Der Regent

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Da standen sie in den altehrwürdigen Gemäuern des Casinos. Trotz des Anzuges fühlte Berger sich etwas deplatziert, während Heinz aufgeregt wie ein kleiner Junge, nur die Roulette-Tische fixierte. Bevor er vorstürmen konnte, hielt Berger ihn am Arm zurück. „Mach mal langsam, der Abend ist lang. Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, welchen Betrag du einsetzen willst?“ „Ich hab fünfhundert Euro dabei, heute riskiere ich alles!“ „Also doch spielsüchtig, das kann ja heiter werden.“ Heinz wechselte gleich sein gesamtes Geld ein. Zähneknirschend holte sich Berger für fünfzig Euro Chips. Das hätte ein prima Essen gegeben, aber weniger Einsatz sähe peinlich aus. Während Heinz sich nur für den Lauf der Kugel interessierte, die Gewinnzahlen im Geiste mit seiner Statistik verglich, achtete Berger darauf, wie sich die anderen Spieler verhielten. Schließlich besuchte er zum ersten Mal eine Spielbank. Da wollte er nicht gleich als Stoffel vom Land auffallen. Dann machte ihn Heinz ungeduldig auf einen Spieltisch aufmerksam, an dem zwei Plätze frei wurden. Sie setzten sich und jeder stapelte seinen Chip-Vorrat vor sich auf.

Heinz legte sofort mit seinem Einsatz los. Je zwanzig Euro auf die Sieben, die Sechzehn, sowie die Dreißig. „Das sind die falschen Zahlen, die fallen doch gar nicht!“, dachte Berger, um sich gleichzeitig über den Gedanken zu wundern. „Woher weiß ich das denn?“ Er setzte erst mal vorsichtig fünf Euro auf Rot. Er fühlte sich auf irgendeine Art nahezu sicher, dass diese Farbe als Nächstes gezogen würde.

„Achtzehn, rot, pair“, gab der Croupier bekannt. Während man Heinz die Enttäuschung ansah, hielt es Berger für eine Selbstverständlichkeit. Ein seltsames Gefühl ließ ihn sicher und entspannt werden. Es war die Erkenntnis, dass er nicht verlieren konnte! Er fühlte regelrecht, wo die Kugel als nächstes hinrollte. Das versuchte er jetzt auszunutzen. Auf die Zahl Einundzwanzig setzte er dreißig Euro und hörte fast schon im Voraus die Stimme des Croupiers „Einundzwanzig, rot impair.“ Er hatte recht! Eintausendfünfzig Euro gewonnen, mit einem Spiel! Es war nicht sein letzter Gewinn an diesem Tag.

Am Ende des Abends hatte er mehr als die Hälfte der Zahlen richtig geraten. Heinz dagegen wurde von Pech verfolgt. Mit über einhunderttausend Euro in der Tasche verließ Berger das Casino, einen deprimierten Heinz im Schlepptau.

„Wie viel hast du verloren?“ „Alles“, antwortete Heinz. „Die ganzen fünfhundert sind weg!“ Auf der Rückfahrt tastete Berger nach seiner Brieftasche. Er hatte Probleme, sie einzustecken. Sie war so dick, dass sie kaum in die Innentasche der Jacke passte. „Hör zu Heinz, ich weiß nicht, was mit mir heute Abend los war, möglicherweise leerte sich mein Glückskonto fürs ganze Leben in den letzten vier Stunden auf einmal aus. Dass so etwas nicht die Regel ist, das ist mir klar, ich kann es nicht erklären. Aber dein Schicksal ist das normalste der Welt! Grundsätzlich gewinnt nur die Bank. Lass dir das eine Lektion sein. Ich ersetze dir den Verlust, wenn du mir versprichst, nie wieder an ein Glücksspiel auch nur zu denken.“ „Da kannst du Gift drauf nehmen! Ich habe meine Lehre aus diesem Abend gezogen. In den Gemäuern wirst du mich nicht mehr finden. Zu Hause werde ich als Erstes alle meine Berechnungen löschen. Sämtliche Unterlagen darüber landen im Ofen.“ Heinz konnte seine Eifersucht auf Bergers Erfolg nicht vollkommen unterdrücken.

