ICH

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Ich bin nicht sicher, ob mir damals klar war, welche Auswirkungen diese Erfahrungen langfristig auf mein Leben haben würden. In diesem Moment dachte ich bestimmt nicht: »Diese Erfahrung wird mein Leben für immer beeinflussen.« Ich glaube, ich habe erst viele Jahre später erkannt, wie sehr mich die Zeit, die ich mit diesen Kindern verbrachte, geprägt hat. Denn diese Erfahrungen legten den Grundstein zu der philanthropischen Arbeit, die ich später begann und bis zum heutigen Tag fortführe.

Lektionen fürs Leben

Die Jahre bei Menudo waren für mich eine Zeit zahlreicher Veränderungen und lehrreicher Erfahrungen. Zum einen war Menudo gewissermaßen meine Jugend, eine sehr wichtige Entwicklungsphase eines jeden Menschen. Zum anderen lernte ich in dieser Zeit Disziplin und konnte an meiner Aufgabe wachsen. Was ich damals gelernt habe, bildete zweifellos die Basis für alles, was danach kam. Ohne meine ganzen Erlebnisse und Erfahrungen bei Menudo wäre ich nicht dort angelangt, wo ich heute bin.

Während des Schreibens wird mir klar, dass ich eine sehr intensive und ungewöhnliche Jugend hatte. Damals jedoch schien sich alles ganz natürlich zu entwickeln. Trotz des ganzen Rummels war und blieb ich ein Junge mit ganz ähnlichen Bedürfnissen, Interessen, Ängsten und Zweifeln wie andere Jungen in meinem Alter auch. Nur musste ich eben im Rampenlicht der Bühne erwachsen werden, weit weg von meinen Eltern und unter den Augen Tausender und Abertausender Menschen. Ich und die anderen Menudo-Mitglieder waren gerade mal vierzehn, fünfzehn und sechzehn Jahre alt und wurden von circa 250 000 Mädchen bestürmt. Konnte ich mit dieser Situation überhaupt umgehen? Damals hätte ich die Frage sofort bejaht. Doch später wurde mir klar, dass ich zu dieser Zeit meilenweit davon entfernt war.

Als ich in die Band einstieg, hatte ich von Sex keinen blassen Schimmer – für einen Zwölfjährigen sicherlich bis zu einem gewissen Grad völlig normal. Doch in meiner Familie wurde über dieses Thema auch nie gesprochen. Kaum zu glauben, nicht? Heute muss ich darüber schmunzeln. Denn mein Vater ist ein sehr attraktiver Mann, der das Leben genießt, seine Romanzen hatte und heute eine schöne Frau an seiner Seite hat. Da hätte er mich doch zumindest ein bisschen aufklären können. Doch das Thema Sexualität wurde – sei es aus Scheu oder aus Schamgefühl – konsequent gemieden.

Mein Vater war damals wahrscheinlich der Meinung, ich sei noch zu jung, um aufgeklärt zu werden. Verständlich. Doch Sexualität war ein Thema, das bereits von allen Seiten auf mich einstürmte: Durchs Fernsehen, durch Gespräche mit Schulkameraden oder älteren Geschwistern und Cousins. Die heutigen Kinder sind diesen Informationen viel stärker ausgesetzt als frühere Generationen. Dank Internet brauchst du nur eine Taste zu drücken, und schon landest du in einer Welt, von der du nie zu träumen gewagt hättest. Deshalb ist es wichtig zu wissen: Wenn dein Sohn oder deine Tochter zu dir kommt und dich so etwas fragt, was ich damals meinen Vater gefragt habe, kannst du dir fast sicher sein, dass er oder sie die Antwort schon kennt. Die Kinder wollen nur sehen, welche Antwort du ihnen darauf gibst. Sie wollen testen, ob du es draufhast. Deshalb sollte man unbedingt mit seinen Kindern offen über das Thema sprechen, bevor sie von einer wildfremden Person aufgeklärt werden.

