Sprachwitze

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Schmul geht zu einem zweiten Arzt. Der lässt sich genau beschreiben, was Tscholent ist – und er verbietet ihn ebenfalls.

Da geht Schmul zu seinem jüdischen Hausarzt und klagt ihm sein Leid. Ein Jude wird doch Verständnis haben für seinen Kummer? „Iss Tscholent so viel du willst!“, sagt der Hausarzt. „Bloß: prallen wirst du schon im Himmel.“

(Landmann, 2010, S. 425–426; 2007, S. 220–221)

Witze haben üblicherweise keinen Urheber, keinen Autor. Im Reich der Witze gibt es kein Privateigentum. Witze werden in Umlauf gebracht und weitergereicht, sie kursieren und zirkulieren. Dabei werden sie adaptiert, verbessert, manchmal auch verschlechtert. Auch die erstmalige schriftliche Fixierung ist in der Regel nicht die Geburtsstunde eines Witzes. Außerdem werden Witze oft von einem Genre in ein anderes verschoben: Aus einem Burgenländerwitz wird ein Blondinenwitz, aus einem Frau-Pollak-von-Parnegg-Witz ein Graf-Bobby-Witz usw. Wenn ich in der Folge aus einer Sammlung zitiere, werde ich mir daher dann und wann das Recht herausnehmen, den Text geringfügig zu verändern.

Des Öfteren werde ich aus Salcia Landmanns Büchern zitieren. Diese liegen aktuell in zwei Ausgaben vor: einer Hardcoverausgabe Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung, lieferbar bei Patmos, und einer dtv-Taschenbuchausgabe Jüdische Witze. Der Klassiker von Salcia Landmann. In der neuen Hardcoverausgabe, erstmals 2010 erschienen, wurden die von Torberg aufgezeigten Fehler ausgebessert. Die Taschenbuchausgabe, erschienen 2007, enthält eine Kurzfassung der Einleitung und die besten Witze aus der ursprünglichen Hardcoverausgabe. Die Witze sind weiterhin nach Themenschwerpunkten geordnet, beim Kapitel Medizin und Hygiene gibt es zu Beginn den Hinweis: „Über den Wert der Hygienewitze vgl. Einleitung S. 60.“ Dort liest man unter anderem: „Ohne Zweifel sind die Badewitze nicht jüdischen, sondern antisemitischen Ursprungs. Aber die Bereitschaft der Juden zur Selbstkritik bringt es leicht mit sich, dass sie auch den unberechtigten Spott der Feinde in ihre Selbstverspottung einbauen.“

Die seinerzeit berechtigten Einwände von Torberg und Meyerowitz sind somit für den heutigen Buchkäufer nicht relevant. Beiden Witzebüchern von Salcia Landmann, dem Hardcover wie dem Taschenbuch, ist der große Erfolg zu gönnen. Das Buch von Jan Meyerowitz ist leider vergriffen. In Internetantiquariaten, zum Beispiel bei eurobuch.com, ist es aber erhältlich.

Andere wichtige Quellen waren für mich fünf kleine Bücher mit jüdischen Witzen. Sie sind unter dem Namen Avrom Reitzer um 1900 zunächst in Preßburg bei A. Akalay und dann bei J. Deubler’s in Wien erschienen. Im Titel findet sich oft das Wort „Lozelech“, im Untertitel „… für ünsere Leut’“. Es waren also Witze, die von Juden gesammelt wurden und für Juden bestimmt waren. Damals sprach man noch nicht von „Witzen“, erst in späteren Auflagen taucht das Wort am Cover auf.

Diese „Lozelech-Bücher“ waren hart gebunden und hatten jeweils hundertzwölf Seiten Umfang. Sie dürften reißenden Absatz gefunden haben. In der Buchhandelswerbung von J. Deubler’s wird der Bestsellercharakter der Titel hervorgestrichen. Den Buchhändlern wird empfohlen, sie in den Auslagen zu platzieren, um gute Umsätze zu machen.

