Friedenstaube

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From the series: Literatur aus Litauen #1
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Silberauge

Er tauchte auf in Linas Welt gleichsam aus dem Nirgendwo, gänzlich unerwartet und auf durchaus magische Weise. Als wäre er geradewegs vom Himmel gefallen oder irgendwelchen unsichtbaren Wassern entstiegen. Jener lang aufgeschossene Sonderling konnte doch nicht auf natürlichen, irdischen Wegen in diese Modenschau gelangt sein. Lina war er sofort aufgefallen. Wie stets bei solchen Veranstaltungen fühlte sie sich als Puppe, die sich, ohne ihren Körper zu spüren, in abgezirkelten, vollendeten Bewegungen zu präsentieren hatte. Im Saal, der gedrängt voll war, roch es nach großem Geld und krummen Touren. Man zeigte, was man hatte. Wirklich und lebendig erschien allein der auffallend unpassend gekleidete Lange. Mit dem Heißhunger eines jungen Raubtieres machte er sich über das kalte Buffet her, hin und wieder fischte er sich ein Glas vom Tablett des vorbeieilenden Kellners. Ihm selbst schien es gleichgültig zu sein, wie er nach außen wirkte. Offenbar freute er sich einfach des Lebens. Fast gleichzeitig näherten sich ihm zwei Sicherheitsleute, die ihn vermutlich auf die Straße befördert hätten, als Lina einzugreifen beschloss. Sie gab sich recht forsch, obwohl sie wusste, dass dies unbedacht war.

»Das ist mein Freund«, erklärte sie mit dem einnehmenden Lächeln, das ihr zur Verfügung stand. »Wir haben beide eine Einladung. Er wird nichts anstellen. Und auch nicht mehr als die Hälfte aller Speisen vertilgen.«

Der Sicherheitsmann verzog keine Miene, sein versteinert wirkendes Gesicht blieb ohne jeden Ausdruck, doch man ließ den Langen in Ruhe. Natürlich hatte Lina keine Einladung und konnte keine haben. Ihr Job bestand darin, sich als Puppe zu bewegen. Offenbar war es ihr Auftreten, der entschiedene Ton ihrer Stimme, was die Männer beeindruckte. Lina konnte sich, wenn sie wollte, wie eine Prinzessin geben oder eine launische Millionärsgattin spielen. Sie besaß nicht die Spur jener Vulgarität, die gemieteten Schönheiten häufig eigen ist. Ihre gesamte Erscheinung war es, welche durchaus nicht dem Mannequin-Standard entsprach. Das Gesicht schien eine Spur zu ernst, und die ausladenden Hüften erinnerten eher an irgendeine Sportlerin. Lina wusste das. Manchmal fand sie Gefallen an diesem Anderssein, dann wieder hasste sie ihren Körper, der einem unvollendeten Kunstwerk glich. Weit entfernt von Miss World, gewiss, aber auch von denen, die nichts als schön waren. Ihre Ausstrahlung war allzu augenfällig, daher auch besonders schwer zu verkaufen.

»Kleiner«, sagte sie zu dem Langen, »ich konnte dich nur für einen Augenblick beschützen. Sie werden dich trotzdem hinauswerfen.« In diesem Moment begegnete sie zum ersten Mal seinen Augen und mit dem ruhigen Leben war es zu Ende. Es waren Augen von einem sehr hellen Grau, die silbrig glänzten. Silberaugen. Leuchtende Augen eines Wesens aus dem Jenseits. Zwei silberne Seen des Wahnsinns. Augen aus einem Traum. Reale Menschen hatten nicht solche Augen.

»Mir ist schon so manches widerfahren«, erklärte der Lange ungerührt, »so dass diese Menagerie hier mir nun wirklich keine Angst einjagt.«

»Und wer bist du?«

»Ein Engel aus himmlischen Gefilden. Danke für die Hilfe. Weiter komme ich schon selbst zurecht.«

Da war kein Versuch, ihr den Hof zu machen oder ihr sonst wie Gesellschaft zu leisten. Auch sprach er nicht weiter mit ihr. Er trat einfach einen Schritt zur Seite, und schon hatte er sich unter die gesichtslose Masse in ihren Carden- und Armani-Anzügen gemischt.

Als hätte er sich dort verstecken können. Er ragte aus dieser Gesellschaft heraus wie ein Stachel aus einem faulen Apfel. Es dauerte auch nicht lange, da feuerten sie ihn wirklich, und offenbar zu seiner größten Zufriedenheit. Lina war beinahe beleidigt, doch der Lange hatte sie keineswegs vergessen. Noch während sie ihn in Richtung Tür drängten, winkte er ihr zu und deutete einen Kuss an.