Als sich Berger am nächsten Tag von Heinz verabschiedete, steckte er ihm im letzten Moment einen Umschlag zu. „Hier, ich habe es dir versprochen und eine Kleinigkeit dazugelegt. Denk an dein Versprechen. Keine Glücksspiele mehr!“ „Fünftausend Euro sind angemessen dafür, was Heinz gestern durchgemacht hat“, dachte er für sich, „außerdem tut es mir nicht weh.“

Auf der Heimfahrt grübelte Berger über die Ereignisse. „War das jetzt ein einmaliger Zufall? Falls nicht, woher kommt dieses Wissen dann?“ Wenn er so recht überlegte, hatte er ja schon immer ein Gespür für Zahlen. „Beruht darauf auch der Erfolg im Job?“ Irgendwie wusste er doch in den meisten Fällen, wo sich der Einsatz lohnte, und wo nicht. Zahlen und ihre Zusammenhänge hatten ihn ja schon immer fasziniert. Ähnlich erging es ihm im Casino. Kein absolutes Wissen, nein, nur so eine Art Gefühl, was richtig ist. „Ich muss das herausfinden!“ Er nahm sein Smartphone, um in der Firma anzurufen. Er brauchte ein paar Tage Urlaub mehr. Schließlich musste er austesten, wie weit seine neu entdeckten Fähigkeiten reichten.

Casino Karlsruhe, Spielbank Bad Dürkheim, Koblenz, Saarbrücken ... Einen Spiel-Marathon hatte er hinter sich. Dafür verließ er alle Casinos jeweils um mehr als hunderttausend Euro reicher. Es stand fest: Diese Begabung war von Dauer, zumindest mittelfristig. Das würde erhebliche Änderungen in seinem Alltag verursachen. „Den Job an den Nagel hängen, möglichst sofort, den habe ich sowieso gehasst. Ich werde Geldanlagen suchen müssen.“ Dann plante er sein Leben neu. „Auf jeden Fall baue ich mir ein Haus. Eine Traumvilla, in einer Traumlage, vielleicht irgendwo bei Landau, die Gegend und das Klima dort gefielen mir schon immer. Von so einer Möglichkeit habe ich mein Leben lang geträumt. Willkommen Luxus!“

Berger wachte in einem Hotelbett auf.

„Wo bin ich?“

„Welches Hotel ist das?“

„Verdammt, in welcher Stadt bin ich denn???“

Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder orientieren konnte. Solche Zustände hatte er öfter in letzter Zeit. „So geht das nicht weiter!“ Über ein Jahr zog er schon kreuz und quer durch Deutschland, sogar ein Stück darüber hinaus, von einem Casino zum anderen. Dieses Zigeunerleben, selbst auf höchstem Niveau, war nichts für ihn. Dafür war er zu bodenständig. So langsam bekam er einen Hotelkoller. Da halfen nicht mal die komfortabelsten, teuersten Unterkünfte. Er hatte jetzt zwar einige Millionen auf seinem Konto, aber zu welchem Preis?

Seinen Freundeskreis musste er aufgeben, hohes Ansehen hatte er trotz des vielen Geldes auch nirgends. Einige Casinos erteilten ihm sogar schon Hausverbot, dort hatte er die Gewinne etwas übertrieben. Wenn sich jetzt nichts änderte, würde er womöglich offiziell als Spiel-Junky abgestempelt. Spontan packte er seine Sachen, zahlte das Zimmer und fuhr auf direktem Weg nach Hause.

Er brauchte einen festen Bezugspunkt, vor allem: ein sinnvolles Lebensziel. „Wie geht es jetzt weiter? Die Zockerei hat ein Ende.“ Mit seinem Vermögen ließe sich etwas anderes anfangen. Es war ja geradezu lächerlich, eine solche Summe nur auf einem Konto liegen zu lassen. Außerdem meldete sich sein Gerechtigkeitssinn wieder. Er hatte sowohl Geld als auch eine Begabung. Hatte er da nicht die Pflicht, zumindest einen Teil von beidem zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen? Aber wie konnte er das möglichst effektiv umsetzen, ohne dass er dabei von jemanden über den Tisch gezogen wurde?