Nicht weniger wichtig waren für mich Heinrich Eisenbach’s Anekdoten, gesammelt und vorgetragen in der Budapester Orpheumsgesellschaft in Wien – so lautete der Titel von vierundzwanzig kleinen Büchern, die ab dem Jahr 1905 innerhalb kurzer Abstände in der k. k. Universitätsbuchhandlung Georg Szelinski erschienen. Eisenbach war Schauspieler, Sänger, Komiker, Filmschauspieler und zwanzig Jahre lang Direktor der Budapester Orpheumgesellschaft in Wien. Jedes Büchlein mit kartoniertem Umschlag hatte sechzehn Seiten Umfang und kostete vierzig Heller – nach heutiger Währung wären das 2,60 Euro. Es waren nicht Anekdoten, sondern Witze mit Pointen. Da der Begriff „Witze“ noch nicht populär war, entschloss man sich, den Inhalt der Bücher als „Anekdoten“ zu bezeichnen. Die kleinen Bücher fanden reißenden Absatz. Als sie in zweiter Auflage erschienen, wurden sie sogar in die kaiserlich-königliche Hofbibliothek aufgenommen.

In den Büchern von Avrom Reitzer, vermutlich ein Pseudonym, und von Heinrich Eisenbach habe ich viele ursprüngliche und urtümliche Fassungen von Witzen entdeckt, die später bei Sigmund Freud, bei Salcia Landmann und anderen Autoren auftauchten – und noch heute erzählt werden. Die über hundert Jahre alten Bücher wurden bisher kaum beachtet, obwohl sie authentisch sind und einen Blick auf die Frühphase der Witzekultur freigeben.

Da Salcia Landmanns Bücher so erfolgreich waren, entschloss sich der Schweizer Walter-Verlag ein ähnliches Projekt mit dem Titel „Der klerikale Witz“ in Angriff zu nehmen. Das Buch erschien 1970, Herausgeber war Hans Bemmann, ein in der Nähe von Leipzig geborener Sohn eines evangelischen Pfarrers. In den 1950er Jahren arbeitete er als Lektor beim Österreichischen Borromäuswerk, mit dem Roman Stein und Flöte gelang ihm später auch ein literarischer Durchbruch. Der österreichische Kulturhistoriker und Linkskatholik Friedrich Heer stellte eine essayistische Einleitung zur Verfügung. Das Buch enthält jene Witze, „die sich häufig entzünden an den Auseinandersetzungen und Zwangslagen eines im Widerspruch zur übrigen Welt stehenden Berufes und Standes, an der Diskrepanz zwischen den Forderungen des Glaubens und der Unzulänglichkeit des Menschen“, so der Klappentext. Das Buch erzielte mehrere Auflagen, auch im Taschenbuch, ist heute allerdings vergriffen.

Im Nachlass Friedrich Heers, das im Literaturarchiv der Nationalbibliothek aufbewahrt wird, findet sich eine Erstausgabe von Salcia Landmanns Buch. Friedrich Heer hat vor Abfassung des Esssays sowohl die Einleitung als auch die Witzesammlung gewissenhaft studiert und einzelnen Zeilen unterstrichen, um sie später leichter zu finden.

Es ist erstaunlich, wie sich manche Witze im Laufe der Zeit verändert haben. Deshalb finden Sie da und dort die Fundstellen vermerkt. Dies dient dazu, Entwicklungsstränge sichtbar zu machen und historische Witze aus ihrem Kontext heraus zu verstehen.

Sprachwitze in den verschiedenen Witzetypen

Gleich zu Beginn meiner Sammeltätigkeit hat sich herausgestellt, dass Sprachwitze in bestimmten Witzetypen besonders häufig vorkommen. Es sind dies Burgenländerwitze, Blondinenwitze, Graf-Bobby-Witze und Frau-Pollak-von-Parnegg-Witze. Sie haben auch noch etwas anderes gemeinsam: Es sind Witze mit einem interessanten historischen Hintergrund – und im Mittelpunkt steht jeweils eine dümmliche Figur.

Beschäftigt man sich dann noch mit dem jüdischen Einfluss auf die Entwicklung von Sprachwitzen, gelangt man unversehens zu den No-na-Witzen und zu den Schüttelreimen. Letztere sind zwar nicht von Juden erfunden, aber von diesen begeistert aufgenommen und kultiviert worden.