»Wenn du meinst, ich hätte riskieren können, länger mit dir zu sprechen, dann kennst du die Welt nicht«, erklärte er später. »Ich hatte nämlich Angst vor dir.«

»Und was war an mir so erschreckend?«, pflegte Lina zu parieren.

»Noch nie hab ich ein so hoch gewachsenes Mädchen aus der Nähe gesehen«, erklärte der Silberäugige mit ernster Miene. »Ich war in Panik, du könntest mich in eine Ecke drängen und einfach verschlingen.«

Lina war es gewohnt, dass man, einige Anstrengung vorausgesetzt, alles im Leben vergessen konnte. Sie hatte in der Tat einiges zu vergessen und so pflegte sie Dinge, die ihr unangenehm waren, aus ihrer Erinnerung zu streichen. Was passiert war, hatte es einfach nicht gegeben, konnte daher keinerlei Einfluss auf ihr Leben mehr haben. Sie wurde nicht mehr von Alpträumen geplagt, heulte nicht, wenn sie sich wieder einmal mutterseelenallein vorkam. All die schlimmen Dinge hatte es nicht gegeben, basta. Lina besaß die Macht, sie vollkommen zu verdrängen. Sie hätte sonst nicht die Kraft gehabt durchzuhalten. Zumindest wäre sie nicht die, die zu werden sie sich bemühte.

Doch auf einmal war es mit dem ruhigen Leben vorbei. Denn den Silberäugigen zu vergessen, gelang ihr einfach nicht. Drei Mal hintereinander träumte sie von ihm und sie entschied, dass er wohl tatsächlich ein Engel war. Einer, der ausgesandt wurde, um sie zu bestrafen oder zu liebkosen. Sie träumte von seinen Silberaugen und seinem sehr schlanken nackten Körper, den sie noch gar nicht gesehen hatte. Sie träumte von sich in seinen Armen, aber das war keine Umarmung, die etwas mit Liebe zu tun hatte, eher ein sonderbarer Tanz oder irgendein Ritual. Eine Umarmung war das, die weniger körperliche Nähe bedeutete als eine Art mystischer Geistesverwandtschaft. Statuen waren sie beide in diesem Traum, wirkliche Schöpfungen, Kunstwerke.

Sich in ein Kunstwerk zu verwandeln, wenn man sie fotografierte, wenigstens für einen Augenblick, das war Linas stetes Bemühen. Es kam ihr nicht darauf an, schön zu sein. Sie vermied es regelrecht, erotisch aussehen zu wollen, obwohl das besonders schwer war. Zumindest als Fotomodell trachtete sie danach, ein Kunstwerk zu sein. Schön, das wohl, aber nur ästhetisch schön. Und vor allem geheimnisvoll, nicht zu erraten. Es gab Fotografen, die sie mochten und ihr entgegenkamen, andere brachten ihre Ambitionen in Rage. Es gelang ihr, letztere zu vertreiben. Sie spürte, dass sie einige Macht hatte. Diese Fotoapparateschinder mochten hin und wieder murren und aufbegehren, sie taten dennoch ihren mühsamen Job, der noch anstrengender schien als das, was ihr Teil war. Und wenn dann noch Romanas persönlich vorbeischaute, verstummten solche Nörgeleien augenblicklich. Offenbar war keinem sonderlich daran gelegen, zum Schweigen gebracht zu werden, und das zuweilen für immer.

Auf einer Modenschau Kunstwerk zu sein, war leichter. Besonders dann, wenn die Garderobe wirklich interessant war. Am schlimmsten waren hingegen irgendwelche Ausstellungen oder Messeeröffnungen, wo man Puppe war und alle Künste zu vergessen hatte. Eine Puppe ist eine Puppe. Aber alles im Leben konnte man ertragen und dann abhaken.

Alles, nur nicht den Silberäugigen. Lina verspürte den Wunsch, sich mit diesem tolpatschigen Langen fotografieren zu lassen. Nicht unbedingt künstlerisch, irgendwie und irgendwo, und sei es in einem Polaroid-Studio. Aber dazu musste man ihn erst einmal finden. In welchen Sphären er sich bewegte, das überstieg ihre Vorstellungskraft. Zuweilen schien es ihr, dass er überhaupt nicht existierte.