In der Familie haben wir immer ganz offen über viele Dinge gesprochen. Mit meiner Mutter konnte ich schon immer gut reden, und auch zu meinem Vater habe ich heute einen sehr guten Draht. Doch das Thema Sex war damals aus irgendeinem Grund tabu. Mein Vater ist ein großartiger Mensch. Er ist von Beruf Psychologe und hat eine ganz eigene, sehr offene Sichtweise der Dinge. Alle lieben ihn. Er hat jahrelang mit psychisch Kranken in Puerto Rico gearbeitet, und der Himmel weiß, was für Geschichten er sich anhören musste. Doch ich bin davon überzeugt, dass er gerade aufgrund dieser Erfahrungen und natürlich seines besonderen Wesens so liebevoll zu seinen Mitmenschen ist. Er war schon immer ein absoluter Familienmensch, und die Beziehung, die wir heute zueinander haben, zeigt, wie viel er mir gegeben hat und immer noch gibt. Ich bin 39 Jahre alt, mein Vater ist 62. Und obwohl wir während eines großen Teils meiner Jugend voneinander getrennt waren, haben wir das Versäumte wettgemacht und stehen uns heute sehr nahe.

Obwohl ich also damals dank Menudo ein großer Star war, entpuppte ich mich in anderer Hinsicht als Spätzünder. Viele meiner Freunde hatten bereits Herzen gebrochen und sogar schon mit Mädchen geschlafen. Um ehrlich zu sein, alle außer mir. Das heißt, ich war von all meinen Freunden die einzige Jungfrau, und deshalb setzten sie mich permanent unter Druck. Ständig fragten sie: »Wann passiert’s? Wann bist du bereit dafür?« Bis schließlich der Tag kam, an dem ich mit einem Mädchen Sex hatte. Sie war ganz nett, doch ich machte es in erster Linie, weil meine Freunde mich dazu drängten. Zudem herrscht in unserer Gesellschaft ein gewisser Druck, dass man als Mann niemals nein sagen sollte, wenn man die Gelegenheit zum Sex hat. Das galt erst recht für mich als Mitglied von Menudo, denn in der Band gab es eine stillschweigende Übereinkunft, dass derjenige von uns am erfolgreichsten war, der die meisten Mädchen rumkriegte. Ich wusste, dass ich meine Pflicht erfüllen musste. Doch ich fühlte mich unwohl dabei und konnte diesen Moment, den ich mir romantischer, vielleicht auch etwas leidenschaftlicher vorgestellt hatte, überhaupt nicht genießen.

Sie war ein hübsches Mädchen, und ich mochte sie. Doch es bestand zwischen uns keinerlei Intimität, keine Nähe, nichts. Aus diesem Grund fand ich die Erfahrung nicht besonders spektakulär. Ich weiß noch, dass ich hinterher dachte: »Das war’s?« Und: »Ist es das, wovon alle gesprochen haben? O wie furchtbar!« Natürlich hatte es nichts mit dem Mädchen zu tun, sondern mit den damaligen Umständen. Ich empfand die ganze Situation als unangenehm und sogar ein wenig komisch. Ich bin sicher, es gibt eine ganze Menge Leute, egal ob homo oder hetero, die sich mit mir identifizieren können und ihr erstes Mal auch nicht gerade prickelnd fanden. Wie hätte das auch sein sollen? Schließlich hatten wir keine Ahnung von dem, was wir da taten. Später lernte ich dann natürlich Frauen kennen, für die ich wirklich etwas empfand und mit denen ich eine fantastische Beziehung hatte. Und als ich entdeckte, was für intensive Gefühle beim Sex zwischen Mann und Frau entstehen können, konnte ich das Zusammensein mit Frauen eher genießen.

Das Ende einer Ära

Menudo brachte in der Zwischenzeit weitere Alben heraus und ging weiterhin auf Tournee. Doch obwohl es nach außen hin so schien, als würde es für mich und die Band hervorragend laufen, machten sich im Inneren für beide Seiten Probleme bemerkbar. 1987 gingen unsere Albumverkäufe zurück, und wir mussten die Plattenfirma wechseln. Deshalb sahen wir uns gezwungen, uns ein komplett neues Image zuzulegen. In punkto Klamotten und Frisuren orientierten wir uns nun eher an der Rockmusik, und auch unser Musikstil veränderte sich. Wir ließen den Pop hinter uns und wandten uns einem härteren Genre zu. Wir veröffentlichten das spanischsprachige Album Somos los Hijos del Rock. Für unsere Fans auf den Philippinen nahmen wir eine Version mit dem Titel In Action auf, das Songs in Englisch sowie Tagalog, der am meisten verbreiteten Sprache auf den Philippinen, enthielt. Kurz darauf erschien das englischsprachige Album Sons of Rock, mit dem wir einen weiteren Hit landeten (»You Got Potential«). Diesem Erfolg verdankten wir eine Tour durch die Vereinigten Staaten, bei der wir in vierzig Städten auftraten. Es war eine total spannende Phase, da wir uns selbst neu erfinden und unseren Fans einen neuen Musikstil präsentieren konnten.

