Heinrich die Suche

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Heinrich die Suche
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Renate Stadlmaier

HEINRICH

DIE SUCHE

Mittelalterroman

Mit historischem Hintergrund

1.Auflage

Copyright © 2015 von Renate Stadlmaier

Umschlaggestaltung: Michael Ebner, A-Langenzersdorf

ISBN 978-3-7375-9076-1

Danksagung

Ich bedanke mich bei meinem Mann Oliver, bei meinem Sohn Michael, bei meiner Tochter Marlene und bei meiner lieben Freundin Irene, die alle tatkräftig mitgeholfen haben.

Sprüche

„Wenn die Macht der Liebe über die Liebe zur Macht siegt, wird die Welt Frieden finden.“

Jimi Hendrix

„Wer das Leben nicht schätzt der verdient es nicht.“

Leonardo da Vinci

RACHE

Im Morgengrauen begaben sich zwanzig mysteriöse Gestalten in ein Schloss und folgten in einer langen Reihe einem dunklen unterirdischen Gang, der nur durch den flackernden Schein ihrer Fackeln matt erleuchtet wurde. Feucht-modriger Geruch stieg in ihre Nasen und ihren Weg säumten schauderhaft viele Totenschädel mit leeren Augenhöhlen und eine Vielzahl an Gebeinen.

Am Ende des Ganges blieb die Gruppe wie auf ein Kommando stehen. Unheimliche Stille breitete sich aus, die nur durch ein leises Pfeifen und Rascheln im Dunkeln unterbrochen wurde. Der Erste, ein großer, hagerer, schwarz gekleideter Mann, trat zu einer Nische in der Wand vor, griff mit der dünnen, knorrigen Hand hinein und zog an einem verborgenen Hebel. Sogleich ertönte ein dumpfes Knirschen und die Wand begann sich zu drehen. Sie gab eine dunkle Öffnung frei und im Schein der Fackeln wurden in den Stein gehauene, feuchte Stufen sichtbar. Langsam und vorsichtig stiegen die zwanzig Männer die Treppe hinunter und gelangten schließlich in einen Raum mit einem steinernen Altar. Wieder trat der schwarz gekleidete Mann vor und entzündete die Kerzen auf einem dreiarmigen Kerzenständer, der in der Mitte des Altars stand. An der Wand dahinter hing ein umgedrehtes Kreuz. Links und rechts an den Wänden waren Pentagramme aufgemalt, jene fünfzackigen Sterne, deren untersten Spitzen in Richtung Hölle zeigen. Die beiden seitlichen Spitzen sollen die Hörner des Teufels symbolisieren. Der Mann stellte sechs kleine, silberne Schatullen auf den Altar und öffnete sie. Danach ging er zu einem Kohlebecken an der hinteren Wand, senkte den Kopf und verschränkte die Arme in den weiten Ärmeln seiner Kutte. Leise begann er eine Beschwörungsformel zu murmeln. Ein anderer, ein wahrer Riese, löste sich aus der Gruppe, trat ein paar Schritte vor, zog ein zappelndes Huhn aus einem Lederbeutel, den er unter seinem schwarzen Umhang trug, und schnitt ihm kurzerhand den Kopf ab. Das Blut spritzte und besudelte den Mann, der den Kopf zurück warf und schallend lachte.

„Ich rufe dich, Luzifer!“, ertönte seine dunkle Stimme.

„Ich rufe Luzifer, den gefallenen Engel, der sich einst gegen Gott auflehnte.

Nimm mein Opfer und höre meine Bitte!“

Die anderen achtzehn Männer standen in einem Halbkreis hinter ihm und stimmten einen monotonen Singsang an, der immer mehr anschwoll, bis er sich zu einem schrillen, ohrenbetäubenden Geschrei steigerte.

„Gebt meiner schwachen Seele Kraft! Dämonen der Dunkelheit, lasst mich euer Diener sein!“, brüllte er und riss die Arme hoch.

Plötzlich stieg schwarzer Rauch aus den sechs Schatullen auf und umhüllte den Mann in der Mitte des Raumes, der mit erhobenen Armen, blutverschmiertem Gesicht und gespreizten Beinen dastand. Er legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und atmete in tiefen Zügen den schwarzen Rauch ein. Tief seufzend, ließ er die Arme wieder sinken.

