Das Ketzerdorf - In Ketten

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3

Leeder, ein Tag vor Mariä Empfängnis3 1577

Die Marianischen standen an diesem kalten Abend im Hof des Keggelbauern und schauten hinauf in den wolkenlosen Nachthimmel. Die Stimmung schwankte zwischen Entsetzen und Faszination.

»Meine Leit, was des wohl mea alls bedeided. Dea wead immer no greaßer und greaßer!«, fand die Schmelzerin als Erste ihre Sprache wieder.

»Eisre Kiah bleared dia ganz Nacht und gennt bloß no d’Hälfte Milch«, warf Theo vom Hauserbauer ein.

»Vielleicht isch des aber au a guats Zoache, dr Stern vo Bethlehem hot schließlich unseren Heiland verkünded«, wandte die Halblützerin ein.

»Dea Komet kommt doch immr nächer, der wead jede Dag heller, des sigt doch a Blinder. Mir kenned froa sei, wenn des bloß a Warnung isch vo eiserm Herrgott und ear dean Komet idda auf eis rafalla losst.« Die junge Keggelbäuerin trat in die Fußstapfen ihrer Schwiegermutter, die seit Monaten bettlägerig war, und hielt die Tradition des Gastgebens für die Marianischen aufrecht. »Kommet, gang mer in d’Stuba«, forderte sie die Umstehenden auf.

Die Mesnerin hatte ihren Rosenkranz schon um die gichtigen Finger gewickelt. »Mir sollted immer no mehr beata, des isch dia oanzig Kraft, dia wo mir hand.«

»Und was au, wenn des a beas Zoache isch?«, meldete sich Vitus Linder. Inzwischen hatten alle an dem großen Tisch Platz genommen.

»I glob, dass der Komet a Prophezeiung isch, dia mir bloß no idda verstanded. Dea schaugt doch aus wia a riesiger Beesa.« Die Lehnerin war nun die Älteste in der Runde, nachdem die Hefflerin im Sommer elendiglich an ihrem Kropf erstickt war und der dazugerufene Bader machtlos ihren Todeskampf hatte ansehen müssen.

»Die kloi Hex hot zwoi Kräha, dia ständig um se rumflattred. Des isch doch Beweis gnua, dass dia am Deifl diena duad«, warnte die Mesnerin vor der jungen Helena Rehlinger und bekreuzigte sich. »Solang dia Ketzerei it aufheart im Schloss doba, wear mer koi Ruah it hau; eis hülft entweder der Inquisitor oder der Fugger. Aber der oine gibt koa Antwort und fiar de andere sind mir viel z’ kloane Leit.«

»Der Mayer isch des Problem, dear ziagt des ganze Gschmoas her. Dean miass mer vertreibe. Dear isch des geistige Oberhaupt«, warf die Mesnerin ein. »Fünf Mol hammer dean Ziegekopf an sei Diar g’schlage. Ums Eck hammer ean beobachtet: Käsweis war er, dr Mayer, aber dann hot er dös Bluat ra g’wäsche«, erzählte der Theo stolz.

»Scheints hot a si davo idda beeindrucka lao«, bemerkte die Keggelbäuerin.

»Dann muass ma ean andersch vertreibe, Heiliger Florian, hilf!«, nuschelte die Mesnerin vor sich hin. »Was isch eigentlich mit em Magnus? Der war doch dunda z’Augschburg«, fragte Vitus Linder besorgt nach dem Moosmüller, den die Marianischen im Sommer zum Großinquisitor geschickt hatten, um Abhilfe gegen die ketzerischen Rehlinger zu erbitten. Die Herren über Leeder waren Schwenckfelder und damit Häretiker. Als Hufschmied war der Veit einer der wenigen, die nicht dem Wetter ausgesetzt waren. Seinen bescheidenen Wohlstand hatte er den Aufträgen aus dem Schloss zu verdanken. Alles Flehen der Marianischen, die katholischen Fugger mögen den Rehlingern das Dorf abkaufen, war vergebens gewesen.

»Dr Magnus isch krank und mit seir Mihle got’s bald de Bach na«, meldete sich die Halblützerin.

»Mir weared au immer weniger und in a baar Johr hot si des ganze Thema, dass mir mea katholisch weared, erlediged, weil mir dann halt all luthrisch sind«, befürchtete Theo vom Hauserbauer.