Was sich in diesen Jahren nicht änderte, war unsere Arbeitsweise. Von all den Dingen, die ich bei Menudo gelernt habe, hatte die Disziplin den größten Einfluss auf meine Karriere und meinen Charakter. Wir sagten niemals nein, ganz gleich, worum man uns bat. »Klar, machen wir!«, lautete unsere Antwort stets. Wir gingen überall hin, jeder Anlass war uns recht – Promo-Gigs, Radio-Interviews, Autogrammstunden im Plattenladen für die Fans, Bandproben. Wir nutzten jede Gelegenheit, uns der Öffentlichkeit zu präsentieren. Oft machten wir all diese Dinge an ein und demselben Tag: Morgens in aller Frühe starteten wir beispielsweise mit einem Radio-Interview. Anschließend hetzten wir zum Fotoshooting bei der Presse. Von dort aus ging es zum Plattenladen und später in ein Krankenhaus wegen einer Benefizveranstaltung. Danach standen Probe und Soundcheck für die abendliche Show auf dem Programm. Es war total anstrengend. Oft arbeiteten wir vierzehn Stunden am Stück, und das fünf oder sechs Tage hintereinander. Am siebten Tag stiegen wir dann ins Flugzeug oder in den Bus, um die nächste Stadt anzusteuern.

Ich hatte mich bei Menudo derart verausgabt, dass ich in meinem letzten Jahr dann die Schnauze voll hatte. Nach wie vor liebte ich die Auftritte, die Musik, das Gefühl, auf der Bühne zu stehen. Doch ich fühlte mich völlig ausgepowert. Ich konnte einfach nicht mehr. Der Bandmanager bat mich, noch ein Jahr dabeizubleiben, weil einige der anderen Jungs die Band gerade zu diesem Zeitpunkt verließen. Ich verspürte zwar nicht die geringste Lust dazu, aber ich willigte ein. Mein ursprünglicher Vertrag mit der Band lief über drei Jahre, doch ich war damals bereits vier Jahre dabei gewesen. Mit diesem letzten Jahr waren es also insgesamt fünf Jahre.

Um ehrlich zu sein, ich bin nur deshalb geblieben, weil ich die Band wie auch die Crew sehr mochte und großen Respekt vor allen Beteiligten hatte. Nach den vielen gemeinsamen Jahren auf Tour waren wir schließlich zu einer richtigen Familie zusammengewachsen. Auch abgesehen von der rein geschäftlichen Beziehung empfanden wir große Sympathien füreinander. Deshalb wollte ich die anderen zu einem Zeitpunkt, wo sie mich brauchten, nicht hängen lassen. Ich blieb also ein weiteres Jahr in der Band, allerdings zu meinen eigenen Bedingungen. Darauf hatte ich bestanden, und sie hatten es bereitwillig akzeptiert. In meiner ersten Zeit bei Menudo konnten beispielsweise nur zwei von uns, darunter ich, Englisch sprechen. Deshalb wurden mein Bandkollege und ich jedes Mal eingespannt, wenn wir ein Interview auf Englisch geben mussten. Die anderen Bandmitglieder durften währenddessen im Hotelzimmer entspannen und fernsehen. Das fand ich ziemlich unfair – auch ich hätte mich lieber ausgeruht! Deshalb bat ich den Manager, den Job in meinem letzten Jahr von jemand anderem machen zu lassen. Ich wollte nur noch bei den Auftritten dabei sein und sonst nichts. Zum Glück akzeptierten sie meine Bedingungen, und so haben wir es dann auch gehandhabt.