Die Idee kam ihm beim Durchblättern der Zeitung. Im Wirtschaftsteil fielen ihm die Börsennachrichten auf. Jetzt erkannte er sein Ziel. Ein Unternehmen aufbauen, alles anders machen als diese Profit-Junkies in den Konzernen. Dazu benötigte er aber wesentlich mehr Kapital. Seine 'paar Millionen' aus den Roulette-Gewinnen reichten da nicht aus. Das erforderliche Geld nahm er am besten denen ab, die er bekämpfen wollte. Ob seine Fähigkeiten auf dem Börsenparkett ebenso funktionierten? Er schaltete den Laptop ein, um mit einer umfangreichen Recherche zu beginnen. Schnell merkte er, dass dies kein Kinderspiel werden würde. Zu vieles war ihm in dem Metier unbekannt. Allein die ganzen Fachbegriffe. Er musste noch mal kräftig die Schulbank drücken. Aber er hatte ein Ziel. Um dies zu erreichen, nahm er den Aufwand gerne in Kauf.

Er arbeitete eine Vielzahl von Fachbüchern durch und besuchte Kurse. Tagelang suchte er das Internet nach Informationen ab. Dann endlich fühlte er sich bereit. Er eröffnete ein Aktiendepot. Zuvor hatte er auf dem Laptop, nachdem er die entsprechenden Webseiten gefunden hatte, seine Begabung am Börsengeschehen ausprobiert. Es schien zu klappen, zumindest in der Theorie! Wenn er sich einen Aktienkurs aussuchte und darauf konzentrierte, dazu einige Hintergrundinformationen zu dem Unternehmen im Internet nachschlug, dann ahnte er in vielen Fällen schon, wie sich die wirtschaftliche Lage der Firma entwickelte. „So funktioniert das also! Alles Weitere wird der praktische Versuch zeigen.“

Jetzt kam das Mühselige an dieser Aktion. Er suchte den Markt nach den Aktien ab, die seinem Gespür entsprechend die größten Renditen in kürzester Zeit versprachen. „Na ja, Roulette spielen ging einfacher.“ Aber schließlich hatte er passende 'Opfer' gefunden. Er identifizierte ein paar kleinere Unternehmen, welche sich nach seiner Vorahnung kurz vor einem technologischen Durchbruch befanden. Ein sicheres Zeichen dafür stellte ein sehr niedriger Aktienkurs dar, der in keinem Verhältnis zum wahren Wert des Unternehmens stand. Der wurde dadurch ausgelöst, dass viel Geld in Forschung und Entwicklung floss, wodurch nicht genug übrig blieb, um den Geiern an der Börse möglichst schnelle Profite zu bescheren.

Fünf Millionen Euro riskierte er gleich bei der ersten Hausse, beinahe die Hälfte seines Vermögens. Dann kam das bange Warten. Hatte er recht mit den Prognosen? Wie hoch würde die Rendite, wenn sie denn überhaupt existierte? Nervenaufreibend war, dass die Kurse erst einmal noch tiefer sanken. Jetzt hieß es Ruhe und Nerven bewahren!

Nach einem viertel Jahr hatte sein Aktienpaket nur noch einen Wert von drei Millionen Euro. Er wurde unsicher. Zwei Wochen später hatte er wieder eine halbe Million verloren. Allmählich zweifelte er an sich und an seiner Begabung. Aktienhandel ist eben kein Roulettespiel. Berger überlegte, wie er die Aktien loswerden konnte, ohne noch mehr zu verlieren. Das Einzige, was ihm sinnvoll erschien, war sie in kleinen Paketen anzubieten, damit der Kurs nicht völlig zusammen brach.

 

Noch einmal kontrollierte er in den Börsennachrichten den aktuellen Stand des Kurses, bevor er der Bank die Order zum Verkaufen erteilen wollte. Sein Blick fiel auf eine Schlagzeile. Ein Bericht über die Firma Schroll Kunststoff Recycling AG. Er hatte 45% Anteile an dem kleinen Unternehmen, welchem der Durchbruch bei der Wiederverwertung von Kunststoffabfällen gelang, die bisher nicht als recycelbar galten. Ihr Aktienkurs explodierte. „Gewonnen!“ Er hatte auf das richtige Pferd gesetzt. Einhundertfünfzig Prozent Gewinn in sechs Monaten. „Das soll mir mal einer nachmachen.“ Die erste Etappe zum großen Ziel war erreicht. Nach und nach kamen seine anderen Aktienpakete ebenfalls in die Gewinnzone. Jetzt hielt ihn nichts mehr davon ab, nahezu sein gesamtes Vermögen auf diese Weise anzulegen. Er musste die Erfolge weiter ausbauen, die nächsten Maßnahmen sorgfältig vorbereiten.