»D’Els hot anscheinend em Herzog kund dau, dass dea Komet im Januar verschwunde isch, drum losset eis de Roasekranz anfanga und beata, dass des Unglück vorbeifliagt.«

Die Schmelzerin hatte kaum ausgesprochen, als die Mesnerin schon den Schmerzhaften anstimmte und sich so die Angst vor dem Kometen in die Gedanken jedes einzelnen zurückzog. Nur Halblützers Lina ließ sich von den Sorgen der Marianischen nicht anstecken und kugelte mit großer Begeisterung unentwegt einen Apfel von der einen Hand in die andere, während sie Unverständliches murmelte.

3 8. Dezember

4

Augsburg, Dezember 1577

Die Familie Benzenauer besuchte mit den Mitarbeitern den protestantischen Gottesdienst in der Barfüßerkirche. Raymund aber war mit Remigius und Jos, den einzigen katholischen Angestellten Benzenauers, aus Freundschaft in den Dom zur sonntäglichen Messe gegangen, um dem ungeliebten Obergsell aus dem Weg zu gehen, und das, obwohl die Rehlinger Protestanten und Anhänger der Lehre Caspar Schwenckfelds waren. Von den Bildern, der Musik und den schönen Prozessionen im Dom war er beeindruckt, auch wenn dieser Prunk von seiner Familie als unwichtiges Beiwerk angesehen wurde.

Mit Karl hatte er sich oft über die Heiligen, den Papst und die Kirche unterhalten. Die Predigten, die im Dom gegen Protestanten, Juden und Türken gehalten wurden, empfand er als Anstiftung zu Hass und Hetze. Als er einmal seinem Onkel Hieronymus davon erzählt hatte, wie die Domprediger über Ketzer und Häretiker wetterten, versprach dieser ihm, ihn mit zu einer Witwe zu nehmen, die Konventikel abhielt, wie er sie von seinem Elternhaus gewohnt war.

»Du hättest schon viel früher kommen sollen mit diesem Problem, Raymund!«, hatte sein Onkel gesagt. »Ich war der Meinung, dass du mit den Benzenauers zu den Barfüßern gehen würdest.«

5

Konstantinopel, Januar 1578

»Die neue habsburgische Delegation unter dem Orator4 Ungnad wird in wenigen Wochen in der Stadt erwartet. Sultan Murad befiehlt dir, bei allen Zeremonien der Begrüßung, des Kniefalls und der Geschenkübergabe an seiner Seite zu stehen.«

»Welch große Ehre, gerne werde ich dem Befehl des großmächtigen Sultans nachkommen«, antwortete der Dolmetsch dem Minister.

»Für deinen Vorschlag allerdings, Spione ins Abendland zu senden, um Zugang zu den Waffen der Habsburger zu erhalten, fehlen uns die geeigneten Kandidaten. Von denjenigen, die dem Sultan bedingungslos ergeben sind, wird erwartet, dass sie neben unserer Sprache des Deutschen und Italienischen mächtig sein müssen. Keiner unserer Gefangenen bringt diese Voraussetzungen mit. Man wird wohl mit dem Anwerben hier im Palast beginnen.« Der Minister lächelte. Dem Dolmetsch verging mit einem Schlag das Lachen.

4 Diplomatischer Vertreter des Kaisers.

6

Dillingen, Sankt Sebastian5 1578

»Beim Grafen von Waldburg scheint ein ganzes Heer von Hexen ihr Unwesen zu treiben. Seine Eminenz hat für insgesamt neun Weibspersonen die Hinrichtungen erwirkt, und stellt euch vor, dreizehn weitere sind noch inhaftiert, wobei sich eine mit einem Scherben die Adern aufgeritzt hat und verblutet ist. In Isny und Wangen laufen die ersten Examinationen durch den Ravensburger Henker.«

Die Zuhörerschaft nickte interessiert. Paschalis gab sich teilnahmslos. Er verachtete den Wichtigtuer Coelestis, der regelmäßig das Mittagessen im Refektorium benutzte, um mit lauter Stimme seine hässlichen Neuigkeiten herauszuposaunen. Was für ein Unterschied zu den Essenszeiten bei den Benediktinern in San Paolo fuori le mura, wo Stillschweigen herrschte und aus der heiligen Schrift vorgelesen wurde. Nicht nur das Gesagte der geschwätzigen Dominikaner, sondern auch der Lärm schmerzte ihn.