Mit einem Schlag verstummte das Geschrei und Totenstille breitete sich aus. Die Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit, dann drehte sich der schwarz gekleidete Hüne langsam um. In der Hand hielt er noch immer das geköpfte Huhn und schweigend sah er jeden seiner Männer an. Dabei wandte er nicht den Kopf, nur seine blutunterlaufenen Augen bewegten sich und sein Gesicht verzog sich zu einem bösen Grinsen.

„Es ist vollbracht!“, krächzte er mit heiserer Stimme.

„Die heilige Reliquie wird ihr Ziel nicht erreichen und im Feuer brennen. Das Blut der Jungfrau, die zum Julfest geboren wurde, wird ihre Asche tränken und der Herr der dunklen Tiefen wird durch mich zu neuem Leben erweckt!

Er gab ein lautes, heiseres Lachen von sich.

„Zudem verfluche ich dich, Graf Falkenstein, da du König Ottokar geholfen hast, meinen Vater zu ermorden. Ich werde dir deine Lebensgeister nehmen. Stück für Stück. Langsam sollst du dahinsiechen und höllische Qualen durchleiden. So soll dich meine Rache treffen! IM NAMEN LUZIFERS!“

Der Schein der Kerzen warf tanzende Schatten an die Wände und wieder schallte dieses kalte, krankhafte Gelächter durch den Raum. Das Böse war spürbar nahe und ließ alle Umstehenden erschaudern.

Die achtzehn Männer warfen sich ehrfürchtig auf den lehmigen Boden, denn in diesem Moment hatten die dunklen Mächte ein Wesen geschaffen, das imstande war bedenkenlos zu töten. Ein Wesen, teuflisch, skrupellos und von Hass verzehrt.

DER TRAUM

Die Sonne versank langsam hinter der Spitze des Kahlenberges und beleuchtete den Abendhimmel tiefrot. Auf der gegenüberliegenden Seite der Donau stand nördlich von Wien, oben am Bisamberg die Burg Falkenstein. Das letzte Licht des Tages tauchte die Burg in dumpfe Farben. Die vielen Menschen, die hier wohnten, beendeten ihr Tagwerk und begaben sich anschließend zum gemeinsamen Abendessen in den Rittersaal. Die Zugbrücke wurde hochgezogen und das laute Rasseln und Poltern übertönte die letzten vereinzelten Stimmen im Burghof. Binsenlichter wurden angezündet, Türen schlugen ins Schloss und mit einem Male war alles menschenleer.

Dann brach die Nacht herein.

Silbriger Mondschein floss über die Dächer, während die letzten Lichter in den Gemächern verloschen. Eine Katze saß auf einem Mauersims, sprang plötzlich auf und tauchte blitzschnell in die Finsternis ein. Danach lag die Burg im Dunkeln, still und verschwiegen.

In dieser Nacht schlief Heinrich schlecht. Der Verwalter des Grafen Falkenstein, bewohnte mit seiner Frau Franziska, seinem Sohn Conrad und seiner Tochter Sybilla innerhalb der Burgmauer ein kleines Fachwerkhaus. Unruhig warf Heinrich sich herum. Im Traum hörte er eine sanfte Frauenstimme, die ihn rief.

„Heinrich! Hilf uns!“

Er öffnete die Augen und fand sich in einem Wald wieder.

Vor ihm lag ein kleiner See. Frühnebel hing wie schwerer Rauch zwischen den Bäumen und kroch langsam übers Wasser. Es war kühl und die Luft roch frisch und gut. Er sah zum Waldrand hinüber und durch die Nebelschwaden nahm er eine Gestalt wahr, die auf ihn zukam.

„Heinrich! Du musst sehr wachsam sein! Das Kind ist in Gefahr“, hörte er die Stimme wieder rufen.

Die Gestalt kam näher. Es war eine zarte, junge Frau mit langem, blondem Haar, das ihr über den Rücken fiel. Sie trug ein weißes, seidenes Gewand und war schön wie ein Engel. Heinrich spürte überwältigende Freude.