 

Dies war weder Arroganz meinerseits, noch wollte ich den anderen irgendwelche Schwierigkeiten machen. Ich wollte einfach nur raus aus der Band. Abgesehen davon, dass ich die Plackerei satt hatte, während die anderen Jungs sich mit Sportwagen, Motorrädern und dem ganzen Schnickschnack ein schönes Leben machten. Ich erhielt ein mageres Gehalt von 400 Dollar im Monat. Denn als ich der Gruppe beitrat, beschlossen meine Eltern und ihre Anwälte, mein Geld treuhänderisch zu verwalten, um jegliche Missverständnisse zu vermeiden. Von diesem Konto durfte ich monatlich 400 Dollar abheben. Das restliche Geld würde bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dort eingefroren bleiben. Ich war sauer, dass ich für meine harte Arbeit so schlecht bezahlt wurde. Sicherlich gibt es eine Menge Leute, die sehr viel härter arbeiten, als ich es damals tat, und noch weniger verdienen. Doch ich war ein Teenager, und mein Vergleichsmaßstab waren nun einmal die anderen Menudo-Mitglieder. Deshalb kam es mir vor, als bekäme ich überhaupt nichts.

In meinen Augen gab es viele Gründe, eine Veränderung in meinem Leben zu suchen: Ich wollte mir den ganzen Stress nicht mehr antun, war sauer, weil ich so kurzgehalten wurde, doch vor allem suchte ich einfach eine neue Herausforderung. Die jahrelange Zusammenarbeit mit Menudo hatte mich in vielerlei Hinsicht verändert. Ich wurde allmählich erwachsen und wünschte mir nichts sehnlicher, als in mich gehen und intensiv darüber nachdenken zu können, was ich aus meinem Leben machen wollte.

Ich verließ Menudo also im Juli 1989. Mein Abschiedskonzert mit der Band fand im Luis A. Ferré Center for Fine Arts in San Juan statt. Dies war für mich der perfekte Ort, um meine Karriere bei Menudo zu beenden. Schließlich hatte ich dort auch mein Debüt mit der Band gegeben. Es war nun Zeit, dieses Kapitel abzuschließen und mich neuen Dingen zuzuwenden.

Nach der Show kehrte ich nach Hause zurück, ohne die geringste Ahnung zu haben, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Klar, ich musste die High School beenden, doch was meine Karriere betraf, war meine Zukunft völlig ungewiss. Nun hatte ich mich erst einmal wieder an das Zusammenleben mit meiner Familie zu gewöhnen. Das ist zweifellos für jeden Teenager eine schwierige Sache. Doch in meinem Fall, denke ich, machten es mir die Umstände noch schwerer, mich anzupassen. Schließlich war es mittlerweile fünf Jahre her, dass ich das letzte Mal mit ihnen zusammengelebt hatte. Und die Erfahrungen, die ich bei Menudo machte, hatten mit meinem Leben zu Hause, im Schoß der Familie, nicht das Geringste zu tun. Ich fühlte mich ausgeschlossen, einsam, verloren.

Viele Leute glauben, dass mich der Song »Livin’ La Vida Loca« am besten charakterisiert. Das ist allerdings ein Irrtum. Der Song, der mein Leben am treffendsten beschreibt, stammt aus der Feder des großartigen Künstlers und Komponisten Ricardo Arjona. Das eigens für mich geschriebene Stück hat den Titel »Asignatura Pendiente« (»Anstehende Aufgabe«). Der Songtext schildert auf brillante Weise jenen Tag im Jahr 1984, an dem ich Puerto Rico zum ersten Mal verließ: Deine winzige Hand winkt zum Abschied / An jenem verregneten Nachmittag in San Juan / Mit den Küssen, die ich mitnehme. Ohne mir dessen bewusst zu sein, ließ ich am Tag meiner Abreise aus Puerto Rico diejenigen zurück, die mich liebten. Ich ließ meine Kindheit zurück. Ich blickte nach vorn und sah nichts als blauen Himmel und ein gewaltiges Universum unzähliger Möglichkeiten. Jetzt, wo ich wieder zu Hause war, sah derselbe Himmel grau und verschwommen aus, und die unzähligen Perspektiven, die sich mir zuvor eröffnet hatten, lösten sich in Luft auf.

Der Text von Arjonas Song beschreibt die Herausforderung und das Geheimnis des Erfolgs. Erfolg ist ein zweischneidiges Schwert. Denn für jede Sache, die man tut, muss man eine andere opfern. Für jeden Weg, den man einschlägt, bleibt ein anderer unerforscht. Das ist das Gesetz des Lebens. Ich habe mich bewusst für die Bühne entschieden. Ich wollte vor einem Publikum auftreten, den Applaus hören und bewundert werden. Dieses Gefühl erfüllt und beglückt mich ungemein. Doch heute weiß ich, dass die Liebe meiner Fans manchmal ihren Preis hat. Ihre überwältigende Liebe ist etwas Wunderbares, doch die Intensität des Ruhms kann manchmal auch schmerzlich sein.