Er hatte wieder ein Ziel, eine richtige Aufgabe, die ihn forderte. Er war auf dem besten Weg. Die Zeiten, in denen er als Edel-Zocker durch die Casinos zog, gehörten zur Vergangenheit.

Einen Monat nach diesem Ereignis traf ein Brief bei Berger ein. Darin bedankte sich Schroll, der Geschäftsführer des gleichnamigen Unternehmens, bei ihm für seine Geduld mit der Firma: „Es ist in unserer schnelllebigen Welt leider nicht üblich, dass ein Aktionär, der so große Anteile an einer AG hält, dieser die Zeit lässt, ihre Entwicklungen auch wirklich ausgereift auf den Markt zu bringen. Hätten Sie das Aktienpaket in den letzten Monaten nicht gehalten, wäre das Unternehmen mit Sicherheit von Hedgefonds geschluckt, oder womöglich gleich abgewickelt worden. Sie haben uns gerettet! Dafür möchte ich mich bei Ihnen in meinem, sowie im Namen unserer Mitarbeiter, deren Arbeitsplätze Sie gerettet haben, auf das Herzlichste bedanken.“

Dieser Brief zeigte Berger, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, so musste er weitermachen.

Mit der Zeit entwickelte er sich zu einem Fachmann in Sachen Börse und Aktienhandel. Die Geschäfte liefen immer erfolgreicher. Mithilfe seiner Gabe fand er aus dem Aktienangebot diejenigen Außenseiter-Unternehmen heraus, die ihm am erfolgversprechendsten erschienen. Etablierte Broker kümmerten sich kaum um solche 'Mauerblümchen'. Sie erkannten in den meisten Fällen nicht das Potenzial, das in diesen Firmen steckte. Dazu fehlte ihnen auch das technische Verständnis. Damit schlug Berger zwei Fliegen mit einer Klappe. Er verbuchte gewaltige Gewinne. Gleichzeitig schützte er viele der Unternehmen vor ungeduldigen Spekulanten und somit oft vor der Zerschlagung. Nach ein paar Jahren hatte er einen enormen Reichtum angehäuft. Er bezeichnete sich selbst als unanständig reich.

„Jetzt wird es Zeit, mit dem vielen Geld etwas Vernünftiges anzufangen“, sagte er zu sich. „Ich brauche einen Schlachtplan, wie ich die Welt verbessern kann. Vor allem benötige ich Hilfe, das schaffe ich nicht alleine.“

Horst Scherer saß in seinem Büro. Er war Teamleiter in der renommiertesten Bank der Stadt. Er hatte die Anlagenberater und Kundenbetreuer unter sich. Sein Team erbrachte die größten Erfolge, nicht zuletzt weil er für ein angenehmes Betriebsklima sorgte, indem er Prozessstörungen, wie er die Aktivitäten der Manager nannte, weitgehend von der Mannschaft fernhielt. Das brachte ihm natürlich das eine oder andere Mal Ärger ein. Aber gerade weil sein Team so erfolgreich arbeitete, konnte er sich erlauben, nicht alle Spinnereien, die man von oben diktierte, mitzumachen. Ein Privileg nahm er für sich in Anspruch: Die wenigen Großkunden betreute er selbst.

Wieder einmal saß Berger seinem persönlichen Anlageberater gegenüber. Eigentlich benötigte er keinen, aber die Bank bestand bei so großen Kunden darauf. Dieser Scherer war ein Enddreißiger, er besaß ein gepflegtes Äußeres. An dem Mann stimmte alles, gute Rhetorik, höfliche Umgangsformen, hohe Intelligenz. „Der erste sympathische Bankmanager, dem ich begegnet bin“, dachte Berger. „Na ja, das liegt sicher daran, dass er nicht zur oberen Etage gehört. Er ist kompetent, und erklärt alles laiengerecht. Vor allem ist er in keiner Weise überheblich. Ich denke, ich werde es mit ihm riskieren ...“

„Nun, Herr Berger, es wird schon langsam langweilig, Ihre Kontostände zu beurteilen. Immer dasselbe. Exorbitante Gewinne auf breiter Front. Ihr gesamtes Aktienvermögen liegt jetzt bei über 400 Millionen Euro. So eine Erfolgsquote erlebe ich zum ersten Mal. Seit fünf Jahren betreue ich Ihr Depot. In dieser Zeit haben Sie kein einziges Aktienpaket mit Verlusten abgestoßen.

