Amakusa Shiro - Gottes Samurai

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Im weit entfernten Manila erwartete man, dass der Bischof, der Hirte dieser verfolgten Herde, standhaft ausharren möge. Doch die Kraft begann ihn mehr und mehr zu verlassen. Jeder von ihnen konnte zu jeder Stunde des Tages und der Nacht Opfer einer unvorsichtigen Bemerkung oder eines Verrats werden. Er konnte einfach nicht mehr, er hatte genug von diesem Land mit seinen unaufhörlichen Kämpfen um Macht und Einfluss, in denen das Leben seiner Schäflein nicht das geringste galt.

Er hatte lange Diskussionen mit Pater Jakob geführt, einem alten portugiesischen Priester, der sich weigerte, das Land zu verlassen. Seit vier Jahren kümmerte dieser sich um die religiöse Erziehung des jungen Shirō, den dessen Vater, der alte Samurai Masuda Jinbei, zu diesem Zweck bei einer christlichen Familie in Nagasaki untergebracht hatte. Pater Jakob fasste schon bald große Zuneigung zu seinem hochbegabten Schüler. Der Junge offenbarte eine seltene Intelligenz und eine unglaubliche Auffassungsgabe bei seiner Begegnung mit der für ihn vollkommen neuen christlichen Kultur. Shirō kam oft in diese Kapelle, die verborgen im labyrinthischen Gewirr der Gassen des alten christlichen Viertels eingerichtet worden war. Bald schon fühlte er sich hier wie zu Hause. Er betete in der Gesellschaft anderer Christen, die gleich ihm heimlich hierher zu kommen pflegten, und jedermann unterhielt sich gern mit ihm.

Shirō zeigte sich begabt in allen Künsten. Mit Leichtigkeit durchdrang sein Verstand die Bedeutung der heiligen Kommunion und all die geheimnisvollen Lehren und liturgischen Texte der fremden Religion, die so verschieden war von den Traditionen seines Landes. Auch Portugiesisch lernte er mit Leichtigkeit. Generell waren sein Denkvermögen und seine Urteilskraft schon früh sehr ausgeprägt. Seine Fragen waren stets vernünftig und er pflegte sie oft genau dann zu stellen, wenn Pater Jakob gerade zu dem Schluss gekommen war, dass es an der Zeit sei, das entsprechende Thema anzuschneiden. Der Junge hatte die geschickten Hände eines Künstlers, und nicht selten zeichnete er aus reinem Vergnügen Miniaturen oder Zeichnungen aus den Sammlungen der heiligen Schriften ab.

Masuda Jinbei hatte gewollt, dass sein Sohn während seines Aufenthaltes im christlichen Viertel Nagasakis getauft würde, was auch geschah. Doch nie hatte er den Wunsch geäußert, dass Shirō zum Priester ausgebildet werden sollte. Mehr oder weniger regelmäßig besuchte ein alter Samurai namens Matsura Shigenobu den Jungen, brachte ihm Neuigkeiten von seiner Familie, die in der Provinz Higo geblieben war, und fragte ihn nach seinen Fortschritten im Lernen aus. Niemals verließ er den Jungen, ohne ihm nicht zuvor im kleinen Innenhof des ehemaligen Jesuitenkollegs einige Lektionen im kenjutsu zu geben. In dieser Kunst zeigte der Schüler sich im übrigen nicht minder begabt als auf allen anderen Gebieten. Der Schwertmeister hatte erklärt, dass es der Wunsch des Vaters sei, dass Shirō sich auch im Schwertkampf vervollkommne, so dass er die Fähigkeiten eines echten Samurai erwerbe, und dass er nicht zuletzt aus diesem Grund immer wieder nach Nagasaki kam.

So voll Lebensfreude und so reinen Herzens war dieser Shirō, den der Bischof und die anderen Christen Jerónimo nannten, dass einfach jedermann, der mit ihm in diesen Jahren in Berührung kam, ihn liebgewann. Und nun waren diese Krieger gekommen und hatten den Jüngling aufgefordert, ihnen zu folgen. Er sollte die schützenden Mauern des Hauses seiner Adoptivfamilie verlassen. Und das zu einer Zeit, da die christlichen Kirchen, die es noch auf Amakusa und den Inseln des Südens gab, verlassen, verwüstet oder verbrannt waren und die Priester, sofern sie noch lebten, im Lande verstreut und von der Obrigkeit verfolgt. Jedes öffentliche Sich-Bekennen zur christlichen Religion war undenkbar geworden, seit der Shōgun das Christentum zu einer unduldbaren Herausforderung seiner Macht erklärt hatte.

