Das Ketzerdorf - In Ketten

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22

Augsburg, Sankt Barbara21 1580

Oktavian war in eine Wohnung am Weinmarkt gezogen. Seine Aufgaben als Amtsarzt nahmen ihn fast Tag und Nacht in Anspruch. Die Hospitäler, Siechhäuser und Gefängnisse waren über das ganze Stadtgebiet verteilt. Um von einem Institut zum anderen zu gelangen, benötigte er sehr viel Zeit. Er hatte sich vorgenommen, bei seinen Gefängnisbesuchen die zum Tode Verurteilten genau anzusehen. Aber bisher war keiner dazu geeignet gewesen, den Auftrag zu übernehmen, den er und Otto ersonnen hatten. Entweder sie waren zu alt oder seelisch gebrochen und wollten nicht mehr weiterleben. Auch am heutigen Tag war wieder ein Rundgang durch das Gefängnis in den Gewölben unterhalb des Rathauses vorgesehen. Dort warteten mehrere Kandidaten auf ihre Hinrichtung. Ein Büttel leuchtete Oktavian mit einer langen Fackel hinunter in die Verliese. Er rümpfte die Nase; es stank nach Urin und Kot.

»Kindsmörderin, vierundzwanzig, Tod durch Ertränken«, erklärte der Büttel am ersten Verlies.

Die Frau stand völlig in sich versunken an der Wand, hatte die Hände gefaltet und betete. Sie gingen weiter.

»Raubmörder, achtunddreißig, Hinrichtung durch das Rad.« Oktavian kannte den Mann bereits, der zusammengekauert in der Ecke saß. Ihn würde das Gericht sicherlich nicht auslösen, zu sehr wartete das schaulustige Volk auf die Vollstreckung des Urteils.

»Gestern erst verurteilt: ein elender Gauner, mehrfacher Dieb und Betrüger, siebenundvierzig, Tod durch das Schwert.«

»Du wirst ihm vor der Hinrichtung die langen Haare abschneiden müssen. Der Henker braucht freie Sicht auf den Nacken!«, erklärte Oktavian dem Büttel.

»Beim Hades, der Medicus! Ich kenne Euch! Ihr habt damals in den Bergen die Wunde von meinem Kind versorgt.« Der Mann kam ans Gitter heran. Oktavian deutete dem Büttel an zu leuchten.

»Ja, tatsächlich! Don Alfonso! Du bist der Gaukler mit der Kinderschar, der auf dem Weg nach Norden war. Das ist bestimmt zwanzig Jahre her. Warum hat man dich verurteilt?«

»Den Don könnt Ihr getrost lassen! Aus und vorbei! Ihr wisst doch, wie das Geschäft läuft. Es war schwer genug für mich, die Kinder über die harten Winter zu bringen. Nun stehen sie auf eigenen Füßen. Von einem alten Wanderheiler habe ich den Laden übernommen, Zahnziehen, Wässerchen, Tinkturen und die Geschichten dazu. Meine Frau Marfisa hat als Wahrsagerin den Leuten das Blaue vom Himmel erzählt. Wir hatten beschlossen, ein ehrliches Leben zu führen, auf Jahrmärkten und Reichstagen haben wir uns durchgeschlagen, so gut es eben ging. Eines Morgens lag sie tot im Wagen. Hunderten hatte sie das Schicksal aus der Hand gelesen und wurde doch vom eigenen überrascht. Ich wollte ihr doch ein anständiges Begräbnis ermöglichen, es war in bester Absicht. Nun, es war nur ein kleiner Diebstahl auf der Herbstmesse in Augsburg, aber halt schon der dritte, und diese Augsburger vergessen nichts.«

»Du hast damals auch meinem Freund Otto den Beutel gestohlen!« Oktavian erinnerte sich lebhaft, wie Otto auf dem Weg über die Alpen über den Gaukler geschimpft hatte. Er hatte ihnen das Flugblatt verkauft, das bewies, dass Erminio vom Berg Ricos Geliebte Mona hatte hinrichten lassen.