„Gertrud! Was machst du hier?“

Sie streckte die Arme nach ihm aus und als sie ihn erreichte, musste er erschrocken feststellen, dass sich ihre honigbraunen, freundlichen Augen rot färbten und ihr Gesicht sich zu einer widerlichen Fratze verzog. Vor Heinrich stand plötzlich ein Ritter in einer schwarzen, rostigen Rüstung.

„ Ich werde euch alle vernichten!“, donnerte die tiefe, furchterregende Stimme des Ritters.

Seine schrecklichen Augen blickten Heinrich zornig an und er versuchte, mit einem Dolch auf ihn einzustechen.

Heinrich schrie und schlug wild um sich.

Als er erwachte, war sein Leinenhemd feucht vom Angstschweiß. Er lag mit einem beklemmenden Gefühl in seinem Bett und starrte in die Dunkelheit. Franziskas warmer, weicher Körper lag neben ihm. Sie war aufgewacht, setzte sich auf und strich ihm sanft übers Haar.

„ Was ist? Du hast geschrieen“, flüsterte sie.

„ Es ist alles in Ordnung, meine Liebe. Schlaf nur ruhig weiter. Es war nur ein böser Traum. Morgen werde ich dir alles erzählen“, flüsterte Heinrich zurück, obwohl er sich gar nicht mehr sicher war, ob er das auch wirklich tun sollte.

Sein Herz hämmerte vor Aufregung und er war hell wach. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, das er nicht in Worte fassen konnte. Er hatte Gertrud gesehen, die schon lange tot war und plötzlich überkam ihn eine Art Gewissheit: Er wusste in diesem Moment genau, dass dieser Traum eine Warnung war. Bertram, dem einzigen Sohn des Grafen, drohte von irgendwoher Gefahr.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und seine Nackenhaare sträubten sich. Heinrich konnte nicht wieder einschlafen. Er lag den Rest der Nacht wach und starrte auf die Dachbalken seines Hauses.

CONRAD

„Sybilla! Wo bist du?“, rief Conrad und suchte den Burghof nach seiner kleinen Schwester ab.

„ Sybilla! Komm doch endlich her! Wo hast du dich denn diesmal versteckt?“

Die strahlende Helligkeit der Vormittagssonne versprach einen heißen Sommertag. Conrad war jetzt acht und fand es ziemlich ungerecht von seiner Mutter, dass sie ihm ständig auftrug, auf seine kleine Schwester aufzupassen.

 

„ Pass gut auf Sybilla auf. Sie ist unsere Julfestmaid,“

hörte er sie in Gedanken sagen. Sie nannte Sybilla so, weil sie am Weihnachtsabend geboren wurde.

„Ich habe jetzt wirklich keine Lust mehr, jeden Winkel nach dir abzusuchen!“, rief er wieder laut. Wütendes Hundegebell, das von irgendwo her kam, war seine Antwort.

Etwas weiter weg spielten ein paar Kinder „Himmel und Hölle“ und eine junge Magd hing vor der Küche Wäsche an eine straff gespannte Wäscheleine. Er sah die Knechte, die Werkzeug über den Hof trugen und angeregt miteinander sprachen, aber von seiner Schwester war weit und breit nichts zu sehen.

Conrad sah seinem Vater Heinrich sehr ähnlich. Er hatte kinnlanges, strubbeliges blondes Haar, eine spitze Nase und blaue Augen. Seine Kleidung bestand nur aus einem Kittel ohne Ärmel, der ihm bis zu den Knien reichte und in der Mitte mit einer Art Kordel zusammen gebunden war. Er trug Strümpfe, die von Strumpfhaltern an seinen kurzen Hosen befestigt waren und Holzschuhe.

„ Fang mich! Fang mich!“, rief Sybilla laut auflachend, sprang hinter einer Hausecke hervor und verschwand blitzschnell wieder in den Ställen.

„ Oh Gott! Nicht schon wieder durch den stinkenden Pferdemist“, stöhnte Conrad, nahm aber sogleich die Verfolgung auf. Er entdeckte den Haarschopf seiner Schwester, der ebenso blond wie seiner war, hinter einer kleinen Mauer, schlich sich an und griff nach ihren Zöpfen. Sybilla quietschte auf, warf ihm einen Schemel vor die Füße und war schon wieder entwischt. Lachend zeigte sie ihm die lange Nase. Der Stall war leer bis auf ein kleines Pony, das im hinteren Teil des Stalles angebunden stand. Aufgeschreckt von den Kinder schnaubte und stampfte es ungehalten.