Zweifel, düsteren Schatten gleich, durchdrangen die Gedanken des Bischofs, von denen Pater Jakob nichts ahnen konnte, als er ihn nach dem langen Gespräch über die endgültige Abreise Shirōs verlassen hatte. Mit diesen dunklen Wolken würde er selbst zurande kommen müssen. Das Abbild Christi am Kreuz, matt erleuchtet von einigen Kerzen, schwieg.

Pater Jakob und die Gesamtheit der verstreut in der Stadt lebenden christlichen Gemeinde waren überzeugt von der Wichtigkeit der Mission Shirōs im Zusammenhang mit den Unruhen auf Amakusa. Er jedoch konnte diese Überzeugung nicht teilen. War der Platz dieses Jungen wirklich an der Spitze des im Entstehen begriffenen Aufstands? Würde er tatsächlich bereit dafür sein, dem verheerenden Gegenschlag des Shōguns standzuhalten, den eine Rebellion auslösen würde? Wer würde ihm beistehen, wenn seine noch kindlichen Augen die Schrecken des Krieges entdecken würden? Wessen Werkzeug würde er sein? Niemand konnte voraussehen, wohin das alles führen würde. Der Bischof fürchtete, dass all die armen Bauern am Ende nichts als Opferfiguren in einem politischen Machtspiel sein würden. Doch zugleich war er überzeugt, dass nichts den Aufstand mehr aufhalten konnte. Außer vielleicht, wenn die Ankunft Shirōs im letzten Moment verhindert werden könnte. Sein Auftritt auf der Bühne des Geschehens war von den Anführern des Aufstands perfekt vorbereitet worden. Unglaubliche Geschichten über ihn, die eher den Aberglauben als den Glauben nähren sollten, waren geschickt auf den Inseln verstreut worden. Würde Shirō hingegen nicht erscheinen, könnte dies der Bewegung einen tödlichen Schlag versetzen und die Rebellion im Keim ersticken.

Große Furcht befiel den Bischof. Er hatte das Gefühl, in einem Schraubstock zu stecken, der immer fester zugedreht wurde. Im Oktober war Pater Marcello Maltrilli zum Tode durch ana-tsurushi verurteilt worden. Man hatte dem Bischof davon berichtet, wie der Pater geknebelt an den Ort der Folter gebracht worden war, eine Seite des Kopfes kahlgeschoren und mit roter Erde gefärbt, was als Zeichen großer Schande galt. Pater Maltrilli widerstand mehrere Tage, bis er unter grässlichen Qualen, doch ohne seine Würde verloren zu haben, starb. Man hatte ihn an den Füßen aufgehängt, und sein Kopf hing über einer Grube, die mit Unrat gefüllt war, dessen Gestank ihn langsam ersticken ließ. Selbst Cristóvão Ferreira, der portugiesische Ordensvorsteher, hatte einige Jahre zuvor seinem Glauben abgeschworen, nachdem er sechs Stunden der Grubenfolter ausgesetzt gewesen war. Und das nach dreißig Jahren als Missionar in Japan.

Schauder durchliefen den Bischof bei diesen schrecklichen Gedanken. Er würde solch eine Kraft wie Pater Maltrilli nicht aufbringen können. Niemals. Spät an diesem Abend musste er sich eingestehen, dass er seiner Mission nicht gewachsen war.

Es hatte während des Tages keine Neuigkeiten gegeben. Das bedeutete, dass der Aufbruch Shirōs und seiner Leibgarde in den frühen Morgenstunden erfolgreich verlaufen war. Sie mussten ihr Ziel bereits erreicht haben. Aber war das ein Grund zur Freude?

Er hatte plötzlich Gewissensbisse, weil er sich insgeheim gewünscht hatte, dass die Reiter die Küste nicht erreichen würden. So viel konnte geschehen auf den unsicheren Wegen. Und ein Trupp aus vier dahineilenden Reitern war leicht aufzuspüren.

Er versenkte sich ins Gebet und bat den Herrn um Vergebung dafür, dass er einen Augenblick lang gehofft hatte, dass ein rascher Tod Masuda Shirō und die Abgesandten aus Amakusa ereilen möge, bevor Nichtwiedergutzumachendes geschah. Der Wunsch war genau in dem Moment in ihm entstanden, als er am Vorabend Jéronimo bei dessen Verabschiedung seinen Segen erteilt hatte. Doch er hatte sich seine innere Zerrissenheit während der Abschiedsmesse der christlichen Gemeinde für Shirō nicht anmerken lassen.