Und da tauchte er auf, wieder unerwartet, wieder auf magische Weise. Lina hatte es sich gerade auf dem Rücksitz von Stasys’ BMW bequem gemacht, sie rauchte und wartete, bis die Ampel auf Grün sprang. Den Silberäugigen hatte sie gerade noch aus den Augenwinkeln wahrgenommen, als sie auch schon, wie von einer Tarantel gestochen, aus dem Wagen stürzte. Dem Fahrer gab sie ein Zeichen, ohne sie weiterzufahren.

Der Silberäugige hatte abermals von seinem Talent Gebrauch gemacht, unangenehm aufzufallen. Diesmal waren es zwei Polizisten, denen er missfiel. Offenbar rief allein seine Erscheinung Ordnungshüter jeder Art auf den Plan. Er selbst war die inkarnierte Unordnung. Diesmal trug er schief geschnittene, ausgefranste Shorts, dazu ein graues T-Shirt, auf dem die Aufschrift »This is a very lousy shirt« prangte. Der auf diese Weise auffällig Gewordene hielt den Polizisten gerade einen Vortrag über höfliches Benehmen. Die hatten bereits ihr Sprechfunkgerät eingeschaltet, offenbar entschlossen, einen Streifenwagen anzufordern.

Lina verstand selbst nicht, was sie nun wieder tat. Das war sinnlos. Das war unverständlich und unglaubwürdig.

»Wie viel hast du ihnen zugesteckt?«, fragte der Lange mit Engelsstimme, nachdem er sich plötzlich beruhigt hatte. »Was gibt man in diesen Zeiten?«

»Fünfzig«, murmelte Lina gereizt und zündete sich eine Zigarette an.

»So ein sagenhaftes Mädchen wie du hat kein Recht zu rauchen«, bemerkte der Silberäugige ernst.

Später fragte sich Lina immer wieder, wie das hatte passieren können. Sie erforschte ihre Gefühle und Gedanken bis zurück in ihre Teenagerjahre. Stets war eine Zigarette ihr mehr gewesen als eine Angewohnheit oder eben ein leichtes Narkotikum. Rauchen war ein geheimes Ritual, es erleichterte das Vergessen und hielt das Leben im Gleichgewicht. Alle hatten es ihr verboten, besonders ihre Kosmetikerin. Sie rauchte trotzdem. War sie doch selbst so etwas wie eine allmählich herunterbrennende Zigarette. Ohne Zigaretten gab es ihn nicht, den wundersamen Kontinent des Vergessens. Zudem riskierte sie, die Hälfte ihrer Macht zu verlieren.

Immer wieder fragte sie sich später, wie das hatte passieren können, ohne eine Antwort zu finden. Sie warf einfach die noch halbvolle Schachtel weg und rauchte nie mehr. Mehr noch: Sie konnte keine Zigaretten mehr sehen und von jeder Art Tabaksqualm wurde ihr übel.

 

Diesmal sprach der Silberäugige länger mit ihr. An seine Worte erinnerte sich Lina kaum noch, die waren unwichtig. Sie sah ihm nur in die Augen und trank deren Silber. Auch kam es ihr vor, als ginge ein besonderer Duft von ihm aus, etwas Undefinierbares, das keinesfalls körperlich war. Alles an ihm schien zu leuchten und sie badete in diesem Fluidum. Das ruhige Leben war vergessen, sie war in einen Ozean eingetaucht, in ein wogendes, unbekanntes Meer. Oder war es eher ein Schweben im luftleeren kosmischen Raum?

Und wieder stahl sich der Silberäugige davon. Er entwandt sich ihr wie eine Natter, nicht ohne zuvor einen Kuss auf ihrer Wange zurückgelassen zu haben: ein Natternzeichen. Lina schaffte es gerade noch, ihm ihre Telefonnummer hinzukritzeln. Immerhin war sie jetzt überzeugt, dass es ihn wirklich gab.

Die folgenden zwei Wochen verbrachte Lina vor allem damit, sich zu verfluchen. Selbstmitleid verabscheute sie, sich zu verfluchen aber hatte sie gelernt. Nun war sie dabei, ihr ganzes Leben zum Teufel zu wünschen, von den Kindheitstagen angefangen bis zu dieser Stunde. Aber sie gab nicht anderen die Schuld, auch nicht den so genannten Lebensumständen, sondern allein sich selbst. Sie verfluchte die Parkbank in Palanga, auf der sie ihre Unschuld verloren hatte, aber nicht die Bank war es, die Verachtung verdiente, sondern sie und ihr albernes Benehmen damals auf dem rutschigen Holz. Sie verwünschte ihre zu schmale Nase, derentwegen sie einem hysterischen Typ Frau glich. Ihre ausladenden Hüften, welche die Männer verrückt machten, aber schuld waren, dass man sie nicht zu den klassischen Schönheiten zählen konnte. Und da war auch noch ihre gottverdammte Trägheit, die, kaum hatte sie eine ernstere Aufgabe zu bewältigen, alle frommen Wünsche zunichte machte.