Unter „Witz“ verstehen wir „eine (prägnant formulierte) kurze Geschichte, die mit einer unerwarteten Wendung, einem überraschenden Effekt, einer Pointe am Ende zum Lachen reizt.“ So lautet die Definition im Deutschen Universalwörterbuch des Duden (7. Auflage). Der „Sprachwitz“ ist offensichtlich so alt wie die Sprache selbst, aber Witze mit prononcierten Pointen als ein Massenphänomen gibt es erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Das Wort „Witz“ ist eine Abstraktbildung zu „wissen“ und bedeutete ursprünglich „Wissen, Verstand, Klugheit“, wie noch im Wort „Mutterwitz“ erkennbar ist. Seit dem 17. Jahrhunder nahm das Wort unter Einfluss des französischen esprit die Bedeutung „Geist, geistvolle Art, Scharfsinn“ an. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstand man unter Witz auch eine kurze Geschichte oder einen Dialog mit einer überraschenden Pointe, die zum Lachen anregt.

Das deutsche Wort „Witz“ hat also zwei Bedeutungen. Im Englischen werden diese durch das Wortpaar wit und joke abgedeckt. Nur wenn wir im Deutschen die Mehrzahl verwenden und von „Witzen“ sprechen, ist klar, dass jokes gemeint sind.

Bei der Übersetzung des Titels von Sigmund Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten ins Englische wird manchmal jokes und manchmal wit verwendet. Freud analysiert viele Aphorismen, die man nicht unter jokes im klassischen Sinn einordnen kann, aber wie Witze funktionieren.

Rückständig, dumm oder hinterhältig – Witze über Burgenländer, Polen, Türken und andere

Jeder hat sie schon gehört und vielleicht nur verstohlen darüber gelacht; die Burgenländerwitze sind ein Teil der Ethnowitze, in denen eine Gruppe von Menschen – in diesem Fall die Einwohner eines Bundeslandes – auf die Schaufel genommen wird. Burgenländerwitze sind, wie weithin bekannt ist, ein Import aus Deutschland und eine Analogie zu den Ostfriesenwitzen.

Warum nehmen Ostfriesen ein Messer mit ans Meer? – Um damit in See zu stechen.

Da es im Burgenland kein Meer gibt, wird dieser Witz kurzerhand an den Neusiedler See verlegt. Aus „die See“ wird „der See“.

Ähnliche Witze gibt es auch über die Einwohner anderer Bundesländer. Oft werden Burgenländerwitze einfach auf andere Bundesländer übertragen. Nur wenige Witze sind spezifisch für ein bestimmtes Bundesland und nicht austauschbar.

Wie bringen die Kärntner ihren Kindern Deutsch bei? – Sie werfen sie in den Wörthersee.

Was ist der Unterschied zwischen einem intelligenten Tiroler und dem Ötzi? – Den Ötzi hat man schon gefunden.

Der Typus des Ostfriesenwitzes entstand nach einer Lesart gegen Ende der 1960er Jahre in Deutschland. Das Gymnasium in Westerstede im Ammerland, einer Nachbarregion Ostfrieslands, wurde und wird auch von ostfriesischen Schülern besucht. Wie bei vielen benachbarten Regionen gibt es zwischen den Bevölkerungen Ostfrieslands und des Ammerlands häufig Sticheleien und Neckereien. Die Schüler des besagten Gymnasiums veröffentlichten in ihrer Schülerzeitung eine Serie namens Aus Forschung und Lehre. In dieser wurde der sogenannte „Homo ostfrisiensis“ als unbeholfen und dumm karikiert.

 

Lutz Röhrich, ein langjähriger Professor für deutsche Philologie und Volkskunde an der Universität Freiburg im Breisgau und Autor des Lexikons der sprichwörtlichen Redensarten, hielt hingegen die Ostfriesenwitze für einen Import aus den Vereinigten Staaten. In seinem 1977 erschienenen Buch Der Witz schreibt er: „Mit einer gewissen Kulturverspätung ahmt heute Europa die amerikanischen Witzmoden nach. Die Mode begann in den frühen 1960er Jahren. Doch waren die amerikanischen Polack Jokes schon in der mündlichen Überlieferung, bevor sie gedruckt wurden und bevor das Fernsehen sie aufnahm. Der Polackenwitz ist ein antipolnischer Witz, weil die Polen in einigen Gebieten der USA zur lower middle class gehören.“ (Röhrich, S. 273)