»Ja, ich gestehe es, ich hab ja auch nichts mehr zu verlieren. Wenn ich könnte, würde ich es wiedergutmachen.«

Oktavian überlegte kurz. Er war überzeugt, dass dieser Gaukler ihren Zwecken dienen könnte. »Hör mal, Don Alfonso! Es gibt eine Möglichkeit, wie du deinen Kopf retten kannst. Du stehst in Ottos Schuld. Ich versuche, dich freizukaufen, und du wirst für uns auf eine lange Reise gehen.«

»Ja, ja, ja! Ich mache alles, was Ihr wollt, wenn ich nur hier herauskomme! Ich bin an Eurer Seite, Herr Medicus! Sagt mir, was zu tun ist und um welche Reise es sich handelt, ich bin auf allen Straßen zu Hause, beim Hades!«

»Ich gehe heute zum Rat und handle einen Preis für dich aus, alles Weitere besprechen wir später. Du kannst noch warten mit dem Haareschneiden, Büttel! Mit dem haben wir noch etwas vor.«

21 4. Dezember

23

Leeder, Weihnachten 1580

Es war der ausdrückliche Wunsch seiner Mutter gewesen, dass er über die Feiertage nach Leeder kommen sollte. Still war es geworden im Schloss, seit Vater nicht mehr lebte. Mutter war mit seinen beiden Schwestern allein und Hans Jakob, sein jüngerer Bruder war zum Studium in Italien. Raymund hatte am Nachmittag Karl besucht und ihm eine Kiste Tabak geschenkt.

»Warsch du dunda beim Georg?«, hatte der Kutscher ihn gefragt. Dann waren sie zusammen ins Dorf hinuntergegangen.

»Komm, lass uns zuerst zu seinem Haus gehen«, schlug Raymund vor, als sie beim Wirt angekommen waren. Die Ruine war nur wenige Schritte entfernt. Die verkohlten Balken lagen immer noch auf einem Haufen, die Außenmauern waren zum Schutz vor Feuchtigkeit mit Brettern abgedeckt.

»Ein Bild des Jammers. Warum nur, Karl?«, seufzte Raymund.

»Im Frühling gibt’s an neie Dachstuhl, dr Zimmerer hot scho s’Aufmaß g’nomme«, verkündete Karl stolz, aber Raymunds Frage blieb unbeantwortet.

»Hat man den Brandstifter nicht belangen können? Hat der Richter Dreer keine Untersuchung eingeleitet?«

»Weisch, Raymund, dia haltet zam, und wenn’s koin Zeugen gibt, isch des schwierig. Dann war’s halt dr Blitz.«

Raymund musste sich immer wieder daran erinnern, seine Rachegedanken zurückzudrängen. »Das ist bitter zu wissen, dass die Schuldigen immer noch frei herumlaufen und der nächste Anschlag nur eine Frage der Zeit ist.«

Karl steckte sich seine Pfeife in den Mund und zog ihn am Arm. »Komm, Raymund, do richted mir heit nix mea aus!«

Am Abend saßen Georg und ein gutes Dutzend Freunde in Caspars Namen zusammen, Mutter las aus dem Lukasevangelium, es wurde gesungen und gebetet. Als die Gäste sich verabschiedet hatten, saß nur noch die Familie mit heißen Getränken und Gebäck am Tisch vor dem knisternden Kaminfeuer. Raymund hatte sich in Helenas Nähe gesetzt.

»Es ist so schön, dass du endlich wieder bei uns bist, Raymund. Was gibt es Neues in Augsburg? Bist du weitergekommen mit deinem Kurzgewehr?«, fragte Helena und rückte ganz nah an ihn heran.

»Ich habe dir doch vom Goldschmied David Altenstetter geschrieben, ein wunderbarer Mensch und ein Bruder im Geiste. Er fördert mich, gibt mir Hoffnung und mit seiner Hilfe werde ich dieses Kurzgewehr mit einem neuen Lauf herstellen, der die Treffsicherheit entscheidend verbessern kann. Es soll mein Gesellenstück werden. Mein Freund Jos und ich dürfen für eine Stunde am Tag daran arbeiten, was sehr großzügig ist. Trotzdem läuft uns allmählich die Zeit davon.« Helena hatte begeistert zugehört und am liebsten hätte er sie in den Arm genommen.

»Wie kommst du denn mit der Schule zurecht?«, fragte er stattdessen.