In meinem Land gibt es das folgende Sprichwort: »No hay mal que por bien no venga« (»Es gibt kein Übel, das nicht auch zu etwas Gutem taugt«). Ich finde, wir sollten uns stattdessen lieber einen Spruch zu Eigen machen wie diesen hier: »Heute entscheide ich mich für den Weg, der schon immer meiner war.« Es als Fehler zu betrachten, dass ich Puerto Rico an jenem Tag verließ, hieße, all die wundervollen, außergewöhnlichen Dinge, die danach geschahen und die mir entgangen wären, wenn ich zu Hause geblieben wäre, zu ignorieren. Ich denke, es war weder völlig richtig noch völlig falsch, meine Heimat verlassen oder die Zeit bei Menudo verbracht zu haben. Es war richtig und falsch zugleich. Ich musste das tun, was ich tat, um dorthin zu gelangen, wo ich heute bin.

Wir werden alle unterschiedlich schnell erwachsen. Einige Menschen haben das Glück, unter der Anleitung und der liebenden Fürsorge ihrer Eltern aufzuwachsen, andere müssen sich den Umständen anpassen und schon sehr früh in ihrem Leben erwachsen werden. Ich gehöre zu den Letzteren. Im Alter von zwölf Jahren bot sich mir eine Chance, die mein ganzes Leben auf den Kopf stellte: Menudo. Es war eine der erfolgreichsten Bands der Musikgeschichte, und als ich schließlich ein Teil davon wurde, ging ein Traum in Erfüllung. Menudo war alles, was ich mir je gewünscht hatte. Doch wie alle großartigen Dinge im Leben war auch diese Erfahrung mit vielen Opfern verbunden: Ich musste meine Familie, meine Schule und meine Freunde zurücklassen – alles, was mir vertraut war. Ich opferte meine Jugend und meine Unschuld. Aber obwohl mir heute klar ist, dass ich mir diese Dinge niemals wieder zurückholen kann, bereue ich definitiv nichts. Es war zwar ein schwieriger Prozess, aber darum geht es schließlich beim Erwachsenwerden: Du stellst dich den Herausforderungen, die das Leben für dich bereithält, und wächst an ihnen.

Als ich damals das erste Mal nach Hause zurückkehrte, war mir selbst noch nicht bewusst, wie mich meine neuen Erfahrungen verändert hatten. Meine Entwicklung war noch längst nicht abgeschlossen. Zwar war ich in vielerlei Hinsicht schon sehr erwachsen – ich hatte intensiv gelebt, war viel gereist und hatte jede Menge Erfahrungen gesammelt. Jedoch war mir damals nicht klar, welchen spirituellen Weg ich einschlagen sollte, um zu mir selbst zu finden. Während meiner Zeit bei Menudo hatte ich eine Menge gelernt und mich in geradezu beängstigendem Tempo entwickelt. Ich lernte nicht nur zu singen, zu tanzen und all die anderen Dinge, die man für eine Karriere im Showbusiness braucht. Ich begann zugleich, die Welt auf eigene Faust zu erkunden, ohne Aufsicht durch meine Eltern, die mich beschützten. Natürlich resultierten daraus so manche Defizite, und schon bald nach meiner Heimkehr machten mir Unsicherheit, Angst und Orientierungslosigkeit, wie sie wohl jeder Teenager kennt, schwer zu schaffen. Erst nach der Rückkehr auf meine Heimatinsel und in den Schoß der Familie bemerkte ich diese innere Leere. Ebenso wie viele andere Menschen glaubte auch ich damals, Glück sei etwas, das ich außerhalb meiner selbst und nicht in mir finden konnte.


Zu dem Zeitpunkt, als ich meinem Vater mit Menudo auf den Wecker ging, glaubte ich, mir nie wieder wegen irgendetwas Sorgen machen zu müssen, wenn ich es nur schaffte, in die Band zu kommen. Ich würde Geld verdienen und mit den anderen vier Jungs, meinen damaligen Idolen, zusammenleben. Alle meine Träume würden wahr werden, und ich hätte mein Lebensziel erreicht. Denn ich spürte in meinem tiefsten Inneren, dass ich Künstler werden wollte. Nichts würde mich davon abhalten, meinen Traum zu verwirklichen. Jedoch wusste ich damals nicht, dass die »kürzeste« Entfernung zwischen zwei Punkten nicht immer eine gerade Linie ist und ich noch einiges dafür tun musste, um meine Ziele zu erreichen.