Wenigstens lassen mich die Weißröcke in Frieden, dachte er sich. Er stand bereits fünf Jahre in den Diensten des Kardinals. Die Nähe zu ihm schützte ihn. Seines Körpers hatte sich niemand mehr bemächtigt. Tiziana di Santa Fiora, die berühmteste Kurtisane Roms, hatte ihn nach seiner Flucht aus dem Kloster aufgenommen, und sie hatte ihn gelehrt, den eigenen Leib zu genießen. Es hatte ihm alles bedeutet, wenn sie ihn zu sich in ihr Bett gerufen hatte und ihn teilhaben ließ an ihrer Lust. Sicherlich hatte sie ihn für ihre Zwecke benutzt, aber niemals hätte er ohne sie erkannt, welch ausdauernde Fähigkeiten ein Mann zu erlernen imstande war. Er war immer wieder versucht, sich einzugestehen, dass sie ihm fehlte, doch ihre schändlichen Taten verhinderten es. Sie hatte ihren Vater ermorden lassen, für ihren eigenen Vorteil den Mörder verraten und sogar die Unterschrift des Papstes gefälscht. Diese letzte Intrige war es gewesen, die dem Kardinal den Weg in die deutschen Lande geebnet hatte, wo er Ketzer und Hexen mit Feuer und Schwert bekämpfte. Paschalis war ihm treu ergeben, als Büßer wollte er mindestens doppelt so lange enthaltsam leben, wie er bei der Santafiora der Lust gefrönt hatte. Er unterdrückte seinen Trieb, auch wenn es ihm manchmal schwerfiel. Die Beschäftigung mit dem Verfassen von Klageschriften und Anträgen zu peinlichen Befragungen und Hinrichtungen hatte ihn anfangs nachdenklich gestimmt. Inzwischen war es ihm gleichgültig geworden. Das Schlimmste für ihn waren Gewaltanwendungen jeglicher Art. Ihm drehte sich dabei stets der Magen um. Nach der ersten Hinrichtung, zu der er den Kardinal persönlich begleitet hatte, hatte er flehentlich auf seine Tafel geschrieben: »Bitte, bitte keine weiteren Hinrichtungen.«

Der Kardinal sah es ihm nach und ließ ihn im Skriptorium malen und zeichnen, anstatt ihn auf »blutige Reisen« mitzunehmen, wie er es nannte. Dort war Paschalis zufrieden mit sich und der Welt. Was ihm wirklich fehlte, war etwas anderes: die warme Sonne Roms, die frische Brise vom Meer und die Küche der Santafiora.

5 20. Januar

 

7

Augsburg, 18. Mai 1578

Raymund hatte sich an diesem Sonntagabend mit seinem Onkel getroffen, um gemeinsam mit ihm in das großzügige Patrizierhaus der Witwe Eiselin unterhalb des Weinmarktes zu gehen. Es war ihm, als würde er nach Hause kommen. Wie er es unzählige Male in Leeder erlebt hatte, traf er auf eine begeisterte und froh gelaunte Versammlung von Schwenckfeldern aller Altersgruppen, Geschlechter und Stände.

»Schau an, ein junger Rehlinger aus Pilgerhausen! Sei herzlich willkommen, Raymund«, sagte die Witwe und umarmte ihn. Auch die anderen nahmen ihn freundlich auf.

Nach der Bibellesung, die von dem Herrn handelte, der seinen Knechten Talente anvertraute, die zwei der Knechte vermehrten, der dritte aber vergrub, stand ein stattlicher Mann in mittlerem Alter auf. Er hatte einen schwarzen Bart und ebenso schwarzes schulterlanges Haar.

»Wer ist das?«, flüsterte Raymund seinem Onkel zu.

»Der Goldschmied Altenstetter, hast du noch nie von ihm gehört?«

Raymund schüttelte den Kopf. Er war fasziniert von diesem Mann, der eine Auslegung und Erklärung der Bibelstelle vortrug. Sein in Schwarz und Grün gehaltener Umhang aus feinstem Samt verstärkte seine imposante Erscheinung und wies ihn als Meister und Gildenmitglied aus. Er verstand es, mit der Kraft seiner Worte und einer großen Gestik die Anwesenden in seinen Bann zu ziehen. »… denn jeder, dem unser Gott, der Schöpfer des Lebens und aller Dinge, eine Fähigkeit gegeben hat, verwende diese, damit sie sich entwickle und der Gemeinschaft oder einem höheren Zweck diene, denn dafür hat er sie uns gegeben. Wer seine Bestimmung noch nicht gefunden hat, suche nach ihr, wer seine Talente nicht kennt, frage nach ihnen und wühle im Sand des Alltäglichen, um Gott dem Herrn gefällig zu sein und seinem Dasein einen Sinn zu geben. Oft werden unsere Gaben unterdrückt durch Herkunft, Stand oder andere Hindernisse. Diese gilt es zu überwinden. Betet zum Herrn, dass er euch den Weg leite, um zu erkennen und zu Gottes Werkzeug zu werden, Amen.« David Altenstetter verneigte sich vor der aufmerksamen Zuhörerschaft, die ihm beipflichtend zunickte, und nahm wieder auf seinem Stuhl neben der Witwe in der ersten Reihe Platz.

