräftigen wir, dass Evangelisation und soziale wie politische Betätigung gleichermaßen zu unserer Pflicht als Christen gehören. Denn beide sind notwendige Ausdrucksformen unserer Lehre von Gott und dem Menschen, unserer Liebe zum Nächsten und unserem Gehorsam gegenüber Jesus Christus. Die Botschaft des Heils schließt die Botschaft des Gerichts über jede Form der Entfremdung, Unterdrückung und Diskriminierung ein. Wir sollen uns nicht scheuen, Bosheit und Unrecht anzuprangern, wo immer sie existieren. Wenn Menschen Christus annehmen, kommen sie durch Wiedergeburt in sein Reich. Sie müssen versuchen, seine Gerechtigkeit nicht nur darzustellen, sondern sie inmitten einer ungerechten Welt auch auszubreiten. Das Heil, das wir für uns beanspruchen, soll uns in unserer gesamten persönlichen und sozialen Verantwortung verändern. Glaube ohne Werke ist tot.

Seit der Niederschrift dieses Artikels ist die soziale Verantwortung aus der evangelikalen Mission nicht mehr wegzudenken. Freilich geschah dies nicht ohne Widerspruch und unter heftigen Auseinandersetzungen. Die Frage nach der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag führte in der Folge zu beträchtlichen Spannungen in der evangelikalen Bewegung. Die späten 1970er Jahre waren durch offen geführte Kontroversen in dieser Frage geprägt, und erst Anfang der 1980er Jahre gelang es, sich auf einen Konsens zu verständigen.

Transformation

In den frühen 1980er Jahren gelangte das Thema der Transformation auf die Tagesliste der Evangelikalen. Unterdessen hatte sich der Konsens verfestigt, dass zur Aufgabe des Christen in der Welt die soziale Verantwortung gehört. Dies führte zur Frage, wie der sozialen Gerechtigkeit auf struktureller und institutioneller Ebene zum Durchbruch verholfen werden konnte. Man wollte nicht nur Not lindern, sondern früher ansetzen und sie möglichst verhindern. Am Missionskongress in Wheaton 1983 wurde das Transformationskonzept in die evangelikale Missionstheorie eingebracht. Mission und Entwicklungshilfe sollten sich nicht länger nur auf Verkündigung und Hilfeleistungen beschränken, sondern auf die Umwandlung (Transformation) der Gesellschaft hinarbeiten und Strukturen verändern. Nicht mehr nur der einzelne Mensch in seiner Verlorenheit und in seiner sozialen Not stand im Fokus des missionarischen Geschehens, sondern die gesamte Gesellschaft.

Während der Gedanke der Transformation in der Zwei-Drittel-Welt in der Folge immer stärker zum missionarischen Ziel avancierte, wurde diese Neuorientierung von den Evangelikalen im Westen mit Vorbehalten aufgenommen. Es wurde die Befürchtung geäußert, das historische Ziel der Mission – die Rettung von Menschen – könnte aus den Augen verloren werden. Und tatsächlich war nach Wheaton die Rettung von Seelen und der Aufbau der Kirche für viele Evangelikale nicht mehr das einzige Ziel der Mission. Der Missionsauftrag wurde um den Transformationsgedanken erweitert und dieser vor allem in den Ländern des Südens in der Praxis erprobt.