Das Weltkapital

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Das wird vielleicht hingenommen werden, wenn dafür z.B. eine relativ größere Menge an Tuch verbraucht werden kann, als sie im eigenen Land zu eigenen Bedingungen herstellbar wäre; allerdings ist dieser Verbrauch dann sozial viel ungleicher verteilt als im Land mit der höheren Produktivität: Das fremde Tuch kann nur unter der Bedingung gegen einen relativ höheren Arbeitsaufwand bei der eigenen Weinproduktion gegen Wein als Äquivalent ausgetauscht werden, dass die Lohnarbeit in der Weinproduktion entsprechend relativ niedriger bezahlt wird und sich der Produktivitätsabstand auf deren Kosten wertmäßig ausgleicht. Da dies jedoch wieder negative Rückwirkungen auf die übrige binnenökonomische Reproduktion hat (Ausfall von Kaufkraft), funktioniert auch dann der internationale Warenverkehr auf die Dauer nur, wenn die Produktivitätsvorteile einigermaßen gestreut sind, also nicht so einseitig wie bei Ricardo dargestellt.

Das ist nicht nur graue Theorie, sondern beweisbare historische Praxis. Das von Ricardo gewählte zentrale Beispiel für sein Theorem, Wein aus Portugal und Tuch aus England, war keineswegs ein fiktives. Es beruhte auf dem so genannten Methuen-Handelsvertrag zwischen England und Portugal, der am 27. Dezember 1703 abgeschlossen wurde. Dessen reale Resultate blamierten Ricardos Argumentation allerdings schon, bevor dieser sie überhaupt niedergeschrieben hatte; ein Beispiel für die systematische ideologische Ignoranz schon der bürgerlichen Klassik in der VWL, die sich seither immer weiter gesteigert hat bis zur völligen Verleugnung der sozialen Tatsachen. Da es im Kapitalismus nicht um die naturale Versorgung und Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig um den abstrakten Wert in der Geldform und dessen Maximierung geht, mußte sich der angebliche wechselseitige »komparative Vorteil« sehr schnell negativ für Portugal auswirken, wie das heutige anonyme Räsonnement in einem publizistischen Flaggschiff des Wirtschaftsliberalismus mit aller Gemütsruhe feststellt:

»Während Portugal seinen Markt für englische Textilien öffnete, verpflichtete sich England, die portugiesischen Weine zollmäßig um ein Drittel weniger zu belasten als die französischen Konkurrenzprodukte, an die sich die englischen Konsumenten gewöhnt hatten. Dieser englisch-portugiesische Warenaustausch ging in die Lehrbücher über den Außenhandel ein. David Ricardo ... nahm ihn als Anschauungsbeispiel für seine Theorie der komparativen Kostenvorteile ... Über die Vor- und Nachteile für England und Portugal aus dem Methuen-Handelsabkommen, benannt nach dem englischen Diplomaten John Methuen (1650-1706), gingen die Meinungen allerdings bald auseinander. Im bilateralen Handel ergab sich für Portugal im allgemeinen ein stark negativer Saldo. Es bezahlte also mit dem reichlichen Gold aus seiner Kolonie Brasilien, was zur Verbreitung der Goldwährung in England beitrug ... Adam Smith ... konstatierte in seinem Werk ›The Wealth of Nations‹, dass der Vertrag als ein Meisterwerk der englischen Handelspolitik gefeiert worden sei und ›fast all unser Gold‹ aus Portugal komme« (Neue Zürcher Zeitung v. 24.12.2003).

Auf der kapitalistisch einzig relevanten Ebene, der von abstraktem Wert und Geldmaximierung, blutete Portugal also eher aus; ähnlich übrigens wie die ehemalige Weltmacht Spanien. Der Niedergang der Kolonial- und »Goldmächte« Spanien und Portugal gegenüber England und Holland ist oft unter dem Aspekt beschrieben worden, dass in der nordeuropäischen und angelsächsischen Welt protoindustrielle Produktion, Produktivitätssteigerung und Exportstärke (in Vermittlung mit »protestantischem« Geist) ihre Überlegenheit gegen die bloß äußere iberische Kolonisation gezeigt und den lateinamerikanischen Goldschatz abgesaugt hätten, so dass dieser letztlich nicht Spanien und Portugal, sondern Holland und England kapitalistisch progessiv entwickeln konnte. Die reale Historie ist insofern ein Schlag ins Gesicht für Ricardos bis heute immer wieder hervorgekramtes Theorem. Im Sinne des »abstrakten Reichtums« (Marx) war Portugal der eindeutige Verlierer beim angeblich wechselseitigen »komparativen Vorteil«; und da die Bedürfnisbefriedigung auf der naturalen Ebene in kapitalistischer Form eben von der Bewegung des »abstrakten Reichtums« gesteuert wird, waren die sozialen »Nebenwirkungen« für die Portugiesen entsprechend verheerend:

»Unter wirtschaftlichen Aspekten fühlte sich aber ... Portugal überlistet. Dies nicht nur, weil englische Textileinfuhren den heimischen Erzeugern zu schaffen machten. Vielmehr kam es auch zu einer Explosion des Weinbaus. Viele Landbesitzer kultivierten nicht mehr Getreide, sondern wegen der attraktiveren Preise Trauben. Es kam zu Überproduktion, Preisverfall und Hungersnot« (Neue Zürcher Zeitung, a.a.O.).

Als Schulbeispiel taugt Ricardos historische Reminiszenz also eher für das genaue Gegenteil seiner Argumentation. Dabei ging es beim Methuen-Freihandelsvertrag wirklich nur um die einzelnen Waren Wein und Tuch; und selbst bei dieser Begrenzung auf ein enges Spektrum waren die Folgen für Portugal bereits ziemlich verheerend. Wenn aber das internationale Gefälle der Produktivität tatsächlich absolut und in großem Maßstab zunimmt, und wenn es nicht mehr nur einzelne Waren, sondern den gesamten Umkreis der Warenproduktion umfasst, also das allgemeine Produktivitätsniveau, dann hört der »komparative Vorteil« für die unterproduktive Nationalökonomie erst recht auf, selbst in der sozial disparaten Verteilung, und es tritt genau jener Mechanismus ein, wie er als Problem der »Unterentwicklung« die kapitalistische Geschichte begleitet hat: Eine zu große Masse an eigenem Arbeitsaufwand (und damit an ökonomischem Wert gemäß den eigenen Binnenstandards der Produktivität) muss gegen eine immer geringere Masse an fremdem Arbeitsaufwand (und damit an ökonomischem Wert) getauscht werden – jetzt nicht mehr bezogen auf einige einzelne Waren, sondern bezogen auf die gesamte gesellschaftliche Reproduktion, soweit sie in den Weltmarkt einbezogen ist.

Und das wird sie zwangsläufig immer mehr, je stärker die binnenökonomische Kaufkraft zurückgeht. Geschieht dies in den entwickelten Nationalökonomien relativ, weil die Produktivität überproportional im Verhältnis zu den Geldeinkommen ansteigt, so geschieht dasselbe in den »unterentwickelten« Ländern absolut, und zwar genau umgekehrt deswegen, weil sie in der Produktivkraftentwicklung nicht mithalten können und dadurch die Geldeinkommen ihrer Bevölkerung immer weiter absinken. In beiden Fällen ist das Resultat die umso stärkere Weltmarktorientierung.

Es handelt sich dabei um nichts anderes als jene Wirkung ungleicher Produktivitätsstandards ohne gemeinsamen Maßstab, wie sie sich schon anhand der Debatte über den »ungleichen Tausch« gezeigt hat: Das relativ unterproduktive Land wird nicht an seinem eigenen Standard, sondern an dem des produktiveren Landes gemessen (während Ricardo unterstellt, es gäbe im internationalen Warentausch überhaupt keinen Produktivitätsmaßstab mehr, was er nur suggerieren kann, weil er pseudo-naiv rein auf der naturalen Ebene statt auf der Verwertungsebene argumentiert).

Indem auf diese Weise große binnenökonomische Arbeitsmengen auf dem Weltmarkt nicht als Werte anerkannt werden, muss die unterproduktive Nationalökonomie bei wachsendem Abstand der Produktivität und gleichzeitig wachsender Einbeziehung der Gesellschaft in den Weltmarkt relativ immer mehr arbeiten und bekommt dafür auf dem Weltmarkt relativ immer weniger Gegenleistung. Und da sich dieses Verhältnis natürlich in den Preisen ausdrückt, ensteht ein wachsendes Missverhältnis von Exportpreisen und Importpreisen (terms of trade), das nur durch Außenverschuldung (zeitweilig) ausgeglichen werden kann.