Die Predigt hatte Raymund sehr nachdenklich gemacht. Er wusste, dass er ein Talent für den Beruf des Büchsenmachers hatte, und ja, er würde eine besondere Waffe erfinden. Aber waren seine Gründe dafür gottgefällig oder eitel und nichtig? Er musste sich eingestehen, dass er mit seinem Talent glänzen wollte. Es nagte an ihm, denn er wusste, er wollte eine Waffe erschaffen, um nie wieder hilflos dazustehen, nie wieder ohnmächtig zu sein. Er fragte sich, ob er beim Benzenauer auf dem richtigen Platz war oder ob Gott vielleicht etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.

»Dieser Mensch hat etwas Begeisterndes und gleichzeitig Geheimnisvolles; Ihr müsst mir diesen Mann unbedingt vorstellen, Oheim«, raunte Raymund.

Nach dem Gottesdienst servierten die Mägde der Witwe Gebäck und Getränke, und ganz beiläufig machte ihn sein Onkel mit dem Goldschmied bekannt.

»Wie gefällt es dir denn in Augsburg, mein junger Bruder?«, wandte sich Altenstetter an Raymund. »Es ist bestimmt nicht einfach, sich an die Stadt zu gewöhnen, wenn man in den Wäldern aufgewachsen ist. Ich kann mir das nur schwer vorstellen, denn ich habe ausschließlich in Städten gelebt und gearbeitet.« David Altenstetter war noch größer, als es während seiner Ansprache den Anschein gehabt hatte.

»Leeder ist nicht so hinterwäldlerisch, wie Ihr vielleicht vermuten mögt. Wir sind ein Gut, an dem mehrmals im Jahr von weit her Händler, Kaufleute und viel Volk zusammenströmen, und wir haben eine richtige kleine Lateinschul…«

»Mein Neffe hat es nicht leicht beim Benzenauer«, fiel Hieronymus ihm ins Wort. »Neid, Eifersucht und auch seine roten Haare sind immer wieder Anlass zu Streitereien und Spott.«

»So schlimm ist es nicht. Mein Oheim meint es nur gut mit mir«, Raymund war es peinlich, dass der Onkel seine Haare erwähnte. »Ich werde in zwei Jahren meine Gesellenprüfung machen und sehen, ob ich dann weiter beim Benzenauer arbeite. Aber es stimmt schon. Der Obergsell macht mir Schwierigkeiten, wo es nur geht. Es ist unmöglich, eigene Ideen und Vorschläge zu unterbreiten. Dabei habe ich etwas entdeckt, was die Zielgenauigkeit eines Gewehrs entscheidend verbessern könnte.«

»Wie meinst du das?«, fragte der Goldschmied. Anscheinend hatte Raymund seine Aufmerksamkeit geweckt.

»Indem ich den Lauf nicht in einer geraden Naht verschweiße, sondern den gegärbten Stahl um einen Dorn drehe, wird ein Gewehr viel kürzer und handlicher. Somit wird der Lauf viel stabiler und die Kugel behält mit einer größeren Pulverladung wesentlich länger ihre Richtung.«

Der Goldschmied runzelte die Stirn. »Das klingt sehr interessant. Neben meiner Goldschmiedetätigkeit fertige ich hin und wieder Schusswaffen, die aber meist von reichen Auftraggebern zur Zierde und als Symbol ihrer Macht getragen werden. Getötet wurde damit wohl kaum jemand, dafür sind sie viel zu ungenau.« David Altenstetter lächelte und zwinkerte ihm vielsagend zu, nahm ihn etwas zur Seite und senkte die Stimme. »Warum kommst du nicht einmal in meine Werkstatt? Ich zeige dir, welche Art von Waffen bei mir hergestellt wird, und vielleicht kann ich dir ja bei deiner Idee von einem zielgenaueren Lauf behilflich sein?« Der Meister packte Raymund väterlich mit beiden Händen an den Schultern. »Ich wohne nicht gerade in der vornehmsten Gegend der Stadt, das hat Gründe, die ich dir heute noch nicht darlegen kann. Überleg’s dir, junger Bruder, es soll zu deinem Schaden nicht sein!«

Es machte Raymund sehr glücklich, das zu hören, und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, in der Werkstatt dieses würdevollen und geheimnisvollen Mannes zu arbeiten. Was für ein Unterschied zu Meister Benzenauer, der sich in seinen Entscheidungen vom Obergsell bevormunden lässt.