Allein das ist schon extrem außergewöhnlich. Aber wenn ich sehe, welche Renditen Sie bei all Ihren Anlagen erreichen, wird mir schwarz vor Augen. Von fünf auf vierhundert Millionen in neun Jahren, zudem alles nach Steuern! Wie machen Sie das? So etwas kann man doch nicht manipulieren?“ Berger lächelte in sich hinein. Das würde vorerst sein Geheimnis bleiben. „Können, Wissen, gute Informationen, einen besonders ausgeprägten Instinkt“, antwortete er. „Ich habe schwer daran arbeiten müssen.“

In diesem Moment platzte ein Kerl ins Büro, von dem Berger sofort wusste, was er von ihm zu halten hatte, bevor er auch nur ein Wort sprach. Groß gewachsen, korpulent, nervös wirkend. Ohne Gruß trat er auf Scherer zu und polterte los. „Herr Scherer wir müssen die Präsentation für morgen ändern, kommen Sie sofort mit in den Besprechungsraum!“ „Entschuldigung, aber ich habe hier gerade ein Kundengespräch mit…“ „Ich sagte sofort!“, sprachs und war schon wieder aus dem Büro draußen. „Der wird dir was husten, der Scherer!“, murmelte dieser leise in seinen Bart.

„Ihr Vorgesetzter?“ Ein bestätigendes Nicken von Scherer. „Das kenne ich aus früheren Zeiten. Wissen Sie, bei uns im Büro hing einmal eine Karikatur. Es war die Arche Noah, alle Tiere schauten besorgt über die Reling. Nur der Specht nicht. Er saß außen am Schiff. Dort hackte er vergnügt ein Loch neben dem anderen in die Bordwand. Darunter Stand der Satz: Wo du auch bist, es gibt immer ein Arschloch!“ Scherer lachte laut heraus, ein Zeichen dafür, wie sehr ihn das Problem Vorgesetzter bedrückte. „Aber mal im Ernst, ich möchte nicht, dass Sie jetzt wegen mir Unannehmlichkeiten bekommen. Wir sind ja so weit klar, nur noch eine Frage zum Schluss: Haben Sie sich schon mal überlegt, den Arbeitgeber zu wechseln?“

Scherer schaute ihn erstaunt an: „Eigentlich nicht, mir macht die Arbeit hier Spaß, ich komme prima mit meinen Kollegen und Mitarbeitern aus“. „Aber Ihr Boss wohl nicht mit Ihnen. Herr Scherer, Sie haben mich in all der Zeit immer bestens betreut. Ich würde mich gerne revanchieren und Sie zum Dank dafür mal zum Essen einladen. Ich kenne da ein feines Lokal, in dem man nicht nur sehr gut speisen, sondern sich auch ganz ungestört unterhalten kann. Dort könnten wir über meine soeben gestellte Frage ausgiebig diskutieren. Ich hätte da ein äußerst lukratives Angebot für Sie. Wie wäre es morgen Abend?

Verstehen Sie die Einladung bitte nicht falsch, das soll keine Bestechung sein, wofür auch, ich habe ja alles, sehen Sie sich nur meinen Kontoauszug an. Betrachten Sie es als eine Art Kundendienst, bei dem das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden wird.“ Nach einigem Zögern stimmte Scherer der Einladung zu.

Am nächsten Abend saßen sie sich im 'London', einem vornehmen Speiselokal gegenüber. Die Speisekarte des Lokals besaß überhaupt nichts von dem, was man landläufig unter englischer Küche verstand. Berger aß gerne hier. Aber auch das Ambiente wirkte sehr angenehm. Keines dieser feine-Pinkel-Lokale, in denen man ein Vermögen bezahlte, um nicht satt zu werden. Der Besitzer hatte die Raumaufteilung äußerst großzügig gestaltet. Man konnte hier ungestört vertrauliche Gespräche führen. Die Gäste an den Nachbartischen bekamen nichts davon mit.