Schon im frühen 19. Jahrhundert fand Ricardos »scharfsinnige« Milchmädchenrechnung energischen Widerspruch von Ökonomen anderer europäischer Länder, die von den Folgen der britischen Exportoffensive mit billigen Industrieprodukten (an erster Stelle Textilien) heimgesucht wurden. Vor allem der nationalistische deutsche Wirtschaftstheoretiker Friedrich List (1789-1846) zeigte, dass Ricardos Theorem der komparativen Kosten bei einem zu großen und das gesamte Produktionsniveau erfassenden Produktivitätsgefälle falsch war und verlangte daher Schutzzölle für die noch unentwickelte deutsche Industrie; diese sollten bloß vorübergehende »Erziehungszölle« sein, bis das Produktivitätsgefälle überwunden sei.

Bekanntlich war dieser Weg im 19. Jahrhundert tatsächlich erfolgreich; aber nur deswegen, weil der Produktivitätsabstand zwischen England und den kontinentaleuropäischen Ländern noch nicht uneinholbar groß war. Im 20. Jahrhundert dagegen wuchs dieser Abstand zwischen den industrialisierten Staaten des kapitalistischen Zentrums und der globalen Peripherie bereits derart an, dass ein Anschluss an die Industrialisierung teils nur noch durch staatskapitalistische Abschottung (wie im Ostblock) und damit um den Preis langfristiger Stagnation für einige Jahrzehnte versucht werden konnte, teils aber überhaupt nur ein Wunschtraum blieb (wie in den meisten Ländern der so genannten Dritten Welt).

Für die großen Weltregionen der Peripherie stellte sich die »internationale Arbeitsteilung« des Kapitals, von der Ricardo so geschwärmt hatte, schon während der Epoche des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg größtenteils als die Degradation zu bloßen Rohstofflieferanten heraus, weil der klaffende Abgrund im Niveau der Produktivität jeden Versuch zunichte machte, mit eigenen Industrieprodukten konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt zu operieren. Die Mehrzahl der Länder auf der südlichen Halbkugel diente fast nur noch als Zulieferer jener Bodenschätze und Agrarprodukte, die in den kapitalistischen Zentren von Natur aus gar nicht oder nicht in ausreichendem Ausmaß vorhanden sind bzw. angebaut werden können.

Aber bei einem Warenaustausch über den Weltmarkt von Erdöl und Erdgas, Kupfer, Uran usw. sowie Kaffee, Tee, Kakao, Bananen usw. einerseits und Autos, Fernsehern, Flugzeugen usw. andererseits konnte sich die Kluft nur immer weiter vergrößern und der Verfall der terms of trade für die zurückgebliebenen Länder nur immer dramatischere Ausmaße annehmen.

 

Logischerweise mußte dies zweierlei bedeuten. Erstens wuchs die soziale Disparität in den Ländern der Dritten Welt parallel zur Kluft des Produktivitätsgefälles auf dem Weltmarkt und zum Verfall der terms of trade ebenfalls permanent an: Der Austausch von höherwertigen Industrieprodukten mit den Ländern des Zentrums schrumpfte zusehends auf eine sich ausdünnende Oberschicht zusammen, die gewissermaßen die Gesetze des Weltmarkts nach innen repräsentierte und exekutierte, während die Masse der Bevölkerung selber zum bloßen Rohmaterial für die Förderung der Rohstoffe degradiert oder schon damals »überflüssig« wurde. Zweitens sank der relative Anteil der peripheren Länder am Weltmarkt selbst bei absolut wachsender Weltmarktintegration schon während der Boomphase ab, während spiegelbildlich dazu die immer mühsamer zu bedienende Außenverschuldung anwuchs.

Das ist allerdings erst recht keine bloße Theorie mehr, sondern praktische Welterfahrung über Jahrzehnte hinweg. Die Weltwirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts hat das Ricardosche Theorem der komparativen Kosten und »Vorteile« durch die Entwicklung der realen Beziehungen zwischen der relativ unterproduktiven Peripherie und den hochproduktiven kapitalistischen Zentren endgültig praktisch widerlegt, und zwar vernichtend. Deshalb waren die mehr oder weniger kritischen »Entwicklungstheorien« der 60er und 70er Jahre allesamt von diesem unabweisbaren Faktum geprägt, auch wenn ihre theoretischen Erklärungen (»ungleicher Tausch«) und praktischen Vorschläge (Schutzzölle, Abschottung, »Importsubstitution« durch binnenökonomische und »autozentrierte« Industrialisierung etc.) verkürzt, weil auf die apriorischen Formen des warenproduzierenden Weltsystems fixiert waren.