8

Augsburg, Schießfest auf der Rosenau, 30. Mai 1578

Raymund hatte auf seine Schwester am Roten Tor gewartet. Endlich, nach über acht Monaten, in denen er sie nicht gesehen hatte. Schon von Weitem hatte sie gewunken und war auf ihn zugelaufen, aber anstatt ihn zu umarmen, war Helena vor ihm stehen geblieben und hatte ihn mit ihren blauen Augen von oben bis unten angestarrt. »Raymund, du bist ja ein richtiger Mann geworden.«

Raymund packte sie mit beiden Händen an der Hüfte und hob sie in die Höhe.

»Wie stark und kräftig du geworden bist!«, lachte sie.

»Ich bin so froh, dass du da bist, Helena!« Er setzte sie ab und streichelte ihre Wange. »Und es gibt so viel zu erzählen.«

»Komm, lass uns auf die Rosenau gehen, ich will das Schießfest sehen!«

Er nahm ihre Hand und versuchte, sie zu berühren, wo es nur ging, am Knie und der Hüfte. Seine Schwester ließ es geschehen.

»Heilung von jeder Krankheit,

Entfernung von Warzen und Geschwüren,

Wunderwasser, Salben und Tinktüren,

Siehst du schlecht auf Nähe und Weite:

Ich bin an deiner Seite!

Beschwerden aller Art und den Wahn,

ich zieh dir deinen eitrigen Zahn!

Schöne komm herüber,

ich hab für dich was über!«, deklamierte der Quacksalber mit rollendem R und in einem bassigen Singsang von seinem offenen Wagen herunter, während die beiden im Gewühl der Menschen an seiner Karre vorbeigedrängt wurden.

»Na, du schöne Maid, schon alt genug für deinen Rotfuchs?«

»Beleidige meine Schwester nicht, sonst kriegst du es mit mir zu tun, Großmaul!«, schrie Raymund dem Aufschneider zu.

»Pah, Schwester, dass ich nicht lache, da hat man deiner Mutter wohl einen Kuckuck ins Nest gelegt.«

Raymund legte schützend seinen Arm um Helena. Schon waren sie umringt von lachendem Volk.

»Ich hau dir auf dein freches Maul, so schnell kannst du gar nicht schauen!«, brüllte Raymund und wollte zu dem Quacksalber auf den Wagen steigen.

Helena hielt ihn mit aller Kraft fest. »Lass ihn, Raymund, du bringst uns nur in Schwierigkeiten.« Sie wandte sich an den Rüpel. »Hütet Eure Zunge, mein Herr, und beschränkt Eure Reden auf die Dinge, mit denen Ihr den Leuten das Geld aus dem Beutel zieht. Der Rat in Augsburg, in dem meine Familie seit mehreren Generationen einen Sitz innehat, hört es gar nicht gern, wenn eine Rehlingerin öffentlich beleidigt wird.«

Augenblicklich kehrte Stille ein.

»Ich entschuldige mich, Fräulein Hochwohlgeboren; es war keinesfalls meine Absicht, irgendetwas Schlechtes über Eure Familie zu verbreiten. Lasst mich Euch zum Zeichen meines guten Willens ein kleines Geschenk mitgeben, ein Wässerchen vom Feinsten«, sagte der Mann nun zuckersüß und hielt ihr ein kleines Glasfläschchen entgegen.

»Behaltet es für Eure Kunden; ich habe kein Vertrauen in Eure Medizin. Komm, Raymund, du wolltest mir doch so vieles zeigen.«

Dem Quacksalber blieb für wenige Augenblicke der Mund offen stehen.

Raymund ließ sich von Helena zurück in die Menge ziehen. »Wenn du mich nicht zurückgehalten hättest, wäre ich dem Angeber an die Gurgel gesprungen.«

»Das ist ja schön, dass du mich verteidigen willst, aber mit Gewalt ist diesem Menschen nicht beizukommen. Denk an die Worte der Schrift: Was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.«

»Du hast ja recht, Helena! Es tut mir leid, dass ich mich immer wieder reizen lasse.« Er nahm sie bei der Hand und sah in ihre funkelnden Augen. Es war das erste Mal, dass Mutter ihr erlaubt hatte, ihn in Augsburg zu besuchen, seitdem er beim Benzenauer seine Lehre begonnen hatte.