Zur eigenen Entschuldigung dachte er, dass eine Seele, die so rein war wie die des jungen Shirō, dann ja bereits im Himmel weilen würde und dass auf diese Weise ein Blutbad im ganzen südlichen Japan hätte vermieden werden können. Und er dachte auch an den Einfluss, den die Jesuiten am Hofe von Edo noch immer hatten. Es war schon so viel erreicht worden in diesem Land, und noch mehr würde erreicht werden können mit Geduld und Fingerspitzengefühl gegenüber der Obrigkeit. Wem würde es denn nützen, wenn der Zorn Tokugawa Iemitsus ein unkontrollierbares Maß erreichte? Er hatte den Eindruck gehabt, dass die Verfolgungen an Schwung verloren hatten, als würde sich allmählich die Erkenntnis durchsetzen, dass es schließlich im Interesse aller wäre, wenn sie irgendwann ein Ende fänden. Die Mächtigen im Reich würden nicht so weit gehen, alles Leben auf den südlichen Inseln auszulöschen!

Auch die Augustiner, die Dominikaner und die Franziskaner sowie ein paar andere Klosterorden hatten ihre Spuren überall in Japan hinterlassen, bevor sie sich auf geschicktere Weise als die Gesellschaft Jesu zurückgezogen hatten. Es gab jedenfalls noch genügend Konkurrenten, die nur auf den Moment warteten, dass der Shōgun ihnen seine Gunst zuwenden würde. Das Monopol des Jesuitenordens in Japan war in dem Moment erloschen, als Toyotomi Hideyoshi 1597 befohlen hatte, sechsundzwanzig japanische und europäische Christen in Nagasaki zu kreuzigen. Ihre Körper durften drei Monate lang nicht von den Kreuzen abgenommen werden, zur öffentlichen Schau und zum Fraß für die Raben. Der Bischof fühlte, dass die Zeit seiner eigenen Missionarstätigkeit ihrem Ende entgegenging. Er konnte kaum noch mehr tun, als sich im Urakami-Stadtviertel zu verbergen, wo die mutigsten Christen Nagasakis sich nach wie vor in aller Heimlichkeit versammelten und von ihm erwarteten, dass er die Messe für sie zelebrierte.

Er presste sein Kinn gegen die ineinander verschränkten Finger, die schon nass von seinen Tränen waren. Nur die Augen Gottes sahen ihn in dieser Stunde und drangen bis in den Grund seiner Seele. Er fühlte sich wie zerstört von dem, was er in den finstersten Winkeln seines Bewusstseins gefunden hatte. Er wusste nicht einmal mehr, ob er für seine düsteren Gedanken und seine Schwäche seinen Herrn noch um Verzeihung bitten durfte.

 

3

Shimabara, das Dorf Fukaiemura, Dezember 1637

Zum zehnten Mal schon begann Sankichi seine Geschichte zu erzählen. Ihm war für einen Moment, als würde er noch immer träumen. Doch es war kein Traum; in den zitternden Händen hielt er das heilige Bildnis, ein Farbholzschnitt der Jungfrau Maria, die ein Jesuskind auf dem Arm trug, dessen Haupt ein goldener Schein umgab. Der kleine Kunstdruck war sauber in einen Rahmen aus Zedernholz eingefasst. Die Dorfbewohner umstanden Sankichi, als wäre er eine Erscheinung, sie tranken ihm die Worte von den Lippen, verschlangen ihn mit ihren Augen. Was der alte Mann mit dem zerfurchten, müden Gesicht entdeckt hatte, konnte nur ein Wunder sein.

Hakunai ermunterte ihn mit einem Blick, fortzufahren. Sankichi zwinkerte vor Aufregung, fasste sich aber wieder. Ja, er hatte von diesem Bildnis geträumt, das er am Boden einer Truhe aufbewahrte, zusammen mit ein paar anderen Gegenständen, die aus der Zeit stammten, da die fremde Religion noch nicht verboten war. In seinem Traum hatte die Jungfrau geweint, weil sie so vergessen zwischen abgebrauchten Dingen und alten Stofffetzen lag. Sankichi, voll Gewissensbisse, hatte ihr in seinem Schlummer geschworen, dass er das Bildnis von nun an mit der gebührenden Ehrfurcht behandeln und es mit einem Rahmen, der seiner würdig sei, versehen wolle. Sein hageres Kinn zitterte, als er dies erzählte. Seine Gefühle überwältigten ihn von neuem.