Exportweltmeisterschaft statt internationale Arbeitsteilung

Wenn Ricardos Formel für das Produktivitätsgefälle zwischen den industriellen kapitalistischen Zentren und der globalen Peripherie blamiert ist, so könnte vielleicht ein einsichtiges bürgerliches Räsonnement glauben (großenteils ist es allerdings ganz und gar nicht einsichtig, sondern verblendeter denn je), dann ist sie eben »entwicklungspolitisch« ungeeignet und in dieser Hinsicht müssen andere Lösungswege (selbstverständlich im Rahmen »der Marktwirtschaft«) gefunden werden. Aber für das Verhältnis der entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften untereinander wird das Gesetz der komparativen Vorteile doch wohl Gültigkeit haben?

Die Ironie der realen weltkapitalistischen Entwicklung will es, dass gerade für dieses Verhältnis das Theorem von Ricardo nicht allein falsch, sondern schlichtweg gegenstandslos geworden ist. Und zwar betrifft dies die grundlegendste Voraussetzung alles volkswirtschaftlichen Denkens, also auch desjenigen von Ricardo, nämlich die Nationalökonomie als in sich kohärenten Wirtschaftsraum und als ein mit anderen Nationalökonomien in Beziehung tretendes »Subjekt« selber.

Zwischen den kapitalschwachen und deshalb auch unterproduktiven Ländern der Peripherie und den industrialisierten Zentren des Kapitals konnte und kann man durchaus von einem Welthandel sprechen, der auf »internationaler Arbeitsteilung« beruht – allerdings auf einer seitens der peripheren Länder ebenso unfreiwilligen wie unvorteilhaften. Letzten Endes handelt es sich dabei um eine Funktionsteilung zwischen der hauptsächlichen Produktion von Rohstoffen aller Art (agrarischen, mineralischen usw.) einerseits und der hauptsächlichen Produktion von industriellen Fertigprodukten (unter Einschluss der kapitalistischen Nahrungsmittelindustrie) andererseits.

Aber beim Warenaustausch der industriell entwickelten Länder untereinander kann nicht einmal in diesem negativen Sinne von einer »Arbeitsteilung« im Ricardoschen Sinne gesprochen werden. Deren Voraussetzung wäre ja, dass sich die einzelnen Industrieländer jeweils auf bestimmte industrielle Produkte oder Produktkomponenten spezialisieren.

Davon konnte jedoch höchstens in der Urgeschichte des kapitalistischen Weltsystems teilweise die Rede sein, als sich der Welthandel noch auf bestimmte Segmente der Produktion beschränkte, um von diesen aus die gesamte gesellschaftliche Reproduktion »von oben und außen« kapitalistisch aufzurollen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der sich das Weltsystem erst in Form der Nationalökonomien und ihres wechselseitigen Verkehrs darstellte, ging diese Spezialisierung mehr und mehr zurück. Als sich nach dem tiefen Einbruch des Weltmarkts in der Epoche der Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise seit 1950 unter dem Dach der Pax Americana der internationale Handel zwischen den großen Blöcken der Industrieländer wieder sprunghaft zu erweitern begann, zeigte sich endgültig, dass der Weltmarkt der Waren von einem ganz anderen Prinzip geleitet wird als dem einer »internationalen Arbeitsteilung«.

Denn es war ja nicht so, dass etwa Japan in die USA meinetwegen Radios und diese nach Japan Autos geliefert oder die Europäer ihrerseits beide mit Werkzeugmaschinen versorgt hätten usw. Ebensowenig handelte es sich innerhalb der verschiedenen Warengruppen um eine auf die einzelnen Komponenten bezogene Arbeitsteilung, in der etwa bei der Autoproduktion die USA für alle die Karosserie, Japan das Getriebe und Europa die Motoren beigesteuert hätten usw. Formen einer »internationalen Arbeitsteilung« dieser Art gab es dagegen im östlichen Staatskapitalismus, und zwar sowohl innerhalb der Sowjetunion und ihrer einzelnen Regionen als auch zwischen den staatskapitalistischen Nationen des Comecon, des Wirtschaftsverbundes der Länder im Machtbereich der Sowjetunion.

Im Westen jedoch exportierten stattdessen die USA Autos, Fernseher, Werkzeugmaschinen, Büstenhalter, Käse, Hüte, Schiffe und beliebige andere Güter nach Japan und Europa, und umgekehrt exportierten Japan und Europa dieselben Waren in die USA und auch untereinander. Die Formel lautete mit anderen Worten: Alle liefern allen alles! Keine Spur von einer irgendwie sinnvollen Arbeitsteilung.