Bei Menudo war dann alles mehr oder weniger Routine. Alles war vorhersehbar. Das Einzige, was von mir verlangt wurde, war die Befolgung einiger Regeln. Nach meinem Ausstieg aus der Band jedoch verlief meine Karriere plötzlich nicht mehr linear, sondern stellte sich, zumindest auf den ersten Blick, als Ansammlung aus mehreren willkürlich angeordneten Punkten dar. Anstatt mich weiterhin auf die Musik zu konzentrieren, probierte ich alles Mögliche aus, je nachdem, welche Gelegenheiten sich mir gerade boten. So landete ich beim Film, beim Theater sowie beim Fernsehen, bevor ich mich wieder der Musik zuwandte. Ohne diese Bandbreite an Erfahrungen wäre ich nicht bereit dafür gewesen, das Schicksal, das das Leben für mich bereithielt, anzunehmen. Heute frage ich mich, ob es überhaupt Schicksal in diesem Sinne war, oder ob ich mein Schicksal – dank der enormen Kraft des Bewusstseins – nicht vielmehr selbst gestaltet habe.

Wieder zu Hause

Als ich nach fünf Jahren Menudo nach Puerto Rico zurückkehrte, fühlte ich mich völlig verloren. Fast schien es, als wüsste ich gar nicht, wer ich eigentlich bin. Ein Teil von mir wollte sich von der Unterhaltungsindustrie distanzieren. Doch während meiner Zeit bei Menudo war das Showbusiness zu einem derart wichtigen Teil meines Lebens geworden, dass ein Verzicht darauf der Entfernung eines wichtigen Körperorgans gleichgekommen wäre.

Vermutlich hatte mein Unbehagen hauptsächlich mit der Tatsache zu tun, dass ich siebzehn Jahre alt war. Wie die meisten Jungs in diesem Alter spürte ich, dass ich an einem Wendepunkt in meinem Leben angelangt war. Ich musste Entscheidungen treffen wie ein Erwachsener, doch ich tat dies mit der geistigen Reife eines Kindes. Es scheint irgendwie paradox: Obwohl ich während meiner Zeit bei Menudo viel schneller erwachsen werden und schneller lernen musste als unter normalen Umständen, war ich in vielen Dingen noch ein Kind. Im Alter zwischen zwölf und siebzehn Jahren musste ich nie Entscheidungen für mich selbst treffen – meine Klamotten und Frisuren, meine Musik und die Reiserouten wurden stets von jemand anderem festgelegt. Und so funktionierte ich: Ich tat, was man von mir erwartete, und versuchte immer, es allen recht zu machen. Als ich mein Leben dann schließlich selbst in die Hand nahm, fühlte ich mich hilflos und überfordert. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ich mich wenden oder was ich tun sollte. Ich war völlig haltlos.

Nach meiner ersten Erfahrung mit einem Mädchen machte ich auch einige Erfahrungen mit Männern. Und auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, so war ich mir meiner Sexualität voll bewusst. Ich spürte, dass widersprüchliche Emotionen in mir einen Kampf austrugen. Doch als ich meine Homosexualität entdeckte, war ich so entsetzt, dass ich mir nicht einmal die Zeit nahm, meine Gefühle zu analysieren und mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Wir waren von unserer Kultur her darauf gepolt, dass Liebe und Anziehung zwischen zwei Männern eine Sünde war. Aus Angst verdrängte ich deshalb meine Neigungen, anstatt zu ihnen zu stehen.

Ein weiteres Problem, mit dem ich mich nach meiner Rückkehr auf die Insel konfrontiert sah, war das Chaos zu Hause. In der Zeit vor Menudo hatte mich die Trennung meiner Eltern so gut wie überhaupt nicht belastet. Obwohl meine Eltern getrennt lebten, hatte ich eine überaus glückliche Kindheit. Ich hatte nie unter der Trennung gelitten, da meine Eltern sich stets bemühten, eine gewisse Harmonie aufrechtzuerhalten. Das gab mir inneren Frieden. Als ich dann bei Menudo einstieg, spürte ich den Schmerz zum ersten Mal. Die frühe Trennung von meiner Familie hatte gravierende Auswirkungen auf alle Familienmitglieder. Ich begann plötzlich, unter der Trennung meiner Eltern zu leiden. Während ich als Mitglied einer der angesagtesten Bands des Planeten um die ganze Welt reiste und überall von kreischenden Fans empfangen wurde, stritten sich meine Eltern mehr denn je. Meine Mutter und mein Vater, die bislang trotz allem eine harmonische Beziehung geführt hatten, wurden zu unversöhnlichen Gegnern. Und ich selbst fühlte mich angesichts dieses erbitterten Rosenkrieges völlig hilflos.