Ergriffen hingen die Zuhörer an seinen Lippen und nickten. Sie drängten sich noch näher an ihn heran. Für diese einfachen Seelen, diese von endloser Feldarbeit zermürbten Bauern, die mit ihrer Arbeit nicht einmal mehr ihre eigenen Familien ernähren konnten, hatte der alte Sankichi in seinem Traum genau das Richtige getan. Selbst das größte Elend entschuldigte nicht mangelnde Ehrfurcht.

Kaum, dass Sankichi erwacht war, suchte er das Bildnis, von dem er geträumt hatte. Und als er es endlich in der vollgestopften Truhe gefunden hatte … Zum zehnten Mal unterbrach Sankichi an dieser Stelle seinen Bericht. Noch nie im Leben hatte er so im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Alles vergangene Unglück war in diesem Augenblick wie ausgelöscht.

»Und?«

»Fahr fort!«

Ein einfältiges Lächeln belebte die zerknitterten Züge des kleinen Alten und ließ ein paar schwarze Zahnstummel sichtbar werden. Er gluckste vor Aufregung und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, und sein Adamsapfel wanderte den ausgemergelten Hals auf und ab. Schließlich brachte er heraus: »Nun, nun … der Rahmen! Das Bild war schon in seinem Rahmen!«

»Du willst sagen …?«

»Ja, ja! Das Bild ist mir genau so im Traum erschienen, wie ihr es hier vor euch seht!«

Und Sankichi hielt begeistert das heilige Bildnis, das so sauber gerahmt war, in die Höhe.

Unterstützt von Hakunai, der der erste Zeuge des Wunders war, hatte er am frühen Morgen das ganze Dorf aufgescheucht, und alle waren im Morgennebel aus ihren Hütten geeilt. Zuerst glaubten die Dorfbewohner, der alte Sankichi habe den Verstand verloren, bis er endlich in der Lage war, sich soweit zu fangen, dass er einen halbwegs zusammenhängenden Bericht geben konnte. Er war von einer Gruppe zur nächsten gerannt, gestikulierend wie ein Besessener, das Bild an sich gepresst. Er schwankte auf seinen kurzen, krummen Beinen, und seine Halssehnen traten jedes Mal hervor, wenn er krampfhaft zu schlucken versuchte. Er war offenkundig verstört, aber zugleich war er sehr ernst. Schließlich war das ganze Dorf schweigend und gefasst an dem Bildnis der Heiligen Jungfrau vorübergezogen. Es leuchtete in seinem Rahmen, der auf so wundersame Weise entstanden war. Manche warfen sich vor dem Bild auf die Knie und begannen mit lauter Stimme zu beten, während sie ihre Hände zu dem vom Himmel gesandten Gegenstand ausstreckten. Das musste ein Zeichen sein. Nur wenige im Dorf von Fukaiemura, in dem keineswegs alle Bewohner dem Christentum anhingen, wagten es, Zweifel zu äußern.

»Was hältst du davon, Kenzō Shibata?«

Die Gesichter wandten sich unverzüglich Mori Sōiken zu, dem Samurai, der am Vorabend auf das Flehen des Dorfvorstehers Yoshio Sato hin den Angriff auf den Steuereintreiber Nobuyuki Kishi angeführt hatte. Die Anwesenden durchlief unversehens ein Schauder; Furcht befiel sie, weil die Worte des Rōnin sie plötzlich an das nicht mehr rückgängig zu machende Geschehen der letzten Nacht erinnerten.

»Das ist ein Zeichen, Mori-san, ohne Zweifel! Ein Zeichen von Yaso

»Und wie muss man dieses Zeichen deuten, Kenzō Shibata?«

»Ihr wollt meine Meinung wissen, ehrwürdiger Mori Sōiken?«

»So ist es, ja. Spiel nicht den Dummkopf!«

»Das Hankan –«, er wies mit dem Kopf nach Süden, »die von Amakusa sagen, dass die Zeit des Hankan gekommen sei.«

»Oh ja, oh ja – ich habe heute nacht einen roten Lichtstreif am Himmel wahrgenommen, die heilige Flamme!« rief einer der Umstehenden.

Der alte Krieger wandte sich um, zuckte mit den Schultern und murmelte eine unverständliche Antwort. Er verbarg die Freude, die von ihm Besitz ergriff. Er hatte sein Ziel erreicht. Die Hefe gärte, der Teig schwoll an. Der Rahmen, der sich auf wundersame Weise um das von Sankichi aufbewahrte Bildnis gefügt hatte, war von der Vorsehung gesandt. Zur Stunde gab es nichts weiter zu tun. Kenzō Shibata war kein Samurai, aber er besaß großen Einfluss auf die anderen. Der interessante Gedanke, den er ihm eingeflößt hatte, würde sich verbreiten. Manchmal musste man der Vorsehung helfen, sich zu manifestieren, wenn es aus edlem Anlass geschah.