„Das war wirklich fantastisch, ich glaube, so gut habe ich noch nie gegessen. Nochmals vielen Dank für die Einladung.“ Scherer zeigte sich sichtlich beeindruckt. „Keine Ursache, es freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat. Nachdem wir jetzt satt sind, möchte ich noch mal auf meine Frage von gestern zurückkommen. Haben Sie sich da mal Gedanken darüber gemacht?“ „Oh ja, sehr lange sogar. Sie glauben nicht, was nach Ihrem Besuch bei uns los war. Da bin ich noch mal gewaltig mit meinem Chef wegen seines Verhaltens aneinandergeraten. Beinahe hätte ich ihm den Kram hingeschmissen. Er ist ein unmöglicher Ignorant. Ich frage mich, wie so ein mieser Charakter zu diesem Posten kommt. Wenigstens war es mir eine Genugtuung, ihn darüber aufzuklären, welch einen Großkunden er mit seinem Verhalten brüskiert hat. Darauf wurde er ganz kleinlaut.“

„Ich kenne das, manchmal glaube ich, solche Charaktere bilden im oberen Management von Konzernen ganze Herden. Nach dem Motto: Bist du kein Charakterschwein, kommst du hier nicht rein. In den obersten Etagen scheinen Ehrgeiz und Skrupellosigkeit wichtiger zu sein als Fachkompetenz. Das zeigt, wie marode unsere Wirtschaftssysteme dem Grunde nach sind. Aber genau hier sind wir beim Thema. Wie wäre es, wenn Sie mit mir zusammen an dieser Misere etwas ändern würden?“ Scherer schaute ihn erstaunt an: „Nun ja, dagegen müsste man wirklich was unternehmen. Aber wir beide gegen den Rest der Welt? Finden Sie das nicht übertrieben?“ „Durchaus nicht. Deshalb habe ich Sie ja hierher eingeladen. Nun ja, einfach an einem Rädchen drehen, das funktioniert nicht. Aber Sie wissen, was auf meinen Konten liegt. Sie wissen auch, dass das immer mehr wird. Glauben Sie nicht, dass man damit einiges erreichen könnte? Vielleicht sogar so viel, dass das Ganze zu einem Selbstläufer wird, sodass sich die andern mit der Zeit anpassen müssen, um den Anschluss nicht zu verpassen?“

Damit hatte er Scherers Neugier geweckt. „Was haben Sie vor? Wenn es etwas Illegales ist, oder auch nur Grenzwertiges, können Sie versichert sein, dass ich das Gespräch hier sofort beende!“ „Oh nein, beruhigen Sie sich, was ich vor habe ist ganz und gar legal. Na ja, grenzwertig vielleicht in dem Sinne, dass es bis jetzt kaum jemand versucht hat, zumindest nicht in großem Stil. Stellen Sie sich vor: Ein Investor kauft ein finanziell marodes Unternehmen, bringt das auf Vordermann und ... verkauft es dann eben nicht.“

„Was ist daran so revolutionär? Solche Investitionen sind doch bei uns Tagesgeschäft“, fragte Scherer dazwischen. „Der springende Punkt ist die Art der Sanierung. Wie geht das heute üblicherweise vonstatten? Insolvenz anmelden, die Gläubiger auf ihren Forderungen sitzen lassen, die Preise bei den Zulieferern drücken, die eigenen Mitarbeiter rausschmeißen, die Filetstücke der Firma verkaufen ... Hab ich was vergessen? Eins noch, riesige Prämien an die Vorstände auszahlen, weil sie den Laden angeblich gerettet haben. Das muss doch auch anders funktionieren.

Warum gibt es einige Mittelstandsbetriebe, die entgegen den üblichen Konzern-Philosophien wirtschaften, aber trotzdem gut da stehen? Meist sind es Firmen, die einer Person gehören, welche sich für dieses Unternehmen voll einsetzt. Jemand, der nicht ausschließlich für die Profite arbeitet, der gegebenenfalls mal Verluste in Kauf nimmt, ohne gleich die halbe Belegschaft auf die Straße zu setzen. Solche Menschen sollten nach meiner Meinung die Bezeichnung 'Unternehmer' wie einen Adelstitel tragen. Meist werden diese Firmen so sozial geführt, dass sich ihre Mitarbeiter mit Begeisterung an ihre Arbeit stürzen. Haben Sie schon mal erlebt, dass ein Konzernmitarbeiter in einem Stammtischgespräch die Redewendung – in meiner Firma – benutzte? Wohl kaum. So etwas hört man nur bei Beschäftigten von besagten Mittelstandsunternehmen. Da ist der Begriff Werksstolz nicht nur eine Phrase für die Hochglanzprospekte. Genau da möchte ich angreifen. Stellen Sie sich vor: Unternehmen, in denen sich die Mitarbeiter nicht nur mit ihrer Arbeit, sondern auch mit ihrer Firma identifizieren. Unternehmen, deren Ziel nicht die maximalen Profite, stattdessen ausgewogene, sozial verträgliche Firmenphilosophien sind. Ein Betrieb, für den es sich lohnt, und in dem es sich lohnt zu arbeiten.“