„ Dumme Gans!“, fluchte Conrad.

Dieses kleine freche Mädchen war erst fünf, aber unheimlich flink.

„ Du kriegst mich nicht! Du kriegst mich nicht!“

Sie trug einen Kittel, so wie Conrad, der ihr bis zu den Knöcheln reichte.

Sybilla bückte sich, nahm ihre Holzschuhe in die Hand und stürmte los.

Conrad hetzte hinterher.

Im inneren Burghof, den Bertram, der Sohn des Grafen, oft für seine Übungskämpfe mit dem Schwert nutzte, bekam er einen Zipfel ihres Kittels zu fassen.

„Hab ich dich endlich, du kleines Miststück!“

Triumphierend zog er sie zu sich heran, doch Sybilla trat, kratzte und biss ihn. Sie riss sich wieder los und wollte weiter laufen. Conrad stürzte sich mit einem Hechtsprung auf sie und stieß sie um. Jetzt lag sie bäuchlings vor ihm auf dem Boden. Er hockte sich auf ihre Beine und drückte ihre Arme nach hinten.

„ Lass mich los! Lass mich sofort los, oder ich sag es Mami!“, schrie sie.

Conrad ließ eine Hand los, um ihre Stimme zu ersticken, doch sogleich kratzte die Kleine wieder und riss ihn an den Haaren.

„ Du weißt, dass wir hier nicht spielen dürfen. Warum läufst du immer wieder hierher?“, fauchte Conrad sie an und gab ihr eine Ohrfeige.

Sie lagen im Dreck und Sybilla begann zu weinen.

Plötzlich packte Conrad eine kräftige Hand und zog ihn hoch. Das kleine Mädchen sprang sofort auf die Beine, streckte ihm die Zunge heraus und lief davon.

Erschrocken schaute Conrad in das Gesicht Bertrams.

„ Hat man dich nicht gelehrt, dass man junge Damen nicht schlägt?“

„ Das ist keine Dame, das ist meine Schwester“, erwiderte Conrad trotzig.

Der junge Mann hob belustigt die buschigen Brauen.

„ Lasst ihn los, Bertram! Ich werde das mit meinem Sohn regeln!“, hörte Conrad die Stimme seines Vaters rufen.

Heinrich trat aus dem Schatten des Torbogens mit dem hochgezogenen Fallgitter, das den äußeren vom inneren Burghof trennte. Hierher, in den inneren Burghof, brachten die Bauern ihre Abgaben und im Kriegsfall würden die Bewohner hier Schutz finden. In der Mitte des Hofes stand ein Brunnen. Seine Mutter hatte ihn und seine Schwester oft davor gewarnt dort zu spielen, denn der Schacht war an die hundert Meter tief.

Bertram ließ Conrad los, der sofort zu seinem Vater lief.

„ Läuft wie ein Hase und verprügelt kleine Mädchen. Was soll da bloß aus dir werden!“, rief ihm Bertram hinterher.

Er stemmte die Arme in die Hüften und bog sich vor Lachen. Dabei zeigte er ein paar makellose Zähne.

Überhaupt war Bertram ein hübscher Kerl. Er war groß, zwar nicht so groß wie sein Vater, aber schlank und gut gebaut. Seine dunkelbraunen, leuchtenden Augen blickten stets freundlich und waren von außergewöhnlicher Intensität. Die dunklen Augenbrauen standen in einem Winkel wie die Schwingen eines Adlers. Sein Mund mit den vollen Lippen, schien immer zu lächeln und die Linie von seiner Stirn zum Kinn war lang und elegant, fast kunstvoll geschwungen. Er hatte wie die meisten freien Männer seiner Zeit das dichte, schulterlange, braun gelockte Haar aus der Stirn zurückgekämmt. Bertram besaß wirklich eine seltene Art von Schönheit. Er trug einen „ roc“ aus tiefblauem Samt mit eng zugeschnittenem Oberteil und Schnürbändern an den Seiten, während der Unterteil in weiten Falten bis zu den Waden herabfiel. Die Ärmel waren an den Unterarmen eng anliegend und aufwändig bestickt. Um die Hüften hatte er einen Gürtel geschlungen und er trug schwarze enge Hosen mit kurzen Halbstiefeln aus Leder, die vorne spitz zuliefen.