»Bleibt bei uns, ehrwürdiger Mori Sōiken. Es ist soviel geschehen seit gestern …«

»Ich komme wieder.«

Mori entfernte sich mit entschlossenem Schritt und ließ Sankichi und Hakunai ihren Weg von Gruppe zu Gruppe zwischen den elenden Strohhütten fortsetzen. Die Dorfbewohner dachten nicht einmal daran, zu ihren Feldern zu gehen. Vielleicht würden sie dazu lange Zeit keine Gelegenheit mehr haben. Denn Hayashi Hyōemon, der verhasste Statthalter von Matsukura Shigeharu, des ebenso mächtigen wie verabscheuungswürdigen daimyō von Arima, würde Vergeltung üben wollen für die Ermordung Nobuyuki Kishis und seiner Leute in der vergangenen Nacht. Doch genau das war es, was Mori Sōiken sich erhoffte. Ein erbarmungsloser Rachefeldzug, der eine Explosion zur Folge haben würde. Dann würde es für niemanden mehr ein Zurück geben. Es würde jetzt alles sehr schnell vonstatten gehen.

Alles war bereit auf der Halbinsel Shimabara, dem ehemaligen Lehensgebiet des christlichen daimyō Arima Harunobu, das seit dessen Tod vom grausamen Matsukura Shigeharu beherrscht wurde.

Wenn doch nur Shashi Kizaemon, der alte blinden Samurai, sich endlich entschlösse, sich dem Aufstand anzuschließen! Dessen Haltung würde entscheidend sein für den Kampf, den die aufständischen Christen von Shimabara und den umliegenden Dörfern gegen den Matsukura-Klan führen wollten. Eine innere Stimme sagte ihm, dass nicht mehr viel fehlte, um ihn zu überzeugen. Er kannte die brennende Seele des alten Kriegers, mit dem er sich oft über die alten Zeiten ausgetauscht hatte. Bis zum heutigen Tage erinnerte man sich von Nagasaki bis Amakusa an Shashi als zuverlässigen, effektiven und gerechten Samuraibefehlshaber. Seine Unterstützung würde Tausende Bauern in Bewegung setzen und so der Erhebung den nötigen Schwung verleihen.

Was aber im Moment das wichtigste war, war die Mission Matsura Shigenobus. War der junge Shirō, den sie das Banner des Aufstands tragen lassen wollten, inzwischen wie vorgesehen auf Amakusa angekommen? Seine Ankunft würde das entscheidende Signal sein. Er war im Hankan als Tendō, als Bote des Himmels, angekündigt worden und lange Jahre voll Hoffnung erwartet worden. Von Amakusa aus würde die Woge des Aufstands sich erheben, die über Shimabara branden sollte. Die Verschwörer von Amakusa und von Shimabara würden sich zu einer Bewegung vereinen, die ganz Kyūshū überschwemmte. Bevor es weiterging, nach Norden. Alles war möglich. Wenn es schnell geschah. Und mit dem Beistand Gottes und auch ein wenig Glück. Er wollte daran glauben.

Wenn der Jüngling tatsächlich die Eigenschaften haben sollte, die die Alten aus Ōyano ihm zuschrieben, dann wäre es vorbei mit der Herrschaft der hochmütigen Tokugawa über die alten christlichen Lehen von Konishi Yukinaga und Arima Harunobu. Mori Sōiken sagte sich, dass es höchste Zeit sei, dass sein Sohn Yoshinao nach Amakusa aufbrach, um Ashizuka Chūemon eine Nachricht zu überbringen, und dass er selbst bei dessen Rückkehr erfuhr, ob dort alles bereit sei.