Scherer lehnte sich zurück und drehte nachdenklich das Weinglas in den Händen. Er ließ sich lange Zeit mit seiner Antwort. „Das klingt ja gut, sogar zu schön, um wahr zu sein. Eher wie eine Utopie. Sie wollen eine solche Firma aufbauen? Zusammen mit mir?“ „Falsch, nicht mit Ihnen.“ Amüsiert genoss Berger den verwirrten Gesichtsausdruck Scherers. „Nicht eine Firma, sondern viele, nicht Sie und ich, sondern Sie. Ich wäre voll damit beschäftigt, das Kapital dazu aufzutreiben.“ Jetzt brauchte Scherer erst mal einen kräftigen Schluck von dem Cognac, den Berger mittlerweile bestellt hatte.

 

Berger schaute Scherer tief in die Augen. „Können Sie sich vorstellen, ein Investmentunternehmen zu leiten, das mein Vermögen derart verwaltet, wie ich es soeben beschrieben habe? Können Sie sich vorstellen, ein solches Unternehmen zu repräsentieren und dabei den Inhaber im Hintergrund zu verstecken? Ehrlich gesagt, ich traue Ihnen das zu. Ich habe Sie in der Bank beobachtet. Sie haben außergewöhnliche Führungsqualitäten, Sie begeistern Ihre Mitarbeiter für eine Sache, Sie sehen in ihnen Menschen, nicht nur Arbeitskräfte. Das hat mir sehr imponiert. Mit diesen menschlichen Werten möchte ich ein Imperium aufbauen.“ „Danke, danke, zu viel des Lobes.“ Scherer versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen. „Was Sie mir hier vorgetragen haben, ist starker Tobak. Das muss gut überlegt werden. Da gibt es eine Unmenge von Fragen zu klären. Aber ehrlich gesagt, Sie haben mich neugierig gemacht. Das wäre tatsächlich eine reizvolle Aufgabe. Nur… Das alles wirkt unheimlich auf mich. Insbesondere ist da Ihr wahnsinniger Erfolg. Das ist doch nicht normal. Ich fürchte, wenn ich dieses Angebot annehme, gerate ich in etwas hinein, das ich irgendwann bitterböse bereuen würde.“

„Sie haben recht, solche Erfolge sind nicht normal. Das muss ich zugeben. Ich denke, das Wichtigste bei so einer Geschäftsbeziehung ist Vertrauen. Deshalb werde ich Ihnen mein Geheimnis anvertrauen.“ Berger holte zwei leere Blätter Papier hervor, reichte eins Scherer, das andere behielt er. „Schreiben Sie eine beliebige Zahl auf, aber so, dass ich sie nicht sehe, egal wie viele Stellen sie hat.“ Scherer schrieb, dann faltete er das Blatt zusammen. „So, jetzt ich,“ sagte Berger, schrieb ebenfalls etwas auf sein Blatt, und legte es verdeckt vor sich. „Jetzt lesen Sie Ihre Zahl bitte laut vor.“ Scherer nahm das Papier und las: „1.581.437.“ Berger griff seinen eigenen Zettel und gab ihn Scherer. „Lesen Sie jetzt, was hier drauf steht.“ Scherer zuckte zusammen, als er die Zahlen sah. „1.571.435. Wie haben Sie das gemacht? Sind Sie Zauberkünstler?“ „Nein, kein Trick. Es ist eine Begabung. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam. Ich kann in gewissem Umfang Zahlen vorhersehen. Daher mein großer Erfolg im Aktiengeschäft. Sie sehen ja, zwei Zahlen konnte ich nicht erraten. Meistens erahne ich mehr instinktiv, welche Aktie in nächster Zeit steigt, oder fällt. Als ich diese Gabe an mir vor etwa zehn Jahren entdeckte, hatte ich mir damit mein erstes Kapital an den Roulettetischen in ganz Europa verdient.“