Aber eine solche wäre ja auch nur möglich, wenn es um einen möglichst rationellen weltweiten Produktionsverbund von naturalen, stofflichen Gütern zwecks allgemeiner Bedürfnisbefriedigung ginge. Der kapitalistische Produktionszweck ist jedoch ein völlig anderer, nämlich eben der Selbstzweck der Kapitalverwertung. Und der sowjetische Staatskapitalismus scheiterte gerade daran, dass er den stofflichen Inhalt der Produktion (und einer darauf bezogenen, durchaus an sich sinnvollen überregionalen und in mancher Hinsicht auch weltweiten Funktionsteilung) nicht von den Kategorien und Ansprüchen der Geldakkumulation – also der Verwertung von Geldkapital mittels der Ware Arbeitskraft – ablösen konnte.

Zwar behaupten die Apologeten des modernen warenproduzierenden Systems von jeher, dass die Menschheit den verrückten Umweg über diese abstrakte »Verwertung des Werts« machen müsse, damit eine optimale Bedürfnisbefriedigung mit stofflichen Gütern für alle erreicht werden könne. Das ist ungefähr so intelligent wie die Behauptung, dass man, um ein genussvolles und interessantes Leben zu führen, jeden Tag hunderttausend Tonnen Beton in die Landschaft schütten müsse, um als »Abfall« dieser selbstzweckhaften Verrücktheit Geld-einkommen zu erzeugen und dann erst mit diesen sekundär einen eigenen Bedürfniszweck verfolgen zu können. Die Absurdität, dass zwischen naturale Güterproduktion und Bedürfnisbefriedigung der abstrakte und inhaltlich blinde Verwertungsprozess, die Selbstverwertung des Werts oder die Akkumulation von Geldkapital tritt, ist in ihrer paradoxen Erzeugung von Massenarmut durch Reichtumsproduktion ein buchstäbliches »Armutszeugnis« für die Vernunft der warenproduzierenden Moderne.

Auf dem Boden des Kapitalverhältnisses kann es gar keine sachliche Arbeitsteilung sein, die den Warenverkehr auf dem Weltmarkt bestimmt. Vielmehr ist es das Prinzip der universellen Konkurrenz um die »Realisierung« des gesellschaftlichen Mehrwerts, das dem Weltmarkt einzig und allein zugrunde liegt. Das säkulare Anwachsen des internationalen Warenverkehrs und insbesondere die rapide Steigerung seit dem Zweiten Weltkrieg geht nicht auf eine entsprechende Ausweitung arbeitsteiliger Funktionen zwischen den kapitalistischen Industrieländern auf der naturalen, stofflich-technischen Ebene zurück, sondern auf die Verschärfung des kapitalistischen Selbstwiderspruchs von schrankenloser Entwicklung der Produktivkräfte einerseits und permanenter Restriktion der Mehrwertproduktion und damit der gesellschaftlichen Kaufkraft durch denselben Prozess andererseits; also genau so, wie es Marx grundsätzlich gezeigt hatte, nur unter den Bedingungen der zweiten industriellen Revolution, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ländern des Zentrums verallgemeinerte, in einer vielfach größeren Dimension und Beschleunigung als in der Vergangenheit.

Seit den späten 50er Jahren ist der Welthandel sehr viel stärker angestiegen als die Weltindustrieproduktion und hat sich gleichzeitig immer mehr auf die so genannte »Triade«, die drei großen industriellen Wirtschaftsräume (USA, Europäische Union und Japan/Ostasien) konzentriert. Das zeigt, dass jener von Marx festgestellte elementare Selbstwiderspruch des Kapitals schon in der Zeit des großen Nachkriegsbooms zu eskalieren begann: Die kapitalistischen Industrieländer, weit entfernt von jeglicher internationaler Arbeitsteilung, lieferten sich – nationalökonomisch betrachtet – eine mehr und mehr ausufernde Konkurrenzschlacht um die »Exportweltmeisterschaft«.

Zwar stieg in der Zeit des »Wirtschaftswunders« durch die ungeheure Expansion der sogenannten fordistischen Industrien (Automobile, Haushalts- und Unterhaltungselektronik etc.) auch die Beschäftigung und damit die Kaufkraft an, aber die Produktivkraft und damit die Produktionskapazitäten stiegen noch schneller. In der allgemeinen Aufwärtsbewegung während der Boomphase drängten die Industriekonzerne daher verstärkt über die nationalökonomischen Grenzen hinaus, um sich einen größeren Brocken der globalen Kaufkraft zu schnappen: Der allgemeine Anstieg des Warenexports folgte der Logik einer betriebswirtschaftlichen Konkurrenz um internationale Marktanteile, was so ziemlich das Gegenteil einer technischen bzw. organisatorischen Funktionsteilung ist.