„ Lasst es gut sein, Bertram“, sagte Heinrich ruhig, als er sah, wie sich die Wangen seines Sohnes vor Zorn rot färbten.

Er nahm Conrad bei der Hand und verschwand mit ihm durchs Tor.

„Warum hört ihr nicht auf das, was eure Mutter euch sagt? Du weißt doch, dass der Graf es nicht gerne sieht, wenn ihr Kinder im inneren Burghof spielt.“

Conrad sah Heinrich ins Gesicht.

„ Ich weiß das doch, aber Sybilla läuft immer wieder hier herein.“

„ Sie ist noch ein kleines Mädchen.“

„ Sie ist blöd!“

„ Sie ist deine Schwester.“

„ Sie hört nie auf mich.“

„ Deshalb darfst du sie nicht schlagen.“

„ Warum wollt ihr immer, dass ich auf sie aufpasse? Sie tut ja doch, was sie will.“

„ Das stimmt, sie ist ziemlich stur. Das hat sie von mir. Doch sie ist auch so zart wie ein kleines Rehkitz. Trotzdem, du bist der Ältere und du musst lernen, dich durchzusetzen.“

Sein Vater war ein großer, breitschultriger Mann mit strohblonden Haaren, die sich vorne schon leicht zu lichten begannen. Die spitze Nase und das Kinn hatte Conrad von ihm geerbt. Er war modisch gekleidet wie Bertram, hielt sich aber an schlichtere Farben. Heinrich schaute seinen Sohn verständnisvoll an.

Conrad senkte den Blick.

„Warum dürfen wir eigentlich dort nicht spielen? Wir tun doch gar nichts Böses.“

„ Weil der Graf Kindergeschrei nicht ausstehen kann. Sei froh, dass es Bertram war, der euch erwischt hat.“

„Pah! Bertram, dieser aufgeblasene Pfau! Ich kann ihn nicht leiden. Er hat sich über mich lustig gemacht. Was weiß der schon über kleine Schwestern. Und der Graf? Bertram ist sein Sohn und war ein Kind. Den musste er ja auch großziehen. Hat Bertram denn nie gespielt?“

Heinrichs Gesichtszüge verhärteten sich.

„ Bertram durfte nie so ausgelassen sein wie ihr, und großgezogen habe ich ihn. In deinem Alter musste der Junge viel lernen. Wo wir gerade beim Lernen sind - hast du heute schon Lesen und Schreiben geübt?“, versuchte Heinrich das Thema zu wechseln und zog Conrad sanft am Ohr.

„ Ja, ja.“

Conrad schüttelte die Hand seines Vaters ab und bohrte weiter.

„ Wieso hast du ihn großgezogen?“

„ Du weißt doch, wie wichtig es ist, Lesen, Schreiben und Rechnen zu können?“

Conrad ließ nicht locker.

„ Bitte, Vater, erzähl mir alles.“ bettelte der Junge.

Heinrich seufzte. Unzählige Male schon wollte Conrad diesen Teil aus seinem Vaters Leben erfahren, doch der konnte sich immer geschickt herauswinden. Diesmal bohrte der Junge hartnäckig weiter. Obwohl es ihm sichtlich schwer fiel, gab Heinrich dem Drängen seines Sohnes nach.

„Schon gut, ich erzähle es dir ja.

Sie setzten sich beide im äußeren Burghof auf eine schmale Holzbank, die im Schatten der hohen Mauern des inneren Burghofes stand. Heinrich lehnte sich gegen das kühle, raue Mauerwerk, hielt kurz inne und starrte ins Leere. Hinter seinem geistigen Auge schien der Film seines bisherigen Lebens in nur wenigen Sekunden abzulaufen.

HEINRICH

Es war der erste Sonntag im Oktober 1232, als Luise Schwab sich hochschwanger auf den Weg in den Wald machte, um Pilze zu sammeln. Die vergangenen Wochen waren feuchtwarm gewesen und die schmackhaften Gewächse schossen regelrecht aus den Waldböden. Ihr Mann war bereits aus dem Haus, auf dem Weg zu ihrem Nachbarn um den gemeinsamen Pflug auszubessern.