Er beschleunigte seinen Schritt auf dem Weg zu seiner Hütte. Er hatte noch etwas zu erledigen, bevor es an der Zeit war, alle Masken fallen zu lassen. So viele Jahre lang war es ohne Bedeutung gewesen, aber jetzt fürchtete er plötzlich, es nicht mehr rechtzeitig zu schaffen: Er wollte sein Haupt verschönern; so wollte es der Brauch für einen bushi. Er durfte nicht zulassen, dass der Anblick seines Kopfes ihm Schande bereiten würde, wenn der Moment seines Todes käme und ein Feind ihn ihm vom Körper trennte. Es war gerade noch Zeit dafür. Er wusch sich das Haar, ölte es und legte es an die Seiten des Kopfes an. Das Stirnhaar rasierte er ordentlich ab und band den Rest vom Haupthaar in einem Knoten am Hinterkopf zusammen, auf die Weise, wie es dem Rang eines Samurai entsprach. Allzu viele Jahre hatte er einem elenden Bauern oder einem Rōnin ohne Zukunft geglichen. Kaum war er damit fertig, setzte draußen ein großes Gelärme ein. Rasch zog er sein Krieger-Hakama an, das er seit langer, langer Zeit nicht mehr getragen und das er zusammen mit seinen Waffen versteckt gehalten hatte. Er griff nach seinen Schwertern und stürzte aus der Hütte.

Das erste, was er erblickte, war eine lärmende und immer noch anwachsende Menge von Männern und Frauen auf dem Dorfplatz. Auch aus den umliegenden Weilern waren sie herbeigeeilt, nachdem sich die Nachricht von dem Wunder des heiligen Bildnisses verbreitet hatte.

Mitten in der Menge, dort, wo er Kenzō Shibata zurückgelassen hatte, befanden sich berittene Männer, und es wurde gekämpft. Mori sah Lanzen und Stöcke durch die Luft sausen, vernahm hasserfüllte Schreie und gebrüllte Befehle. Einem reiterlosen Pferd gelang es, die Umzingelung durch die Bauern zu durchbrechen. Es floh unter lautem Wiehern. Die Berittenen versuchten zu folgen. Verzweifelt kämpften sie darum zu entkommen, doch nur wenigen gelang es. Diese wenigen jagten unverzüglich in Richtung der Festung von Shimabara davon. Die Menge drängte sich unter wildem Gebrüll um die, denen der Durchbruch nicht gelungen war. Mori vermutete, dass sie bereits am Boden lagen. Er zwängte sich mit Mühe durch die äußeren Reihen der Menge.

Plötzlich hörte er, wie jemand schrie: »Mori-san, Mori-san

Er erkannte die Stimme nicht. Er blieb stehen und blickte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Dort stand Kenzō Shibata, dem vor Staunen der Mund offen stand. Er hatte Mühe, in ihm denjenigen wiederzuerkennen, mit dem er erst kurz zuvor gesprochen hatte.

»Hai! Hier bin ich!«

»Mori-san … Seid Ihr es?«

»Ich bin es, Shibata. – Was ist geschehen? Sprich!«

»Hayashi Hyōemon! – Er ist mit Soldaten von Moritake- gekommen. Er hat … er hat …«

»Beruhige dich!«

»Er hat uns überrascht. Er hat das heilige Bildnis zertreten und es dann ins Feuer geworfen! Nichts davon ist übrig!« Der Mann fiel auf die Knie, die Hände offen als Geste der Verzweiflung, und Tränen rannen ihm über das Gesicht.

Mori Sōiken hatte erwartet, dass Hayashi nach ihrem Überfall letzte Nacht Truppen von der Burg von Shimabara schicken würde, aber dass er persönlich dabei sein würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Und auch mit der Schnelligkeit der Reaktion hätte er nicht gerechnet. Sie waren alle überrascht worden. Doch auch Hayashi hatte offensichtlich nicht erwartet, von einer Art Dorfversammlung empfangen zu werden, aufgewühlt vom Wunder des heiligen Bildnisses. Daher hatte er nur wenige seiner Männer mit sich geführt. Er hatte diese Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlt. Er war vom Pferd gestoßen und von der entfesselten Menge totgeschlagen worden. Die meisten seiner Männer hatten sein Schicksal geteilt, überrumpelt von der unerwarteten Kühnheit einfacher Bauern. Ermutigt von dem Erfolg, der noch Minuten vorher unvorstellbar für sie gewesen wäre, verfolgten einige der Dorfbewohner die Flüchtenden. Andere schlugen mit Knüppeln und erbeuteten Waffen auf die am Boden liegenden Toten und Verletzten ein, bis sich niemand aus dem kleinen Trupp Hayashi Hyōemons mehr regte. Plötzlich herrschte eine große Stille.

 

Wie betäubt, erschrocken von der eigenen Kühnheit, mit kurzem Atem, standen die Sieger da. Am liebsten hätten sie sich irgendwo verkrochen. Ihre tolle Wut war besinnungslosem Schrecken gewichen. Sie begannen zu begreifen, dass ihre Tat dem Sturm, den sie am Abend zuvor gesät hatten, noch größere Macht verleihen würde. Wie Strohhalme würden sie hinweggefegt werden.