Lina verfluchte sich systematisch und der Reihe nach wegen all dieser Dinge, aber sie wusste allzu gut, dass sie einzig wegen des Silberäugigen mit sich ins Gericht ging. Sie hätte ihm nicht begegnen dürfen. Und wenn, dann hatte sie kein Recht, sich gehen zu lassen, sich unverstandenen Gefühlen hinzugeben. Man mochte sich im Leben wie auch immer einrichten, nur dumm verhalten sollte man sich nicht. So verfluchte sie zuerst die eigene Dummheit, den Verlust von Sicherheit und innerer Ruhe, den törichten Versuch, die Grenzen der Welt, in der sie sich bewegte, auszuweiten. Diese Welt war keineswegs großartig, aber auch nicht tragisch oder hoffnungslos. Gefährlich wurde es nur dann, wenn man in mehreren Welten zugleich leben wollte. Das konnte böse ausgehen. Ein häufiger Strategiewechsel sei schlechter als die miserabelste Strategie, an der man festhalte, diese Formel der Lebensweisheit hatte ihr ein Mathematiker beigebracht, der nach der Arbeit Blumen zog und sie häufig mit einem frischen Strauß überraschte. Daher verfluchte Lina auch noch die Mathematik. Ohne die wüsste sie von keinen Gesetzen und brauchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen.

Man hatte ihr vorgeschlagen, eine Woche in Amsterdam zu arbeiten, mit einer Jugendmodekollektion. Zwei junge Holländerinnen, die eine Modelagentur betrieben, winkten mit Geld und Preisen, waren daher besonders zielbewusst und entsprechend nörgelig. In der Regel war Lina eine geduldige Arbeiterin, aber diesmal fühlte sie sich von den beiden beleidigt. Sie wurde angewiesen, ihre Frisur von Grund auf zu ändern. Lina war stolz auf ihr üppiges blondes Haar, in das sie winzige Locken einzudrehen liebte, was auch modern war. Nun sollte sie das Haar glätten, nach hinten kämmen und offen über die Schultern fallen lassen. Dann sollten irgendwelche Bänder, Schnüre und Lederstücke eingearbeitet werden. Das war normal, die beiden wollten zeigen, was sie konnten. Doch Lina war tief gekränkt und verfluchte sich auch noch dafür, dass sie nichts als eine bescheuerte Puppe war, die jedes Kind kämmen durfte, wie es ihm einfiel. Auch das war dumm. Man musste unverzüglich die Haare glätten und nach Amsterdam fahren. Aber so war die Welt beschaffen: Hatte man erst eine Dummheit gemacht, gegen die man ankämpfte, schon war man dabei, eine noch größere zu begehen.

Trotz der sengenden Hitze schlenderte Lina durch die Stadt und provozierte die Männer. Nicht absichtlich, es war nun einmal ihr Los. Mit grellfarbenen Shorts, hauchdünner Bluse und ohne Büstenhalter war sie zur wandelnden Herausforderung geworden. Aber sie beachtete die Männer nicht, selbst diejenigen, die sie kannte. Nicht mal dann, wenn man nach ihr rief, reagierte sie. Und wagte einer, sie am Ärmel zu zupfen, verfluchte sie den ebenfalls. Aber nicht in Gedanken, sondern lauthals, mitten auf der Straße. Lina konnte, wenn es sein musste, fluchen wie ein Kutscher. Sie wusste, dass das einen abstoßenden Eindruck machte. Eine exotische Schönheit, die plötzlich mit Schimpfwörtern um sich warf wie ein besoffener Matrose. Nach einem solchen Schock verblasste gewöhnlich jeder Sex-Appeal. Und genau darauf hatte sie es abgesehen. Sie wollte, dass man sie in Ruhe ließ. So bewegte sich Lina durch das hitzeflimmernde Vilnius, hasste sich wieder einmal und bedauerte ihre Haare. Aber sie begriff sehr gut, dass sie nur auf einen Anruf des Silberäugigen wartete.