Sie wollte die Nacht bei Onkel Hieronymus verbringen und am nächsten Tag wieder zurück nach Leeder fahren.

»Ich habe bei Mutter lange genug gebettelt, bis ich die Erlaubnis zur Reise hatte.«

»Irgendwann musstest du mir ja das neue Kleid zeigen. Das steht dir ganz hervorragend.«

»Karl hat schon bei der Abfahrt in Leeder durch die Zähne gepfiffen, als er mir auf den Wagen half.«

»Das glaube ich dir gern. Der alte Schwerenöter!«

»Jetzt komm, erzähl mir alles.«

»Der Benzenauer ist kein schlechter Meister, er hat allen Gesellen und Lehrbuben während des Festes freigegeben. Das Problem ist, dass er unter der Fuchtel seines Obergesellen steht. Aber vielleicht bin ich beim nächsten Schießfest in zwei Jahren nicht mehr als Zuschauer dabei. Ich habe nämlich etwas entdeckt, was die Büchsen viel treffsicherer machen kann. Ich bräuchte jemanden, der mich das ausprobieren ließe! Beim Benzenauer ist das unmöglich. Onkel Hieronymus hat mich mit einem Goldschmied bekannt gemacht, David Altenstetter, ein Bruder von uns, bei dem könnte ich mir das vorstellen.«

»Es ist schön zu sehen, dass der Beruf dir liegt«, Helena griff ihm an den Oberarm und lächelte. »Vielleicht kannst du ja nach der Lehrzeit zu dem Goldschmied wechseln?«

»Ich weiß nicht, ob ich es so lange aushalte. Ich hätte so viele Ideen, aber dieser eifersüchtige Greisinger sitzt mir im Nacken und verhindert alles.«

»Jetzt denk nicht an diesen Obergsell, sondern lass uns das Schießfest genießen!«

»Die Schützen kommen von weit her, aus Frankreich, Italien und sogar aus Spanien, um ihre Waffen und den Umgang mit ihnen zu präsentieren. Die Sieger erhalten wertvolle Preise, aber noch wichtiger ist, dass man von heute auf morgen berühmt wird. Ich will es dem Greisinger zeigen und so schnell als möglich hier mitmachen!«

»Das wirst du, ich weiß es, Raymund«, dabei strahlte sie ihn an.

»Heute sind die Armbrustschützen dran. Sie ziehen mit einer großen Parade auf den Festplatz. Das dürfen wir auf keinen Fall verpassen.« Sie zogen an den Ständen vorbei, wo aus mächtigen Holzfässern Bier ausgeschenkt wurde, schlenderten um die Wurfbuden und die Felder, wo man Wettbewerbe im Steinewerfen und Laufen austrug.

»Schau, Helena, die Trompeter und Trommler stellen sich schon auf. Gleich beginnt die Parade.«

Auf einer Tribüne, von der aus man den ganzen Platz überblicken konnte, hatten Musikanten in bunten Gewändern angefangen, eine Fanfare zu spielen. Alle Blicke richteten sich auf den Eingang. Mit Hellebarden bewaffnete Landsknechte drängten die Menschenmasse dazu, eine Gasse zu öffnen. Die schweren Armbrüste auf den Schultern, mit der freien Hand in die Menge winkend, zogen die bunt gekleideten Männer unter dem Jubel der Zuschauer auf den Platz.

Raymund hatte für sich und Helena auf der unteren Stufe der Tribüne einen Platz gefunden, sodass sie das Geschehen etwas erhöht mitverfolgen konnten. Hinter den Armbrustschützen lief ein ganzer Tross Neugieriger, die versuchten, einen guten Standort zu ergattern, von den Ordnern aber am Zugang zur Schützenwiese unsanft gehindert wurden.

 

»Raymund, he! Hast du dort oben ein Plätzchen für mich?« Raymund suchte in der Menge nach dem Rufer, bis er den winkenden Jos entdeckte.

»Komm her, Jos, dich schmales Hemd bringen wir hier sicher noch unter.« Er packte den ausgestreckten Arm seines Freundes und zog ihn zu sich auf die Tribüne.