Entweder mussten sie von nun an immer wieder einen Gegner besiegen, der von Tag zu Tag stärker würde, oder sie mussten sich auf ihren Tod vorbereiten.

Es war der 25. Tag des 10. Monats des 14. Jahres der Kan’ei-Ära. Was Mori Sōiken seit Wochen erträumt hatte, war geschehen, früher noch als erwartet. Er stieß ein kaum hörbares zufriedenes Grollen aus. Nachdem Hayashi Hyōemon persönlich aufgetreten und getötet worden war, mussten die Dinge sogar beschleunigt werden. Die Rebellen von Amakusa mussten herbei, mit oder ohne Shirō. Der ursprüngliche Plan musste fallen gelassen werden.

Er rief seinen älteren Sohn zu sich, der in der Menge gestanden hatte, die sich allmählich von den zerschlagenen, blutigen Leichnamen entfernte, und erklärte ihm, was er Ashizuka Chūemon auf Amakusa mitteilen sollte.

Nach einem kurzen Abschiedsgruß entfernte sich Yoshinao raschen Schrittes. Er hatte die Tragweite seines Auftrags begriffen und würde ihn mit der gebührenden Schnelligkeit ausführen.

Mori Sōiken begab sich wieder zum Dorfplatz, wo er mit lauter Stimme die Bewohner von Fukaiemura und der umliegenden Weiler dazu aufforderte, unverzüglich alle Gegenstände, die als Waffen dienen konnten, herbeizuholen – Stöcke, Spieße, Mistgabeln, Dreschflegel – und natürlich auch die noch vorhandenen echten Waffen aus ihren Verstecken zu holen. Er wusste, dass unter den gestampften Lehmböden der ärmlichen Hütten noch etliche Schwerter verborgen waren und sogar einige Musketen. Schließlich sagte er: »Und bittet Genzō und Katsugorō, Pulver zu bereiten. Sie wissen, was sie zu tun haben.«

Er hatte das Kommando übernommen, da er eine neue Strafexpedition erwartete, die nicht vergleichbar mit der des unglückseligen Hayashi und seines kleinen Soldatentrupps sein würde. Die von der Kühnheit ihrer eigenen Taten zutiefst bestürzten Dorfbewohner mussten wieder in kämpferische Stimmung versetzt werden, und er musste sie auf einen Kampf vorbereiten, der ihre Vorstellungskraft sprengen würde.

Der Rōnin beschloss, Shashi Kizaemon über das Geschehene zu informieren. Mori Sōiken beeilte sich, das kleine Haus am Ufer des Flusses zu erreichen. Er hatte neue Argumente, um den alten blinden Krieger zu überzeugen.

4

Amakusa, Dezember 1637

Masuda Shirō fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Er war es nicht gewohnt, von so vielen Augen angestarrt zu werden, Augen voll Bewunderung und Eifer. Mit einem schüchternen Lächeln ließ er den Blick über die Menge der lärmenden Bauern – Männer und Frauen jedes Alters – wandern. Sie waren aus den umliegenden Ortschaften herbeigeeilt, kaum dass sie vernommen hatten, dass Shirō in Begleitung des alten einarmigen Samurai Matsura Shigenobu auf der Insel gelandet war. Es wurden immer mehr. Viele von ihnen kamen in Begleitung ihrer Kinder. Einige hatten Waffen mitgebracht. Der Jüngling hatte nach seiner Reise von Nagasaki nach Amakusa nur wenige Stunden schlafen können. Er fühlte sich noch immer ein wenig benommen und konnte gar nicht recht begreifen, dass tatsächlich er es war, den man mit solcher Begeisterung empfing. Shirō hatte plötzlich das Gefühl, dass ein gewaltiger Taifun aufzog. Ein Sturm, der sie alle mit sich reißen würde.

Shigenobu hatte dafür gesorgt, dass ein Ring bewaffneter Männer, die meisten von ihnen christliche ji-samurai, ihn schützend umgab. Voll Stolz trugen sie ihre alte Kriegerkleidung und ihre Schwerter, nach vielen Jahren des erzwungenen Verzichts auf ihre ererbten Privilegien und ihren gesellschaftlichen Rang.

»Tendō! Tendō! … Er ist der Sohn des Himmels, der Gesandte!«

»Seht doch, er gleicht einem Engel!«

Die verzückte Menge wurde kühner und versuchte, näher an Shirō heranzukommen, so dass Shigenobus Krieger Mühe hatten, den schützenden Kreis aufrechtzuerhalten.