»Georg kann mir nichts mehr beibringen. Ich bin die meiste Zeit draußen im Stall bei meinen Tieren. Angefangen hat es mit zwei verwaisten Krähen, inzwischen pflege ich auch noch einen flügellahmen Uhu, ein humpelndes Reh und eine Igelfamilie. Die Tiere wären alle gestorben. Es ist so grausam, dass der Bader nur zu einem kranken Pferd kommt, alle anderen Tiere überlässt man ihrem Schicksal. Karl sagt, dass sei so in der Natur, aber ein Reh lebt doch genauso gerne wie ein Pferd, oder? Ach, Raymund, ich würde auch gerne so wie Hans nach Italien an eine Universität und Medizin studieren, aber Frauen sind ja nicht zugelassen. Ihr Männer habt es einfach! Euch steht alles offen, für uns bleibt nur die Hausfrau und Geliebte.« Das letzte Wort hatte sie sehr leise gesagt und sich eng an ihn geschmiegt. Raymund blickte immer wieder zur Mutter, die am warmen Kamin abwechslungsweise stickte und sich dann wieder in ein Buch vertiefte und den Eindruck erweckte, als würde sie absichtlich wegsehen.

»Gehst du denn regelmäßig zu den Konventikeln, Raymund?«, fragte sie nach einer Weile.

»Die Witwe ist immer noch rüstig und bei guter Gesundheit. Ich gehe einmal im Monat mit Onkel Hieronymus zu ihr. Man trifft dort immer wieder weit gereiste und interessante Menschen. In Augsburg gibt es eine strenge Konfessionspflicht, die von den Obrigkeiten genauestens kontrolliert wird. Ich gelte offiziell als katholisch.«

»Katholisch?«, fragte Helena entsetzt.

»Nur als Vorwand. Weil ich nicht neben dem Obergsell in derselben Kirchenbank sitzen wollte, bin ich mit meinem Freund Jos in den Dom gegangen. Dass ich einmal im Monat zu der Witwe gehe, darf der Meister nicht wissen. Der Herrgott hat’s mir bisher recht gedankt, dass ich seine Gebote achte und ihm im Denken, Reden und Tun die Treue gehalten habe, wenn es auch manchmal schwierig ist und ich dem Greisinger am liebsten eine Tracht Prügel verpassen möchte.«

»Der Greisinger, das ist sein Obergsell, Mutter, der ihn ständig schikaniert und hänselt«, erklärte Helena.

»Sollten wir nicht einmal mit Onkel Hieronymus darüber reden? Vielleicht könnte er beim Benzenauer erreichen, dass er seinen Obergsell ein wenig bremst.«

»Lasst es lieber so, wie es ist, Mutter. Alles, was an Klagen über den Greisinger eingeht, lässt der Meister ins Leere laufen. Er holt ihn sogar wieder aus dem Gefängnis, weil er ihn ja so dringend braucht. Am Ende muss ich es nur büßen, wenn er erfährt, dass sich Onkel Hieronymus über ihn beschwert hat.« Er wandte sich wieder seiner Schwester zu. »Jetzt erzähl du, was es Neues bei dir gibt?«

»Wir treffen uns oft mit Georg unten beim Wirt, wo er immer noch wohnt. Er kann es kaum erwarten, bis sein Haus wieder aufgebaut ist. Seit Vater nicht mehr hier ist, leitet er die Bibelstunden. Er besitzt sogar Reden, die er selbst bei Caspar mitgeschrieben hat. Aber ohne dich, Raymund, ist es in Leeder langweilig geworden. Ich vermisse unsere Ausritte in die Wälder oder die Kutschfahrten mit Karl, der uns immer mitfahren ließ, wenn er hinten bei den Höfen Besorgungen machen musste.« Sie kam nahe an sein Ohr. »Ach, Raymund, weißt du was, ganz besonders fehlen mir die Stunden, wo du mich …«, Helena räusperte sich, »… liebkost hast!«

 

Raymund wusste nicht, was er sagen sollte. Wie wohltuend das war! Er schaute zu seiner Mutter, die in ihr Buch vertieft war, dann sah er in Helenas blaue Augen und berührte mit seinen Fingern heimlich ihre Schenkel, indem er unter dem Tisch dezent ihre Röcke zurückschob, und er hätte nicht sagen können, ob Mutter nur so tat, als würde sie nichts davon bemerken. Felizitas, Raymunds ältere Schwester, hatte sich längst weggedreht.