 

Auf der einen Seite bedeutete meine Rückkehr nach Hause, dass ich Abstand gewinnen konnte vom Stress des Bandlebens, der Tourneen sowie dem ständigen Arbeitsdruck. Andererseits war es bedrückend zu sehen, wie viel Wut und Groll sich während meiner Abwesenheit bei meinen Eltern angestaut hatte. Und nicht nur sie waren wütend aufeinander, auch ich selbst entwickelte einen Zorn auf meine Eltern, weil ich bei ihrem Konflikt zwischen die Fronten geriet. Ich war gezwungen, Partei zu ergreifen – etwas, das man von keinem Kind verlangen sollte. Jeder Besuch in Puerto Rico war ein Albtraum. Es war irgendwie lächerlich und zugleich sehr schmerzlich. Ich sollte mich zwischen den zwei Menschen entscheiden, die mir am allermeisten auf der Welt bedeuteten. In deiner Kindheit versuchen deine Eltern, dir Gott nahezubringen. Doch während du versuchst, den abstrakten Begriff eines »höheren Wesens« zu verstehen, sind es deine Mutter und dein Vater, die in deinem Alltagsleben diese Rolle übernehmen. Wenn Mum und Dad (beziehungsweise Gott) Fehler machen, die dir Kummer bereiten, weißt du nicht, wie du ihnen verzeihen sollst. Was total absurd erscheint: Gemäß der Religion, mit der ich aufgewachsen bin, war ich derjenige, der sich bei Gott für seine Fehler entschuldigen musste. Doch hier war es Gott beziehungsweise waren es Mum und Dad, die mir Leid zufügten, indem sie von mir verlangten, mich zwischen ihnen zu entscheiden.

Viele Kinder auf der ganzen Welt sind mit einer solchen Situation konfrontiert. Und mir blutet das Herz, wenn Eltern einfach nicht begreifen, was sie ihren Kindern mit ihrem Verhalten antun. Auch wenn meine Eltern sicherlich ihre Gründe hatten, warum sie sich ständig zofften, war mein einziger Gedanke: »Was gehen mich eigentlich ihre Probleme an?« Ich arbeitete wie ein Besessener und konnte mich nicht einmal in meiner Freizeit richtig entspannen wie die anderen Jungs in der Band.

Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich mich bei Menudo deshalb so abrackerte, weil ein Teil von mir die Probleme, die mich zu Hause in Puerto Rico erwarteten, vergessen wollte. Während ich arbeitete und durch die Welt reiste, fühlte ich mich sicher und weit weg von den Dingen, die sich in meiner Familie abspielten. War ich dann zu Hause bei meinen Eltern, wusste ich nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Deshalb ertrug ich es einfach ein paar Tage lang, nach dem Motto »Augen zu und durch«, und kehrte dann so schnell wie möglich wieder zur Arbeit zurück.

Doch nun, da es so aussah, als würde ich für die nächste Zeit zu Hause wohnen, gab es kein Entrinnen. Ich musste mich der Realität stellen, egal was passierte. Lange Zeit fand ich keine Erklärung dafür, warum sich meine Eltern die ganze Zeit stritten und so zornig aufeinander waren. Heute jedoch ist mir klar, dass sie unter den gegebenen Umständen das Beste aus der Situation gemacht haben. Und diese Sichtweise hat mir geholfen, ihnen zu verzeihen.