Was den Ostfriesen im Witz vorgeworfen werde, sei zivilisatorische Rückständigkeit, Dummheit und Unsauberkeit. „Der Witz will uns glauben machen, dass Ostfriesen alles auffressen, was grün ist (…), sie hängen das Toilettenpapier zum Trocknen auf die Wäscheleine, oder sie streuen Pfeffer auf den Fernseher, damit das Bild schärfer wird.“ (Röhrich, S. 270)

Ostfriesenwitze sind der Form nach meist ein Frage-Antwort-Spiel. Schon die Fragestellung ist provozierend und soll die Aufmerksamkeit des Zuhörers wecken, weil sie auf etwas Absurdes abzielt. Wenn der Zuhörer den Witz noch nicht gekannt hat, kann er die Antwort nicht erraten.

Warum nehmen die Ostfriesen eine Schachtel Streichhölzer und einen Stein mit ins Bett? – Mit dem Stein werfen sie das Licht aus, und mit den Streichhölzern schauen sie nach, ob das Licht auch wirklich aus ist.

Nur wenige Ostfriesenwitze folgen nicht dem Schema eines angedeuteten Dialogs zwischen Erzähler und Zuhörer.

Die Dame an der Kinokasse fragt: „Haben Sie nicht schon dreimal eine Karte gekauft?“ Antwortet der Ostfriese: „Ja, aber der Mann am Eingang zerreißt sie mir immer.“

Ob diese Witze aus den USA nach Deutschland kamen oder in Deutschland ihren Anfang nahmen, ist ungewiss und im Grunde irrelevant. Wir haben ja gesehen, dass es ähnliche Witze schon in der Antike gab. Jedenfalls gelangte der Typus Ostfriesenwitz von Deutschland nach Österreich, wo die Burgenländer zur Zielscheibe wurden.

Das Burgenland ist das jüngste Bundesland, es galt lange Zeit als rückständig und war auch rückständig. Viele Burgenländer emigrierten im 19. Jahrhundert als Wirtschaftsflüchtlinge in die USA, um den ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen. Heute ist das Burgenland eine prosperierende Region – dank des Fleißes der Burgenländer und der großzügigen EU-Grenzlandförderung. Die Rückständigkeit des Burgenlandes ist passé, die Burgenländerwitze sterben allmählich aus.

Vielleicht kennen Sie den folgenden Sprachwitz, der wie gewohnt als Frage formuliert ist. Ich werde ihn später ausführlich analysieren. (Siehe S. 158)

Warum stehen im Burgenland um Mitternacht immer Männer auf dem Dach der Wirtshäuser? – Weil der Wirt sagt: Die letzte Runde geht aufs Haus.

In diesem Fall könnte man die Ortsbezeichnung „im Burgenland“ auch weglassen. Damit würden sich der Charakter des Witzes und seine Zielrichtung ändern. Wir hätten es dann mit einem Antimännerwitz zu tun: So dumm sind sie, die Männer! (Siehe S. 49 ff.)

Ein Metawitz zu den Burgenländerwitzen geht so:

„Kennen Sie den neuesten Burgenländerwitz?“ – „Vorsicht! Ich bin ein Burgenländer!“ – „Dann erzähl’ ich ihn auch ganz langsam.“

(vgl. Koch, S. 37)

In Ethnowitzen wird meist ein Bevölkerungsteil an der Peripherie oder die Bevölkerung eines benachbarten Staates aufs Korn genommen. Die Australier erzählen sich Witze über die Tasmanier, die Griechen über die griechischen Pontier an der Küste des Schwarzen Meeres und die Dänen über die Bevölkerung von Aarhus – die Stadt liegt am Kattegat zwischen Jütland (Dänemark) und der schwedischen Westküste. Die Schweden witzeln über die Finnen und die Norweger, die Finnen wiederum über die Karelier. (Davies, S. 164 ff.)

In unseren Ethnowitzen werden häufig „die Polen“ pauschal zu Dieben erklärt.

Welchen Vornamen geben Polen ihrem Erstgeborenen? – Klaus!