Das war das Seltsamste von allem: Sie hätte wütend auf ihn sein, alle möglichen Strafen für ihn ausdenken sollen. Ihn quälen und erniedrigen, wenigstens in Gedanken. Oder sich erst mit ihm treffen, ihn gehörig anmachen und ihn dann kalt abblitzen lassen. Mehr noch: ihn grausam verhöhnen. Nur so! In dieser Rolle hatte sie sich früher zuweilen gesehen, wenn sie wieder einmal Kolleginnen von ihren traurigen Männergeschichten reden hörte. Doch so oder so, die Ruhe war dahin. Lina fühlte sich wie eine zum ersten Mal verliebte Achtklässlerin.

»Was am meisten erstaunt, sind natürlich die Haare«, flüsterte eine Engelsstimme und ihr beinahe ins Ohr. »Wären nicht diese Haare, es wäre vielleicht noch möglich gewesen vorbeizugehen.«

Lina stockte das Herz. Sie vergaß sich zu beschweren, warum er nicht angerufen hatte, versuchte überhaupt nicht, ihm etwas vorzuwerfen. Fragte ihn nichts, denn er redete ausreichend selbst. Sie konnte ihm zuhören, wie man Musik hört, ohne auf Worte zu achten. Und dann konnte sie selbst diese geheimnisvolle Musik außer Acht lassen, ihm nur in die Augen schauen und deren Silber trinken. Wie von selbst gelangten sie in ihre Wohnung, umarmten sich, halfen einander beim Ausziehen. Er war nicht besonders kräftig, aber wirklich magisch. In der Duschkabine küssten sie sich, dann schliefen sie miteinander, aber Lina erinnerte sich später kaum an Einzelheiten. Wichtiger war der heimliche Rausch, der die Welt um sie herum verblassen ließ. Das war ein alles umfassendes Gefühl, nicht in Worte zu kleiden und fast noch wichtiger als alles Körperliche.

Diesmal fand Lina Zeit, seinen Körper zu betrachten, sein Engelsgesicht mit den ein wenig hervorstehenden Wangenknochen. Sein bestes Stück, das groß und ziemlich schief war. Romas hieß er und war Journalist. Wer wollte, konnte seine Artikel lesen oder ihn im Fernsehen bewundern. Doch Lina las keine Zeitungen und sah kein LTV. Sie dankte den Göttern, dass sie ihn nicht zuvor schon zu Gesicht bekommen hatte. Auf dem Bildschirm wären diese magischen Silberstrahlen nicht zur Wirkung gekommen; sie hätte einen Blick auf ihn geworfen und ihn gleich wieder vergessen. Aber jetzt gehörte er ihr, bis in alle Ewigkeit. Dieser Zauber konnte und durfte nicht enden. Lina wollte nichts ändern, nichts verbessern oder gar analysieren, Alles war, wie es sein musste.

Die Reise nach Amsterdam entfiel von selbst. Sie dachte gar nicht daran, ihr goldblondes, in winzige Locken gedrehtes Haar anzurühren. Auf einmal kam ihr die Idee, mit dem Silberäugigen die Tulpenstadt zu besuchen. Sie schlug vor, sich um Visa zu kümmern – und war zum ersten Mal mit seiner Manie konfrontiert.

»Ich hab’ kein Geld und von anderen nehm’ ich keins«, ließ er sie wissen.

»Außerdem ist dein Geld bestimmt von der Mafia.«

»Vielleicht auch ich selbst?«, spottete Lina.

»Das wohl nicht. Schon deshalb, weil du Geschmack hast. Du bist zwar eine wahre Höllenbraut, aber das bist du von dir aus.«

»Macht dir das, Engelchen, nicht ein wenig Angst?«

»Ein Geschenk ist das.« Romas lächelte. »Wen kann denn ein Engel lieben? Nur eine Höllenbraut. Natürlich, wenn es ihm gelingt. Selten gelingt das einem Engel.«

Amsterdam fiel nun endgültig ins Wasser. Was blieb war, sich mit Romas fotografieren zu lassen. Um keine Zeit zu verlieren, zwängten sie sich zusammen in die Kabine eines Polaroid-Automaten. Auf den Fotos sahen sie aus wie die letzten Debilen, Lina bemühte sich, sie niemandem zu zeigen, dennoch trug sie sie in ihrer Handtasche herum. Und da, an einem drückend heißen Tag, traf sie vor der geöffneten Handtasche Romanas, der ruhig eines der Bilder in seiner Hand hin und her drehte. Nur allzu gut wusste sie, es war nicht erlaubt, sich aufzuregen, nicht mal die Stirn in Falten zu ziehen. Dennoch hatte sie Mühe sich zu beherrschen.