»Helena, das ist Jos, mein Freund und Mitlehrbub beim Benzenauer«, stellte er ihn vor.

»Ich wusste nicht, dass du so eine schöne Schwester hast, Raymund«, stammelte Jos und Helena lächelte verlegen. »Gestern hättest du da sein sollen; da haben die Franzosen mit ihren Pistoletten geschossen, da war so manche Fehlzündung dabei, was die Leute herzlich lachen ließ.«

»Haben sie denn getroffen?«

»Zu den aufgeständerten Hakenbüchsen ist noch ein großer Unterschied. Gewonnen hat auf die hundert Fuß ein Nürnberger. Den Namen hab ich schon wieder vergessen. Die Augsburger haben wieder nichts gemacht.«

Inzwischen hatten die Armbrustschützen Aufstellung genommen und jeweils zwei traten gegeneinander an. Der Sieger kam in die nächste Runde. Die Scheibenbuben liefen aufgeregt hin und her und streckten die Ergebnisse auf Tafeln in die Höhe. Der Jubel der Menge war jedes Mal groß, und bald gab es einen Favoriten, der bereits seine siebte Runde gewonnen hatte und unter frenetischem Beifall zum letzten Duell antrat.

»Kennt ihr beide den Langen?«, fragte Helena. »Dem drücke ich die Daumen und der wird wohl gewinnen.«

»Den kenn ich nicht, aber der wird es schwer haben, weil sein Gegner ist der alte Meichelböck aus den Stauden, der in den letzten Jahren immer gewonnen hat«, entgegnete Jos.

»Dann wird es Zeit, dass einmal ein anderer gewinnt, oder? Ich bin für den Jungen.«

»Gewinnen soll der Beste. Vielleicht ist es ja zum letzten Mal, denn die Armbrust ist früher oder später zum Aussterben verurteilt«, wandte Raymund ein. »Bis man sie aufgezogen und gespannt hat, ist die Beute entwischt und der Schütze selbst getroffen.« Jos lachte.

Die letzte Runde hatte begonnen. Obwohl er bisher immer mindestens neun oder zehn Ringe getroffen hatte, verzog dem Meichelböck ein leichter Windstoß den Pfeil, der gerade noch auf dem linken Rand der Scheibe einschlug. Die Scheibenbuben streckten eine Eins in die Höhe und sofort ging ein Raunen durch das Publikum. Der Meichelböck drehte sich laut fluchend und auf den Wind schimpfend ab.

Dann kam der lange Unbekannte an die Reihe. Siegessicher streckte er seine Waffe in die Höhe und drehte sich im Kreis allen Zuschauern zu. Eine Weile stand er ganz ruhig da, visierte das Ziel an und wartete auf einen windstillen Augenblick. Just in dem Moment, als er den Pfeil abschoss, wirbelte eine unberechenbare Bö über den Platz und wehte Hüte und Tücher davon. Auch der Pfeil flog zum Entsetzen der Zuschauer an der Scheibe vorbei in den Erdwall, der hinter den Zielen aufgeschüttet war. Die Fanfarenbläser traten in den Kreis und der Herold verkündete den Namen des Siegers. Simon Meichelböck wurde sofort von seinen Freunden aus den Stauden umringt und auf die Schultern gehoben.

»Na, da haben wir es ja wieder einmal gesehen. Diese Armbrüste haben keine Zukunft«, stellte Raymund fest.

»Schade, dass der Lange so ein Pech mit dem Wind hatte«, bemerkte Helena ein wenig ernüchtert.

»Ich lasse euch beide jetzt allein und gehe nach hinten in die Kegelhütte. Da geht es immer lustig her; nicht unbedingt etwas für junge Damen. Aber ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen werden.« Jos reichte Helena zum Abschied die Hand und verschwand in der Menge.

»Ich wollte noch so viel mit dir bereden, Raymund, lass uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass ich vor Sonnenuntergang bei Onkel Hieronymus sein muss.« Helena hakte sich bei ihm unter und schlenderte mit ihm über den Festplatz in Richtung Stadt.