Luise und Lupold Schwab waren arme Bauern, die das Land für das Stift bestellten. Mit dem kleinen Hof konnte man durchaus eine kleine Familie ausreichend ernähren, doch Lupold war kein begnadeter Bauer und nach der letzten, kargen Ernte blieb nicht genug übrig, um die beiden mit einem Neugeborenen über den Winter zu bringen. Luise versuchte deshalb mit Waldfrüchten, Wurzeln und Pilzen den Speiseplan etwas aufzubessern.

Sie kannte gute Ernteplätze und um diese zu erreichen, musste sie eine kurze Strecke den Berg hoch wandern. Der Aufstieg fiel der schwangeren Frau trotz ihrer Jugend schwer. Luise begann zu schwitzen und lockerte den Schal den sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Leicht schnaufend begann sie trotz allem gut gelaunt ein Lied zu summen. Luise liebte den frischen Waldgeruch, den Duft der Bäume und der feuchten Erde. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch das herbstlich bunte Blätterdach und wärmte mit ihrer letzten Kraft die kühle Morgenluft. Die junge Frau schritt munter dahin, schwang in ihrer linken Hand den Sammelkorb und legte die Rechte auf ihren prallen Bauch, um die sanften Bewegungen ihres Kindes zu fühlen.

Der Waldboden war übersät mit Pilzen und Luise musste sich immer wieder bücken, um das Überangebot der Natur einzusammeln.

Anfangs beachtete sie die Schmerzen im Rücken nicht und schob sie in Gedanken auf die gebückte Haltung beim Sammeln. Doch eine Zeit lang später zog sich der Schmerz bis in den unteren Rücken und wurde stärker. Erst als ein heftiger Schmerz im Unterbauch sie zusammenfahren ließ, wurde sie aufmerksam.

„Das Kind kommt“, dachte sie erschrocken.

Sie richtete sich auf und sah sich um. Luise war beim Ernten der Pilze weit vom Weg abgekommen und versuchte, sich zu orientieren. Mit großen Schritten stieg sie über das trockene Gehölz. Nach wenigen Minuten hatte sie den Waldweg wieder erreicht, als eine heftige Wehe sie nochmals erzittern ließ. Luise krümmte sich vor Schmerz und im selben Augenblick spürte sie die warme Flüssigkeit über die Innenseite ihrer Beine fließen. Zuerst war es ihr nicht klar, aber in der nächsten Sekunde begriff sie, dass ihre Fruchtblase geplatzt war.

Oh, nein bitte nicht, flehte sie im stummen, nicht jetzt, liebe Mutter Gottes steh mir bei.

Sie presste die Hand zwischen die Beine und kreuzte die Knie, als könne sie damit den Geburtsverlauf aufhalten. Da fuhr der nächste Krampf durch ihren Bauch, lähmte ihre Glieder und drückte ihr Tränen in die Augen. Sie fiel auf die Knie und ließ den Korb fallen. Die mühsam gesammelten Pilze kullerten über die ganze Breite des Waldweges. Luise atmete heftig, sodass der Schmerz für kurze Zeit verschwand. Mühsam stemmte sie sich hoch und wankte mit gekrümmtem Oberkörper den Weg hinunter. Bei jedem Schritt spürte sie wie das Kind gegen ihre Schoß drängte. Luise wusste von einigen Frauen, das der Geburtsvorgang beim ersten Kind oft viele, schmerzvolle Stunden lang andauern konnte, doch dieses Kind, ihr Kind, kam schnell. Viel zu schnell.