»Mutter hat sich verändert. Irgendetwas trägt sie mit sich herum«, flüsterte er Helena zu, sie zuckte nur mit den Schultern. Aber Raymund kannte seine Mutter. Eben noch in ihr Buch vertieft, saß sie unruhig auf ihrem Stuhl, nippte an ihrem Becher und beschäftigte sich wieder mit ihrem Stickrahmen. Plötzlich stand sie auf, rückte ihren Stuhl an den Tisch heran und setzte sich wieder. Sie holte tief Luft, ehe sie zu sprechen begann.

»Meine Kinder, ich habe eurem Vater, Gott der Allmächtige hab ihn selig, kurz vor seinem Tod versprochen, dass ich euch, wenn ihr erwachsen seid, diese Geschichte erzählen werde, die sich im August vor siebzehn Jahren zugetragen hat.«

Es war dunkel geworden, im Kamin war nur noch die rote Glut zu sehen.

»Es geht um euch beide.«

Helena sah Raymund fragend an und Felizitas hob interessiert den Kopf.

»In Leeder war die Pest ausgebrochen, seltsamerweise im Haus unseres Schneiders Hindelang, dem ich nur wenige Monate vorher ein Stück von feinstem orientalischem Stoff habe überbringen lassen, damit er mir ein neues Kleid näht. Ich habe das Kleid nie bekommen. Da ich schwanger war, habe ich das Schloss fast sechs Monate nicht verlassen. Den ganzen Sommer über war es nass und kalt, in den Gärten und auf den Äckern verfaulten die Früchte, unsere Bauern konnten das Vieh nicht mehr ernähren, die meisten der Knechte und Tagelöhner waren aus Angst geflüchtet. Die Markttage wurden abgesagt und der Handel kam zum Erliegen. Wir haben immer wieder in Erwägung gezogen, nach Augsburg zu gehen. Als der Pestbann über das Dorf verhängt wurde, war daran nicht mehr zu denken. Niemand durfte den Ort verlassen, und Leeder zu betreten, war nur unter strengen Auflagen und mit schriftlicher Genehmigung erlaubt. Am 18. August brachte ich dann dich, Helena, zur Welt. Es war eine schwere Zeit, selbst für unsere eigenen Bediensteten war oft nicht genug zum Essen da. Viele Bauern im Dorf mussten Hunger leiden, die Preise für Roggen und Weizen hatten sich vervierfacht. Am letzten Tag im August, es war kalt und hatte tagelang geregnet, stand der Totengräber vor dem Schloss und hielt ein wimmerndes Kind im Arm, das er vor der Kirche gefunden hatte. Es war völlig durchgefroren und hätte wohl die Nacht nicht überlebt. Ich habe dich in meine Arme genommen, Raymund, und gewärmt. Der Herr hatte mir einen wunderschönen Jungen anvertraut. Du warst und bist ein Gottesgeschenk. Und im Dorf wurde alsbald erzählt, dass ich Zwillinge bekommen hätte.« Raymund sah seine Mutter lächeln. Sie schien erleichtert.

»Was … Mutter … vor der Kirchentür ausgesetzt? Ich … ich habe gar keine Eltern … bin ein Findelkind?« Raymund war bis in die Tiefe seiner Seele getroffen. Mutter setzte sich neben ihn und nahm ihn in die Arme, Helena tat dies von der anderen Seite. Trotz der körperlichen Nähe fühlte er eine nie gekannte Einsamkeit. Er kam sich nackt und schutzlos vor. Allein und angreifbar. Lange verharrten sie so umschlungen, doch je länger er die beiden Frauen umarmte, umso deutlicher wurde ihm bewusst, dass diese Frau, die ihm so viele Jahre Mutter gewesen war, mehr gegeben hatte, als eine leibliche Mutter ihm vielleicht hätte geben können.

Es war Helena, die ruckartig die Verbundenheit der Umarmung verließ und rief: »Aber dann, Raymund, Raymund … Dann sind wir … Das heißt doch auch, dass wir gar nicht Bruder und Schwester sind.«

Er verstand nicht, sah aber die Begeisterung in ihren Augen.