Die Rōnin Ashizuka Chūemon, Ōye Matsuemon und Ōye Genuemon hatten ihn voll Ehrerbietung empfangen. Auch sie hatten bereits ihre Samuraikleidung und ihre Waffen angelegt. Danach, ohne ihm Zeit zu lassen, sich von seiner Reise zu erholen, hatten sie sofort eine Versammlung einberufen. Sie hatten einen Platz durch aufgespannte Stoffplanen abgrenzen lassen, damit sie ungestört beraten konnten.

Der Rōnin Yamada war kurz vor Shirōs Ankunft aufgebrochen, um auf der Insel Anhänger für den Aufstand zu gewinnen. Außerdem wollte er seine Frau und seine Kinder aus Hondo holen, dem Dorf, in dem er mit seiner Familie wohnte.

Höchste Eile war geboten. Auf Shimabara überstürzten sich die Ereignisse. Yoshinao, der Sohn ihres Gefährten Mori, war während der Ebbe auf seinem schaumbedeckten Pferd von der nebelverhangenen Bucht her geritten gekommen und hatte sie über den Tod von Hayashi und seinen Soldaten in Fukaiemura informiert. Ein anderer Bote berichtete, dass tags darauf vierhundert Soldaten, unter ihnen achtzig Musketenschützen und fünfzehn Berittene, von Moritake gekommen waren und die Rebellen angegriffen hatten. Tanaka Sodayou und Okamoto Jinbei, die in Abwesenheit des Tyrannen Matsukura die Befehlsgewalt auf der Burg von Shimabara besaßen, wollten die für sie unbegreifliche Situation unverzüglich beenden und unter den Aufrührern ein Massaker anrichten, an das man sich noch lange erinnern würde. Doch Mori Sōiken und seine Männer hatten sie erwartet. Die Krieger wie die Bauern hatten die Nacht damit verbracht, Waffen zu sammeln und einen Hinterhalt vorzubereiten. Den Soldaten Tanakas und Okamotos schlug vollkommen unerwartetes Musketenfeuer entgegen. Jene, die schon weiter ins Dorf vorgedrungen waren, wurden auseinandergetrieben und von den Bauern erschlagen, deren entscheidender Vorteil darin bestand, dass sie mit dem Gelände vertraut waren. Einige Dutzend der Soldaten konnten in dem allgemeinen Durcheinander entkommen, doch die Rebellen verfolgten sie bis zur von Wassergräben umgebenen Burg von Shimabara, deren Tore erst in letzter Minute geschlossen werden konnten.

Die Menge, der diese Neuigkeiten verkündet wurden, jubelte. Ashizuka Chūemon ließ den Leuten etwas Zeit, sich an einem Sieg, der nur symbolische Bedeutung besaß, zu freuen. Dann hob er die Hand, und sofort herrschte wieder gespannte Stille. Er sagte: »Wir wissen jetzt, dass die Unseren Moritake- belagern. Zur Zeit sind es einige Hundert, bald werden es mehrere Tausend sein, denn viele Stadtbewohner werden sich ihnen anschließen und auch etliche gutbewaffnete Krieger sind schon unter ihnen, die aus der Festung desertiert sind.«

Der Rōnin Ashizuka hielt in seiner Rede inne; er dachte an die mehr als zweihundert Christen, die vor den Mauern der Festung bereits den Tod gefunden hatten. Die Aufständischen hatten gehofft, die Verfolgung der von Tanaka entsandten Soldaten mit der Einnahme der Festung krönen zu können. Doch ein Hagel aus Pfeilen und Musketenkugeln hatte dem Versuch, die Burg im Handstreich zu nehmen, ein jähes Ende bereitet. Er dachte auch daran, dass die Belagerer aus Verdruss über den Misserfolg mehrere Kramläden und buddhistische Tempel in der Stadt in Brand gesetzt hatten. All das konnte sehr schnell außer Kontrolle geraten. Natürlich war ihm von vornherein klar gewesen, dass zahlreiche Unschuldige auf beiden Seiten in dem bevorstehenden Krieg das Leben verlieren würden, aber manchmal war es besser, bestimmte Dinge unerwähnt zu lassen. Viele der Menschen, die hier vor ihm standen, waren Christen und ertrugen daher den Gedanken, für ihr Überleben selbst töten zu müssen, nur schwer. Würden sie sich zu viele Fragen stellen, könnte im entscheidenden Moment ihre Entschlusskraft ins Wanken geraten. Ashizuka wusste, dass er seine weiteren Worte mit Bedacht wählen musste.