Wer kein Pole ist, kann vielleicht darüber lachen – der Vorname Klaus kann als Imperativ des Verbs „klauen“ ausgelegt werden: „Klau es!“ Ethnowitze haben eine aggressive Tendenz, sie richten sich gegen das Fremde allgemein. Aber im Ausland sind auch wir Fremde, und so kursieren auf den Witzeplattformen auch etliche Ethnowitze über Österreicher. Diese „Ösi“-Witze funktionieren meist ähnlich wie Burgenländerwitze beziehungsweise wie Ostfriesenwitze.

Ein Österreicher bei McDonald’s. „Ich hätte gern was vom Huhn.“ – Der Angestellte: „Ah, Sie meinen Chicken?“ – „Nein, ned schicken! Ich ess es gleich.“

In letzter Zeit haben sich die österreichischen Jäger gegenseitig auf der Jagd erschossen. Mittlerweile hat man auch festgestellt warum. – Die Jäger hatten auf den Schuhen Reebok stehen.

Zwei Österreicher unterhalten sich über ihren Beruf. „Wos bist’n du von Beruf?“ – „I bin a Diplominschenör. Und wos bist du?“ – „I bin a Kraafiker.“ – „Aha, a Kraafiker … Owa wos mochst im Winta wanns weggflogn san?“

Warum ist die österreichische Flagge oben und unten rot? – Damit man sie auf jeden Fall richtig aufhängt.

Das ist immerhin einer der wenigen maßgeschneiderten „Ösi“-Witze. Er ist nicht auf andere Nationen in unserem geografischen Umfeld übertragbar.

„Bilder“ von Volksgruppen und Nationen sind „Kondensate von sehr unterschiedlicher Herkunft und Motivation für unterschiedliche Zweckbestimmungen“, schreibt die Jenaer Universitätsprofessorin Gabriella Schubert in einem Aufsatz über die „Ungarnbilder“ in den Baron-Mikosch-Witzen. „Je nach Ausmaß der in ihnen enthaltenen Brechungen und Verfälschungen kann man sie als Klischees, Stereotype, Vorurteile oder sogar Feindbilder bezeichnen.“ Bei den Vorstellungen von „den Italienern“, „den Türken“, „den Polen“ oder „den Österreichern“ wird davon ausgegangen, dass es so etwas wie einen „Nationalcharakter“ gibt, was natürlich nicht stimmt und nicht beweisbar ist. Zweifellos besteht aber in jeder Gesellschaft ein von Zeit und Ort abhängiger typischer Habitus beziehungsweise Lebensstil, „der sich auf die Denk- und Verhaltensweisen seiner Mitglieder auswirkt“.

Inzwischen sind die Polenwitze von den Türkenwitzen weitgehend abgelöst worden.

Ein junger Türke kommt ins Sozialamt, geht zum Schalter und sagt zu dem Beamten: „Challo, isch wolle nix lebe mehr von die Stütze, isch wolle gehe arbeite.“ Der Beamte des Sozialamtes strahlt den Mann an: „Sie haben irrsinniges Glück. Wir haben hier das Stellenangebot eines reichen Herrn, der einen Chauffeur und Leibwächter für seine nymphomanische Tochter sucht. Sie müssen mit einem riesigen schwarzen Mercedes fahren und ein- bis zweimal täglich Sex mit dem Mädchen haben. Ihnen werden Anzüge, Hemden, Krawatten und Freizeitkleidung gestellt. Weil Sie viele Überstunden leisten, werden Ihnen sämtliche Mahlzeiten bezahlt. Da die junge Dame oft verreist, werden Sie diese auf ihren Reisen begleiten. Das Grundgehalt liegt bei hunderttausend Euro jährlich.“ Darauf der junge Türke zum Beamten: „Du Idiot, willsu mich verarschen?!“ Antwortet der Beamte: „Wer hat denn damit angefangen?“

Die Aussage des Türken enthält Fehler in der Aussprache („Challo“ statt „Hallo!“, „Willsdu?“ statt „Willst du?“), in der Konjugation („von die Stütze“ statt „von der“), in der Wortstellung („Isch wolle nix lebe mehr von die Stütze!“ statt „Ich will nicht mehr von der Unterstützung leben!“) und in der Lexik („Stütze“ statt „Arbeitslosenunterstützung“). Dies ist in derartigen Witzen üblich, es soll damit ein komischer Effekt erzielt werden, wobei nicht bestritten werden soll, dass Türken, die die deutsche Sprache nicht gut beherrschen, so reden.