»Wenn wir nicht einmal verwandt sind, dann können wir heiraten! Sagt doch, Mutter, kann ich denn jetzt Raymund heiraten?«

»Lass Raymund erst einmal zur Ruhe kommen, er hat jetzt weiß Gott an andere Dinge zu denken!«

»Mutter, wisst Ihr, wer mich vor die Kirchentür gelegt hat? Leben denn meine Eltern noch?«

»Die Els von Ettringen hatte mir Jahre vorher prophezeit, dass ich ein Kind von einem Pfaffen bekommen würde, daher glaube ich, dass dein Vater ein Geistlicher gewesen sein muss. Mehr wissen wir nicht. Vergesst nicht, dass das Jahr ’63 mit seinen Seuchen, Katastrophen und Hungersnöten eines der schlimmsten war, an das sich selbst die Ältesten erinnern können. Joseph Hueber hat mir nach Wochen erzählt, dass ein Scholar mit einem Säugling bei ihm geläutet habe, er ihm aber nicht aufgemacht habe, weil es die Pestgesetze verboten. Ich vermute, dass deine Mutter bei deiner Geburt gestorben ist, man nach einem Priester gerufen hat, der sich deiner angenommen und dich in seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung vor die Kirche hat legen lassen.«

»Wie konnte er denn zur Kirche kommen, wenn es niemandem von außerhalb erlaubt war, das Dorf zu betreten?«, wollte Raymund wissen.

»Auch der Torhüter vom Südtor war in dieser Nacht gestorben. Es war sicherlich der Wille Gottes, dass der Fremde mit seinem Neugeborenen in Leeder Aufnahme gefunden hat und mir die Gnade zuteilwurde, dein Leben zu retten.«

»Ich habe mir schon so etwas gedacht und jetzt ist mir auch klar, warum Hans Jakob als Letztgeborener und nicht Raymund das Erbe erhalten soll«, ergriff Helena mit leicht vorwurfsvollem Unterton das Wort.

»Wenn Hans Jakob nach seinem Studium aus Padua zurückkommt, wird er das Rüstzeug haben, das Gut zu leiten und auch die Aufgaben der niederen Gerichtsbarkeit zu übernehmen. Es hatte sich sehr früh abgezeichnet, dass ein Studium für dich nie infrage kommt, nicht wahr, Raymund? Davon abgesehen hat Vater bestimmt, dass dir dein Erbteil zusteht wie allen seinen Kindern.«

»Und wenn es nicht so wäre, ich nehme dich, so wie du bist, Raymund, und für mich bist du der Beste«, rief Helena strahlend und küsste ihn.

Warm und weich war sie suchend in seinen Mund eingedrungen, vor den Augen der Mutter. Wie zu einem Tanz umspielten sich ihre Zungen. Es war nicht mehr ein Kuss der Schwester, es war der Kuss der Geliebten.

24

Venedig, Ostermontag22 1581

Über den Winter war die Einfahrt in die Lagune gesperrt. Viele Schiffe überwinterten an der Mole oder im Arsenal. Erst nach Ostern würde es wieder erlaubt sein, aufs offene Meer hinauszufahren. Alfonso konnte nicht so lange untätig sein. Also hatte er die Zeit genutzt und sich einen Platz vor der Kirche San Bartolomeo, in der Nähe der Rialtobrücke erkämpft, wo ein Gewirr von Sprachen, Farben und Gerüchen herrschte, und tat das, was er am besten konnte: Er log die Sterne vom Himmel herunter und erzählte den Menschen abenteuerliche Geschichten von Kometen, Missgeburten, wilden Tieren und Seeungeheuern. Er seufzte, als er daran dachte, wie einfach es früher gewesen war, die Leute mit seinem Vortrag zu fesseln, während seine Kinder durch die Menge geschlichen waren und der abgelenkten Zuhörerschaft die Beutel abgeschnitten hatten. Die Kinder lebten nun ihr eigenes Leben auf den Straßen des Reiches, so hoffte er, und er musste froh sein über jede Münze, die gnädig in seinem Hut landete.