»Das Leben auf dem Gut wird immer schwieriger; Mutter versucht zwar alles, um den schönen Schein zu wahren und das Schloss und das Dorf mittels der Erträge der Bauern gewinnbringend zu halten, aber diese Marianischen sind sich für nichts zu schade, um uns in Schwierigkeiten zu bringen. Karl hat erfahren, dass sie anonyme Briefe an das Hochstift und an den bayerischen Herzog schreiben, in denen sie uns der Häresie bezichtigen. Es werden allerlei Gerüchte gestreut und Unwahrheiten verbreitet, wir stünden mit dem Teufel im Bunde und würden alles Unglück anziehen. Das Vermächtnis von Caspar, das wir in Gedanken und Schriften bewahren, ist ihnen ein Dorn im Auge. Für sie sind wir Ketzer. Und nun versuchen sie, uns irgendeiner Tat zu bezichtigen, die unter die hohe Gerichtsbarkeit fällt.«

»Das wird ihnen schwerfallen. Ich würde sie ja aus dem Gut vertreiben. Sollen sie in irgendein katholisches Dorf umziehen und uns in Ruhe lassen. Vater hätte schon viel früher gegen sie vorgehen sollen! Er war viel zu gutmütig.«

»Vater hat das Evangelium gelebt, er hat die Bauern nie als Untertanen gesehen, sondern als Mitmenschen. Und das haben wir jetzt davon. Wohltaten erzeugen Rachegefühle.«

»Was wird unsere Mutter unternehmen?«, fragte Raymund.

»Ich habe einen Brief an Onkel Hieronymus dabei. Sie hofft wohl auf weitere Hilfe von ihm.« Eigentlich wollte Raymund Helena sein Herz ausschütten, aber es war viel tröstender, jemandem, den man so gern hatte, zuzuhören.

»He da, hereinspaziert! Wollt ihr beide nicht einmal in die Zukunft schauen? Marfisa liest euch für einen halben Kreuzer aus der Hand«, sagte eine tiefe, dunkle Frauenstimme und ließ die beiden innehalten. Unter einer Plane saß im Schneidersitz eine ältere Frau mit langen schwarzen Haaren und großen Ringen in den Ohren. Sie funkelte verführerisch mit den Augen. Helena zappelte aufgeregt.

»Komm, Raymund, das wollte ich schon immer einmal machen. Lass uns auf andere Gedanken kommen und einen Blick in die Zukunft werfen!«

Widerwillig ließ er sich von ihr unter die Plane ziehen. »Ich halte nichts von diesen Dingen; es geht doch immer nur um das Geld von leichtgläubigen Menschen. Dem Quacksalber vorher hast du nicht glauben wollen; jetzt lässt du dir von so einer Gauklerin aus der Hand lesen.«

»Ach bitte, bitte, Raymund, schau, ich hab hier auch schon einen Kreuzer für uns beide.«

»Nur nicht so zögerlich, junger Herr, setzt Euch ungeniert auf das Bänkchen, Bezahlung erfolgt im Voraus«, lud ihn Marfisa mit einem vielversprechenden Lächeln ein. Helena legte der Hellseherin die Münze in den Schoß, die sie sofort in einem kleinen Beutel an ihrem Gürtel verschwinden ließ. Raymund hasste Wahrsagerei, wollte Helena aber nicht enttäuschen. So ließ er es sich gefallen, dass Marfisa seine und Helenas Rechte nahm und unruhig zwischen den geöffneten Handflächen hin und her blickte. Lange Zeit sagte sie nichts, als wäre sie sprachlos von dem, was sie in den Händen las.

»Jetzt mach es nicht so spannend und sag schon, was die Zukunft für uns bereithält, oder fällt dir nichts dazu ein?«, unterbrach Raymund die unangenehme Stille. Er fühlte sich bestätigt, dass Handleser nur mit der Zukunftsangst der Leute Geschäfte machten.

Marfisa zögerte; anscheinend hatte sie irgendetwas gesehen, was sie sehr beunruhigte. Sie fuhr immer wieder mit ihren dünnen Fingern die Linien auf den Händen nach, schaute zuerst Helena, dann Raymund in die Augen, schüttelte den Kopf, verglich erneut die Hände und setzte endlich an zu sprechen: »Kind des Glücks und Kind der Sünde. So verschieden ihr auch in eurem Aussehen seid, eure Hände deuten etwas ganz anderes. So weit wie die Vergangenheit euch aus verschiedenen Richtungen zusammengeführt hat, so eng wird die Zukunft euer beider Leben vereinen. Doch stehen widrige Umstände bevor, die von allen große Geduld fordern werden. Ich sehe einen weißen Mönch und einen schillernden Mann, beide bereiten große Schmerzen. Was für die eine Hand sieben Monate, sind für die andere sieben Jahre. Die Macht des Propheten, die die eine Hand zerstören will, rettet sie; die Macht der Kirche, die die andere Hand verbrennen will, befreit sie.«