Die nächste Wehe war heftig und warf sie regelrecht um. Auf allen Vieren kauernd, atmete sie stoßweise ein und aus. Luise spürte, dass es nun soweit war. Sie kämpfte sich in die Hocke, raffte ihre Röcke und fing an zu pressen. Mit den Händen griff sie zwischen ihre Beine und spürte wie der Kopf des Kindes sich bei jeder Presswehe aus ihr hinaus quetschte. Es folgten die Schultern und mit einem Schwall der restliche kleine Körper. Luise fing das Baby auf, zog es hoch und fiel im selben Augenblick nach hinten um. Erschöpft blieb sie, mit dem Kind auf dem Bauch, liegen. Sie spürte, wie der Schmerz sich auflöste und ihr ganzer Körper sich entspannte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und sammelte sich. Dann zog sie das Neugeborene hoch, biss die Nabelschnur durch und säuberte mit ihrem Schal die winzig Nase und den Mund. Gleich darauf vernahm sie als glücklichster Mensch dieser Erde, den ersten Schrei ihres Sohnes.

 

Luise lag mit offenen Augen da, das Kind an sich gedrückt und starrte in den Himmel. Sie war müde und ausgelaugt, doch dank ihrer jungen Jahre kehrte ihre Kraft bald wieder zurück. Sie wickelte das Kind in ihren Schal und rappelte sich hoch. Einen kurzen Moment drehte sich die Welt und Luise taumelte zwei Schritte vorwärts. Sie hielt das Kind fest im Arm und sog die frische Waldluft tief in ihre Lungen. Der Schwindel verging schnell. Auf leicht wackeligen Beinen machte sie sich auf den Heimweg. Luise bemühte sich nicht die Spuren der Geburt zu beseitigen, aber sie ging nicht, ohne vorher noch ein paar der verstreuten Pilze aufzusammeln.

Nach einer halben Stunde erreichte sie den heimischen Hof. Sie wusch sich und das Kind, wickelte es in saubere Tücher und fiel dann vollkommen erschöpft auf ihr Lager. Ihren neugeborenen Sohn legte sie sich an die Brust und der kleine Mann begann sofort schmatzend und glucksend zu saugen. Dann schlief Luise ein.

Als Lupold spät am Abend nach Hause kam, fand er, zu seiner großen Überraschung, eine friedlich schlummernde kleine Familie vor.

Lupold und Luise nannten ihren Sohn, Heinrich. Der strohblonde Knirps mit den wasserblauen Augen hielt sie ständig auf trab und war ihr beider ganzer Stolz. Lupold bemühte sich mehr Erträge aus seinem Land zu erwirtschaften und so kamen die Drei mehr schlecht als recht über die Runden. Im nächsten Jahr darauf wurde Luise wieder schwanger. Sie brachte ihre kleine Tochter an einem verregneten Frühlingstag genauso schnell und unkompliziert wie ihr erstes Kind zur Welt. Sie nannten sie Sophie. Die Kleine war das Ebenbild ihres Bruders, mit blonden Haaren und ebenso hellen, blauen Augen, nur dass auf Sophies kleiner Nase winzige Sommersprossen prangten.

Die folgenden Sommermonate waren warm, aber nicht zu trocken und Lupold brachte zum ersten Mal eine wunderbare Ernte ein. Das blieb auch die nächsten drei Jahre so und die Speisekammern, der hart arbeitenden Bauern, füllten sich bis oben hin. Es waren gesegnete Zeiten und das Glück der Familie Schwab schien perfekt zu sein. Bis zu dem Tag, an dem Gott seine schützende Hand von dem Land nahm.

Ein Hagelsturm zerstörte weite Teile nördlich der Donau und brachte große Verzweiflung in die Herzen der Menschen. Die Weinbauern klagten über den Verlust der Trauben von den besten Rebstöcken und dass der klägliche Rest nur mehr zur Herstellung von Essig taugte. Das wiederum verstimmte die Kirchenmänner vom Stift, weil dadurch die edlen Tropfen in der äußerst rentablen Stiftskellerei fehlten. Am schlimmsten traf es jedoch die Landwirtschaft. Die Ausmaße des Hagelsturms waren verheerend. Der Sturm hatte mit ungeheurer Gewalt, Häuser und Felder verwüstet und die ganze Ernte zerstört. Doch die Bauern waren es gewohnt zu kämpfen. Das emsige Volk hielt zusammen und brachte die Schäden an ihren Häusern gemeinsam, so gut es ging, wieder in Ordnung. Sie räumten die Felder auf und retteten was noch zu retten war. Immer wieder gab es gute und schlechte Zeiten, so war ihr Leben.