»Alfons Pauli, du bist frei!«, hatte am 10. Dezember in Augsburg derselbe Ratsherr verkündet, der ihm eine Woche vorher das Urteil verlesen hatte, dass er geköpft werden sollte. Reisen, um zu leben! Nur für eine Tätowierung auf dem Rücken und den Auftrag, mit Gottes Segen bei den Türken einen Heinrich Lauber zu finden, dafür wurde seine Hinrichtung in eine Reise umgewandelt. Eine Schifffahrt nach Konstantinopel. Das Glück war auf seiner Seite. Mitten im Winter war er zu Fuß von Augsburg über die Berge nach Venedig gelaufen. Fünfundzwanzig Tage durch Schnee und Matsch. Das Geld, das der Medicus ihm mitgegeben hatte, war für die Überfahrt bestimmt, er lebte von der Hand in den Mund wie ein Bettler. Aber er lebte und dankte Gott für jeden einzelnen Tag. Er war sich sicher, dass Marfisa dort oben ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte, für sein zweites Leben. Im Gefängnis hatte er sich mit warmer Kleidung eingedeckt. Sie half ihm über die kalten Nächte hinweg, die er in einem verlassenen Ruderboot verbrachte. Aus einem der schmutzigen kleinen Seitenkanäle hatte er es sich an Land gezogen.

»Von wegen Serenissima! Stinkendes Drecksloch!« Alfonso musste laut lachen. »Das war mein letzter Auftritt in Venedig, ich danke euch, ihr Gutgläubigen«, nuschelte er in seinen Bart, als er die Münzen in seinem Hut zusammenzählte. Alfonso hatte gehört, dass sich an der Mole etwas tat. Er wollte so schnell wie möglich an Bord eines Schiffes und lief durch die Gassen auf den Markusplatz, vor dem ein gutes Dutzend Frachtschiffe zum Beladen angelegt hatte. Drei davon hatten Konstantinopel zum Ziel. Er hatte es sich einfacher vorgestellt. Vielleicht lag es an seinem Äußeren – immerhin hatte er sich letztmals beim Tätowierer in Augsburg waschen und rasieren können –, dass zwei Kapitäne ihn trotz seines Beutels mit zehn Silbergulden abwiesen. Der letzte sah wenig vertrauenswürdig aus. Den Gerüchten am Hafen zufolge kam er aus Tripolis, sein Schiff hieß Shihab23. Sein weißer Bart hob sich vom dunklen Gesicht ab, das von tiefen Furchen durchzogen war. Sein rechter Arm fehlte, dafür schwenkte er in seiner Linken eine Peitsche und trieb seine Mannschaft an, die schwere Fässer auf das Schiff rollte.

Zögerlich ging Alfonso auf ihn zu und hielt ihm den Beutel mit den Silberlingen hin. »Konstantinopel?«, fragte er.

Der Kapitän nahm ihm den Beutel aus der Hand, zählte gierig die Geldstücke und nickte freudig. Mit einer abfälligen Bewegung schickte er Alfonso auf die Rampe. Er gehörte nun zur Besatzung der Shihab.

22 27. März

23 Arabisch: Sternschnuppe.

25

Augsburg, 2. April 1581

Raymund saß an diesem Sonntag zum Konventikel bei der Witwe Eiselin. Er wunderte sich, Onkel Hieronymus nicht anzutreffen, der bisher keine Versammlung ausgelassen hatte. Er versuchte, sich zu konzentrieren, konnte aber kaum den Worten der Schrift folgen. Seine Gedanken waren weit entfernt. War seine leibliche Mutter bei seiner Geburt gestorben? In welch einer Lage musste sein Vater gewesen sein, dass er sich dazu entschlossen hatte, das eigene Kind wegzugeben? Gleichzeitig wurde ihm immer mehr bewusst, wie sehr er Mutter dankbar sein musste, dass sie ihn wie ein eigenes Kind aufgenommen und geliebt hatte. Und Helena hatte recht. Er konnte sie heiraten. Die Gesellenprüfung musste her, das war das Ziel, das er nun vor Augen hatte. Aber es gab immer noch Probleme: die Geheimnistuerei mit dem Lauf, den David mit ihm zusammen in Angriff genommen hatte, und das schlechte Gewissen um seine abendlichen Abwesenheiten vom Benzenauer, wenn er bei David in der Werkstatt stand. Wenigstens auf Jos, seinen guten Freund, konnte er sich verlassen, der würde ihn niemals verraten.

»Raymund, ich habe eine traurige Nachricht für dich.« David legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schreckte auf; völlig in Gedanken versunken hatte er nicht bemerkt, dass das Konventikel bereits beendet war. »Dein Onkel Hieronymus ist am Freitagabend verstorben.«

Raymund sank in sich zusammen. Er hatte diesem Menschen so viel zu verdanken.

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