Scherer versuchte Bergers Gestik zu deuten. Eine Kunst, die er sehr gut beherrschte. Aber hier gab es keine verräterische Geste zu entdecken. Der Mann musste die Wahrheit sagen. „Gibt es diese Begabung tatsächlich? Kann man so etwas türken?“ Allerdings kannte er Bergers Kontostände. Er wusste, dass der Erfolg echt war. Er rechnete jeden Augenblick damit, aus einem Traum zu erwachen. Da hilft nur eins, zum Gegenangriff überzugehen, seinen Gegner aus der Reserve zu locken. „Wie würden Sie sich meine Arbeit für Sie konkret vorstellen?“, fragte er vorsichtig.

„Ich stelle Sie als Leiter eines Investmentunternehmens ein. Ihre erste Aufgabe besteht darin, das Unternehmen körperlich aufzubauen. Immobilien suchen, Personal einstellen, sowie die interne Organisation ausarbeiten. Dann müssen wir für mein Inkognito eine Lösung finden. Ich möchte nicht als Besitzer erkannt werden. Vielleicht kann ich offiziell die Funktion eines Unternehmensberaters übernehmen. Das müssen wir rechtlich einwandfrei abklären. Ich biete Ihnen ein Anfangsgehalt von fünfhunderttausend Euro jährlich. Natürlich gehören ein Geschäftswagen sowie eine Büroausstattung nach Ihren Wünschen dazu. Beachten Sie, das ist keiner der bei Managern üblichen zeitlich begrenzten Verträge, sondern eine Festanstellung.“

Als er den ungläubigen Blick Scherers sah, fügte er hinzu: „Nein, das ist nicht übertrieben, schließlich repräsentieren Sie dann ja ein Unternehmen im Wert von nahezu einer halben Milliarde Euro, Tendenz steigend. Nur eines gibt es nicht: ein an die Bilanz gebundenes Prämiensystem. Da lassen wir uns etwas anderes einfallen. Ein System, das an echte Erfolge geknüpft ist, das direkt mit der realen Wertschöpfung des Unternehmens zusammen hängt.

Was den Umfang der Firma angeht, da müssen wir Maßstäbe setzen. Ziel ist es, alle anfallenden Tätigkeiten darin unterzubringen. Die Phrase, auf das Kerngeschäft konzentrieren, ist bei uns tabu. Also vom Steuerbüro, über Rechtsabteilung, Hausverwaltung, bis zum Fuhrpark, bleibt alles im eigenen Haus. Natürlich nicht auf einmal, aber in absehbarer Zeit möchte ich sämtliche Tätigkeiten, die zur Unternehmensabwicklung gehören, in unseren Händen wissen. Wie ich schon erwähnte, ich möchte alles anders machen als diese etablierten Heuschrecken. Outsourcing, Leiharbeit, solche Dinge beschränken sich nur auf den äußersten Notfall. Mein Part wird überwiegend darin bestehen, mit Ihnen zusammen die Grundregeln des Unternehmens festzulegen. Dazu werde ich mit Aktiengeschäften für frisches Kapital sorgen. Diesen Geschäftszweig wickeln wir ebenso über das Unternehmen ab, aber darin kennen Sie sich ja bestens aus.“

Was sollte er dazu noch sagen? „Über Nacht vom kleinen Anlageberater zum Top-Manager. Das ist doch zu schön, um wahr zu sein. Wo sitzt da der Haken?“ Er konnte keinen entdecken. Scherer spürte, wie ihn der Drang nahezu übermannte, sofort zuzusagen. Aber Berger kam ihm zuvor. „Machen Sie sich nicht zu viel Stress. Ich verlange heute Abend keine Entscheidung von Ihnen. So etwas muss natürlich überlegt, und auch mit der Familie abgesprochen werden. Überschlafen Sie das Angebot, sofern Sie heute noch zum Schlaf kommen, besser Sie lassen sich eine ganze Woche Zeit. Sie haben ja meine Mailadresse und Telefonnummer, Sie können mich also jederzeit erreichen. Scheuen Sie sich nicht, mir über diesen Weg Fragen zu stellen. Ich kann mir denken, dass noch viele auftauchen werden.“

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