Aus inhaltlicher Sicht werden in diesem Witz die Türken pauschal als arbeitsunwillig dargestellt, und es wird ihnen vorgeworfen, dass sie unser Sozialsystem missbrauchen. Soziolinguisten weisen darauf hin, dass derartige Witze auch einen Rückkoppelungseffekt haben. Die Türken sind in diesem Fall die Outgroup, der Witzeerzähler und seine, nennen wir es: Lachgemeinschaft sind die Ingroup. Das Klischee über die Outgroup besteht darin, dass alle Türken faule Sozialschmarotzer sind. Für die Lachgemeinschaft ist hingegen ein fleißiger Arbeitseinsatz selbstverständlich und ein allgemein anerkannter Wert, dessen Verbindlichkeit mit dem Erzählen des Witzes unterstrichen wird. (Baur, Wiegeler) Außerdem dient eine Outgroup oft als Sündenbock bei Verteilungsfragen, sie wird beispielsweise zum alleinigen Verursacher für aus dem Ruder laufende Kosten im Gesundheitswesen oder bei der Arbeitslosenversicherung erklärt.

Manche Türkenwitze sind Nachahmungen der bösesten antisemitischen Judenwitze oder mit diesen gedanklich verknüpft. Es ist gut, dass diese menschenverachtenden Witze sozial geächtet sind, und schlimm, dass sie trotzdem im Internet in großer Zahl kursieren und abgerufen werden können.

Es gibt aber auch mildere Türkenwitze, und diese werden oft sogar von türkischen Comedians in voll besetzten Stadthallen vorgetragen.

Ein Krokodil fragt: Wer bin ich? Antwort: Großes Maul, kurze Beine, Lederjacke – ein Türke!

Die Witze sind teilweise selbstironisch, wobei offensichtlich gezeigt werden soll: Selbst die Türkenwitze können wir besser als ihr! „Neu ist, dass die Witzeerzähler sich selbst in eine Opferhaltung begeben. Als würde ihnen irgendjemand die Witze verbieten wollen. Als gehörte der Türkenwitz neuerdings zum Widerstand“, sagt der türkischstämmige Bühnenkünstler Murat Kayi. „Im besten Fall wird der Witz zum Zeichen von Unbefangenheit, Toleranz und Gleichberechtigung. Ich glaube, dass jeder das Recht hat, in einem Witz verarscht zu werden. Ich bin in den Siebzigern in Deutschland aufgewachsen, mit dem Begriff Kümmeltürke. Meine Mutter hat noch still darunter gelitten. Meine Generation hat angefangen, selbst Türkenwitze zu erzählen. Und damit das Machtgefüge geändert.“ (Der Spiegel, 13/2017)

In vielen der milderen Türkenwitze geht es um die Unterschiede zwischen der türkischen und der deutschen Sprache oder um Verständigungsprobleme zwischen Türken und Deutschen beziehungsweise Österreichern. Im zweiten Teil des Buches werden Sie einige davon finden: den „Döner ohne Dativ“-Witz (siehe S. 107 ff.), den „Weißt du?“-Witz (siehe S. 110) und den „Aldi“-Witz (siehe S. 115). Es sind durchwegs Dialoge.

Franzi und Ali sitzen in der Schule. Lehrerin: „Bitte alle die Hand heben, die Österreicher sind.“ Alle außer Ali heben die Hand. Franzi: „Ali, du bist doch hier in Österreich geboren und aufgewachsen, also bist du Österreicher. Melde dich.“ Ali meldet sich.

Als Ali dann nach der Schule nachhause kommt und dem Vater davon erzählt, holt dieser aus und haut dem kleinen Ali eine runter. Ali dreht sich um und sagt: „Oh Mann, kaum ist man Österreicher, schon hat man Stress mit den Türken.“

Dieser Witz illustriert einen Generationenkonflikt in Alis Familie. Ali findet nichts dabei, als Österreicher zu gelten, wenn er dazu aufgefordert wird, er möchte zur Ingroup der Österreicher gehören. Für den Vater sind die Österreicher hingegen eine Outgroup und werden es vermutlich auch bleiben.