»Die Agenturen haben mich angewiesen«, so Romanas kalt, »dass sie bei ihren Modellen keine dunklen Ringe unter den Augen sehen wollen. Solche von durchgefickten Nächten etwa. Alles andere ist deine Sache. Aber vergiss nicht, ich habe in dich investiert. In ein paar Jahren hast du mir Dividende zu bringen. Und unterbezahlt bist du auch nicht, richtig? Und an den Arsch geht dir auch niemand. Richtig?«

Lina spürte die Gefahr nicht. Romanas war ein Verrückter, aber sein Wahnsinn war berechenbar. Was er wollte, erreichte er, notfalls mit allen Mitteln, aber er kam ihr nicht mit perversen Wünschen und Zumutungen. Man durfte ihm nur nicht in die Quere kommen. Das hatte sie auch nicht vor. Sie war dabei, hartnäckig zu arbeiten und einiges Geld auf die Seite zu bringen. Dachte daran, noch mal ein Managementstudium zu beginnen und so ihre verdammte Trägheit zu überwinden. Sie war umsichtiger geworden. Aber noch spürte sie keine Gefahr.

Lina wusste nicht recht, wozu Zeitungen überhaupt gut waren. Sie befassten sich kaum mit der Welt, in der sie lebte, und das, worüber sie berichteten, interessierte sie wenig. Doch das Blatt, für das Romas schrieb, kaufte sie täglich. Sie blätterte es durch, suchte die Artikel des Silberäugigen und las nur sie. Mit einiger Verwunderung entdeckte sie ein seltsames, oft mühseliges und ärmliches Alltagsleben, das Romas detailliert beschrieb. Offenbar fesselten ihn Menschen mit den geringsten und lächerlichsten Sorgen und Nöten. Und wirklich hatte er seine Manie: Wo er auch hinblickte, überall sah er die Mafia am Werk. In seinem Kopf und in seinen Artikeln war sie einflussreicher als selbst der Staat. Sie regelte beinahe alles auf der Welt, war geradezu überirdisch, daher um so erschreckender und hassenswerter. Diese fixe Idee des Silberäugigen amüsierte Lina. Sie kannte ein wenig die Szene, über die Romas nur fantasierte. In ihr agierten weder Titanen noch waren da Anzeichen von Allmacht. Nur blutige Gesetze gab es und einen leisen Anflug von Wahnsinn. Der Silberäugige – Romantiker, der er war – verwandelte unversehens zynisch trainierte Muskelprotze in allgewaltige Dämonen. Vielleicht musste man sich so verhalten in seiner seltsamen Zeitungswelt.

Begegnete sie Romas im Fernsehen, sah sie sich nicht nur die Sendung an, sondern zeichnete sie auch auf Video auf. Sie war nicht darauf aus, die ganze Zeit mit ihm zusammen zu sein, sah ihn nicht jeden Tag. Doch Lina spürte die Notwendigkeit, den Silberäugigen zu sich zu rufen, wann immer ihr danach war. Und sei es nur auf dem Fernsehschirm. Hatte sie das Band gestoppt, redete sie zuweilen eifrig auf ihn ein. Sie glaubte nicht, dass so etwas verrückt sei, allenfalls ein Anzeichen heilloser Verliebtheit. Das war natürlich, ein Leben lang hatten ihr Gesprächspartner gefehlt. Und Gedanken, die man immer nur im eigenen Kopf hin und her bewegte, konnten einen allmählich um den Verstand bringen. Gespräche mit einem Fernsehbild hatten zudem eine seltsam beruhigende, geradezu heilende Wirkung. Sie fragte etwa, nachdem sie das Band angehalten hatte, ob sie sich einen Joghurt mit Erdbeeren kaufen sollte oder lieber einen mit Kirschen. Es war wahnsinnig wichtig, dazu die Meinung des Silberäugigen einzuholen. Shorts tragen? Oder doch lieber ein Kleid? Aber sie befragte ihn auch über den Sinn des Schmerzes, die Ungerechtigkeit des Himmels und das Los der Frauen.

Solche Dinge wären ihr nicht über die Lippen gekommen zu Zeiten, wo er leibhaftig vor ihr stand. Wenn sie in einem kühlen Zimmer miteinander schliefen oder Hand in Hand durch die noch immer hitzeflimmernde Stadt schlenderten, bedurfte es keiner Worte. Alles, was sie wissen wollte, verrieten seine Aura, seine silberstrahlenden Augen. Hunderttausend Informationen, hunderttausend Antworten konnten in einer einzigen Berührung seiner Hand enthalten sein.