Nach einiger Zeit habe ich erkannt, dass sie sich nur deshalb stritten, weil beide das Beste für mich wollten. Nur waren sie eben unterschiedlicher Meinung. Doch auch wenn sie mir durch ihre Sturheit viel Kummer bereitet haben, taten sie es immerhin aus einem sehr wichtigen Grund: Weil sie mich lieben und ich ihr Sohn bin. Und gibt es etwas Besseres als das? Es gibt Eltern, die ihre Kinder im Stich lassen, statt sie zu beschützen. Meine Eltern waren das genaue Gegenteil: Sie waren immer um mich besorgt und liebten mich über alles. Als ich das kapierte, fand ich meinen Seelenfrieden. Im Grunde meines Herzens habe ich meinen Eltern das ganze Leid, das sie mir zufügten, verziehen. Und heute könnte unsere Beziehung nicht inniger sein. Ich genieße und schätze jeden Moment, den sie mit mir und meinen Kindern verbringen, und versuche, sie so oft wie möglich zu sehen.

Volljährig

Einer der positiven Aspekte meiner Rückkehr nach Puerto Rico war, dass ich mich nun voll und ganz darauf konzentrieren konnte, ein Teenager zu sein. Eine riesengroße Erleichterung! Ich beendete die High School, und von meinem kleinen Gehalt konnte ich mir sogar ein Auto kaufen. Mit diesem düste ich dann von einer Party zur nächsten, wo ich dann meist bis zum Morgengrauen abhing.

Doch auch wenn ich damals nach außen hin schwer beschäftigt wirkte – Partys, Büffeln für die High School, Treffen mit Familie und Freunden und so weiter –, fühlte ich mich im Inneren total verloren. Ich war erschöpft und orientierungslos. Obwohl diese Gefühle für jemanden in meinem Alter wahrscheinlich normal sind, bin ich mir sicher, dass die Erfahrungen mit Menudo meine Selbstzweifel noch verstärkt hatten. Zwar hatte ich die Jahre in der Band unheimlich genossen, aber nachdem dann alles vorbei war, war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt weiterhin im Musikbusiness arbeiten wollte. Die Bühne, die einst eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausgeübt hatte, weckte nun zwiespältige Gefühle in mir. Ich hatte keine Ahnung, welchen Weg ich einschlagen sollte. Vor allem brauchte ich Zeit, um darüber nachzudenken.

Ich beendete die High School, und am 24. Dezember 1989 feierte ich meinen achtzehnten Geburtstag. An diesem Tag wurde ich nicht nur volljährig, sondern erlangte zugleich auch finanzielle Unabhängigkeit. Endlich konnte ich auf die Bankkonten zugreifen, die jahrelang eingefroren gewesen waren. Ich konnte mit meinem selbst verdienten Geld anstellen, was ich wollte. Und zur Feier des Tages beschloss ich, mir erst einmal ein schönes Leben zu machen! Genau dreizehn Tage nach meinem Geburtstag, am 6. Januar 1990, machte ich mich nach New York City auf.

Mein ursprünglicher Plan war, dort nur eine Woche zu bleiben – oder zumindest habe ich das allen gesagt. Ich schnappte mir mein Kissen, meinen Rucksack und ein paar Klamotten, sodass niemand Verdacht schöpfen oder meine Absichten durchschauen würde. Sofort nach meiner Ankunft auf dem John F. Kennedy-Flughafen rief ich jedoch meine Mutter an und sagte: »Mami, ich bleibe in New York.«

»Was?«, rief sie aus. »O nein! Wie kannst du nur in New York bleiben? Warum gehst du nicht lieber nach Miami?«

Ich glaube, der Gedanke, dass ich in einer so großen Stadt leben würde, machte sie nervös. Sie hatte Angst, dass ich überfallen würde oder mir sonst irgendetwas Furchtbares zustieße. »Na komm, Mami«, beschwichtigte ich sie. »Du hast dir zu viele Filme angeschaut. Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich nun mal entschlossen, für eine Weile hier zu leben.«

Wie gesagt, ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Aber ich spürte auch, dass ich in punkto Partys kürzertreten musste. Meine sechs Monate in Puerto Rico waren voller Verrücktheiten und Abenteuer gewesen. Ich hatte eine tolle Zeit, doch in meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass ich nur vor der großen Frage davonlief, die mich ständig verfolgte: Was soll ich als nächstes tun? Deshalb waren Partys nach meiner Ankunft in New York das Letzte, was ich wollte. Im Gegenteil: Ich suchte Ruhe und Entspannung. Ich hatte dort zwei gute Freunde, die frisch verheiratet waren und ebenfalls erst vor Kurzem nach New York gezogen waren. In ihrem Haus konnte ich eine Weile wohnen. Während dieser Zeit erkundete ich die Stadt und nutzte die Gelegenheit, mich in meiner neuen Heimat einzuleben.