 

Es ängstigte sie nur, dass Romas mitunter Mühe hatte, sich in ihrer Welt zu halten. Zuweilen verschwand er einfach, obwohl er noch immer neben ihr lag. War sie schon ganz und gar bereit, sich mit ihm zu lieben, konnte es vorkommen, dass er plötzlich kraftlos und hilflos schien wie ein Kleinkind. Lina war keineswegs erbost über diese blamablen Schwächeanfälle, eher besorgt. Mit aller Kraft klammerte sie sich dann an den Engelskörper, der nicht lieben wollte, in Panik, er könne sich ganz und gar in Luft auflösen. Lina liebte auch seine Schwächen und Unbeholfenheiten. Liebte sogar die kleinen Pickel, die manchmal auf seinem Kinn sprossen. Seine endlosen Erörterungen, die Zukunft des Landes betreffend. Seine Hymnen auf den Elan der Jugend, den, so meinte er, noch niemand wirklich wahrgenommen und gewürdigt habe.

Lina hatte begonnen, Gedichte zu schreiben, aber nur für sich selbst. Über seine geheime Schwäche und ihre eigene seltsame Leidenschaft. In diesen Versen verwandelten sich alle Mängel des Silberäugigen unversehens in himmlische Engelsmacht, imstande und fähig, die Welt zu erobern. Zumindest Linas Welt.

Als sie ihn zum ersten Mal zu einer Party mit den Modeleuten mitnehmen wollte, grinste er.

»Kaufst du mir einen Smoking? Oder wenigstens einen Frack mit Ärmelaufschlag, so einen für dreihundert Dollar?«

»Du hast doch kein Geld«, entgegnete Lina gelassen, denn darauf war sie vorbereitet. »Und für fremdes, ich weiß, lässt du dich nicht einkleiden. Vergiss es. Ich will auch nicht, dass jemand denkt, ich würde dich aushalten.«

Während der Party zeigte sich Lina zufrieden, denn Romas sah sich kaum nach anderen Frauen um. Doch verspürte sie auch Unruhe. Denn am meisten interessierte er sich für Romanas, der die Truppe mit einer kurzen Visite beehrte. Romas’ Silberaugen leuchteten plötzlich wie zwei weißglühende Taler. Man musste ihn am Ärmel festhalten, damit er nicht zu Romanas hinstürzte, wer weiß wozu, vielleicht um ihn zu beschnuppern. Das hätte man denken können, wenn man seine bebenden Nasenflügel sah.

»Na, welche hat dir gefallen?«, erkundigte sich Lina, als sie auf dem Heimweg waren. »Mit welcher würdest du ins Bett gehen? Vielleicht mit allen zusammen?« Die Beunruhigung hatte sie schnell vergessen.

»Diese Svetlana ist nicht übel, die mit den superblonden Haaren und dem breiten Mund«, entgegnete Romas. »Sie ist natürlich keine Höllenbraut wie du, aber eine richtige kleine Hexe. Und irgendwie clever.«

Letzteres hätte Lina nicht einmal unter Folter zugegeben. Erst unlängst war Svetlana direkt auf dem Laufsteg ein Kleid gerissen. Die Naht platzte ihr direkt über dem Hintern, gerade in dem Augenblick, als sie in eleganter Drehung dem Publikum den Rücken zugekehrt hatte. Lina bedauerte sie herzlich, aber als sie allein war, lachte sie schallend und weinte und lachte.

Hatte sie wieder einmal auf diese Weise ihren Gefühlen freien Lauf gelassen – war so etwas noch normal? –, dann rief sie Romas auf ihr Videogerät und erzählte ihm alles. Sie wusste, er würde helfen. Würde sie beruhigen oder, wenn nötig, ihr eine Standpauke halten. Aber am wichtigsten war, dass er seine Zauberkraft zur Anwendung brachte. Dass sie auf keine dummen Ideen mehr kommen konnte, nur Gutes tat und ihre Mitmenschen liebte. Dass es keine Lüge gab zwischen ihnen. Außerdem wünschte sie, dass er sich für Management interessierte und ihr während des Seminars Lösungen ins Ohr flüsterte, die alle Dozenten begeisterten.

Lina hatte wirklich ihre ganze Lebensruhe verloren. Aber manchmal dachte sie, dass sie dafür vielleicht das Leben selbst entdeckt hatte. Und es war wirklich ihr, einzig ihr Leben. Sie nahm Romas überall mit hin, wo sie konnte. Die Kolleginnen waren keine Giftschlangen, sagten einem nicht ins Gesicht, was sie dachten. Aber sie bekam einiges mit, hörte halblaute Gespräche. Da war keine Verachtung für einen, der nicht dazugehörte, eher schon Verwunderung. Die Hexe Svetlana, die die hinter ihrem Rücken befindliche Lina nicht bemerkt hatte, gab wohl die Meinung der Mehrheit zum Besten. Er hätte, so meinte sie, ja irgendwas Besonderes haben können, wenigstens in der äußeren Erscheinung oder der Sprache, der Bildung. Doch nichts! Absoluter Durchschnitt.

Lina hatte immer schon vermutet, die Mädchen aus ihrem Umkreis seien oberflächlich und nicht gerade mit Geist gesegnet. Jetzt war sie endgültig davon überzeugt. War doch der Silberäugige etwas Besonderes, und zwar in allem! Nur ein dreifach Blinder konnte seine wundervollen Augen übersehen. Nur ein dreifach mit Taubheit Geschlagener nicht die Musik seiner Stimme vernehmen. Nur jemand, der nie an einer Blume gerochen hatte, nicht von seinem himmlischen Duft bezaubert sein. Zugegeben, er war etwas mager und unproportioniert, aber eben das war es, was sein himmlisches Wesen ausmachte. Nicht selten wirkte er müde und kraftlos, das konnte als ein Zeichen der Menschlichkeit gelten. Aber dann gab es auch wieder diese Kraft in der Kraftlosigkeit, geheime Energien, die der Silberäugige unbemerkt und allmählich in sich aufnahm. Romas war kein besonders guter Journalist, wohl deshalb, weil er nicht für den Tag schrieb. Er bewegte sich ohne Eile, doch mit festem und klarem Schritt. Er wusste stets, was er wollte. Und jeder seiner Gedanken, jede seiner Bewegungen, jede Stunde mit ihm verlangte nach einem Gedicht. Lina war keine richtige Dichterin, doch jede ihrer poetischen Hervorbringungen war eine flüchtige Kostbarkeit. Was machte es, wenn sie die am nächsten Tag verbrannte, nachdem sie den Text noch einmal laut gelesen hatte. Schmetterlinge für einen Tag waren das, aber sie bedeuteten viel. In ihnen konnte sie über den Sinn des Schmerzes meditieren, über die Ungerechtigkeit des Himmels. Und darüber, was es bedeutete, eine Frau zu sein. Die tiefsten Wahrheiten fanden Platz darin. Deshalb auch lebten sie nur einen einzigen Tag, um dann der Vergessenheit anheim gegeben zu werden, zusammen mit allen bösen Erinnerungen.

Diese Mädchen, die nur dem Geld nachjagten, verstanden nichts und konnten nichts verstehen. Sie fühlten nichts und konnten nichts fühlen. Nicht lange schien es her, da war sie beinahe auch so eine gewesen. Gott sei Dank nur beinahe. In dem Block aus Eisenbeton, der sie bis gestern noch umgab, fanden sich genügend Spalten und Risse, durch die ein wundersamer, lebendiger Geist eindringen konnte. Ein leibhaftiger Silberengel, der seine Höllenbraut mit sich zu nehmen versprach. Lina war stolz, dass Romas gerade sie gewählt hatte. Das bedeutete, sie war es wert, hatte sich noch nicht in eine Puppe, in ein lebloses und teures Luxusgeschöpf verwandelt. Sie konnte ihre Kunst zur Geltung bringen oder wenigstens einen Abglanz davon. Und nicht nur auf den Titelseiten von Modejournalen, auch in ihrem neuen, so aufregenden Leben.

Sie war glücklich, irgendwie mühsam und seltsam glücklich, war gleichsam Aschenputtel aus dem Märchen, welches immer noch Linsen sortiert, aber spürt, ja überzeugt ist, zur Prinzessin auserkoren zu sein. Nur musste man noch ein wenig warten. Ein klein wenig geduldig warten.

Lina wusste, dass im Leben ein Blitz stets aus heiterem Himmel kam. Hatten sich zuvor schwarze Wolken geballt, hatte es bereits geblitzt und gedonnert, dann war kein Gewitter wirklich drohend. Unheil, das man im Voraus spürte, war kein wirkliches Unheil, allenfalls ein zu erwartendes Ereignis, das zum natürlichen Auf und Ab des Lebens gehörte. Ein wirkliches Gewitter, eingeleitet von einem grellen Blitz, konnte nur aus absolut heiterem Himmel kommen.

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