Nur für Luise war plötzlich alles anders. Die sonst so lebenslustige Frau verlor sich in immer schlimmer werdender Trübseeligkeit. Anfangs versuchte sie es mit Johanniskraut. Danach mit einer Mischung aus Ackerschachtelhalm, Brennnessel, Helmkraut, Birkenblättern und Schafgarbe, aber ihre Stimmung wurde nicht besser und danach waren selbst die kundigsten Kräuterfrauen ratlos.

„Ihr Körper wäre jung und stark“, meinten sie.

„ doch ihre Seele hat der Lebensmut verlassen. Dagegen, lieber Heinrich, ist kein Kraut gewachsen“.

Luise aß kaum noch und bestand bald nur mehr aus Haut und Knochen. Sie schleppte sich durch den Tag und der einzige Grund warum sie morgens noch die Augen öffnete, waren ihre Kinder. Eines Morgens, kurz vor Herbstbeginn, schlief sie jedoch für immer weiter.

Lupold begrub sie hinter dem Haus. Das schiefe Holzkreuz, das er auf ihr Grab setzte bewies sein Ungeschick für Handwerkliches.

„ Gott hat Mutter zu sich geholt“, war die knappe Erklärung für den sechsjährigen Heinrich und die vier jährige Sophie.

In den nächsten Tagen kamen immer wieder Nachbarn vorbei, um ihr Beileid zu bekunden, ließen was sie entbehren konnten an kleinen Gaben, da und strichen den Kindern mitleidig über die Wangen.

Heinrich konnte nicht verstehen, warum Gott seine Mutter geholt hatte, wo sie hier doch viel dringender gebraucht wurde. Er vermisste sie so sehr, sehnte sich nach ihrer weichen, warmen Umarmung und wollte ihren fantasievollen Geschichten lauschen. Warum ließ Vater sie draußen in der kalten Erde liegen und nicht hier, in ihrem Bett in der warmen Stube?

Er ging nach draußen und starrte lange auf das Grab. Dann wurde er zornig.

„ Gib Mutter wieder her“! schrie er und schlug mit seinen kleinen Fäusten in die Luft. Wenn er diesen Gott schon nicht sehen konnte, dann wollte er ihm wenigstens ein paar Prügel verpassen.

„Gib sie her!“ rief er wieder und dicke Tränen rannen über seine runden Wangen. Er hieb und trat schluchzend in die Luft und mit jedem Schlag befreite er sein kleines Herz vom großen Schmerz.

Lupold bemühte sich aus ganzem Herzen ein guter Vater zu sein. Jeden Tag versuchte er den Kindern wenigstens eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu bringen, doch auch zum Kochen besaß er nur mäßiges Talent. Der kleine Heinrich und seine Schwester halfen wo sie konnten, doch die Arbeit am Hof und auf dem Feld, schien mehr und mehr zu werden, für Lupold kaum mehr zu bewältigen. Die Felder verwahrlosten zum Teil und im Wohnhaus begannen sich Ratten breit zu machen.

An einem eiskalten Sonntag Ende Februar, besuchte Lupold mit Heinrich und Sophie die heilige Messe im Ort. In mehrere Schichten warmer Kleidung eingepackt, stapften sie durch den schmutzigen, gefrorenen Schnee. Es war eine der seltenen Tage an denen die kleine Familie Zeit fand der Sonntagspredigt von Pater Paul beizuwohnen. Heinrich saß wie immer seit dem Tod der Mutter, stumm und unbeteiligt auf der Kirchenbank. Er hatte sich geschworen, nie wieder ein Wort mit Gott zu wechseln.

Nach der Messe versammelte sich die kleine Gemeinde vor der Kirche, um den neuesten Tratsch miteinander auszutauschen. Heinrich, Sophie und die anderen Kinder spielten fangen. Wie kleine Drachen stieß ihr Atem beim laufen kleine Wölkchen in die Luft. Der Himmel war grau verhangen und es roch nach Schnee. Rosa, die Frau eines benachbarten Bauern, trat an Lupold heran. Die Nase und die Wangen der mageren Frau waren gerötet von der Kälte und sie hielt einen dicken Wollschal um die Schultern geschlungen.

„ Poldi, du weißt ich meins gut. Du solltest den Vorschlag vom Eder-Bauer annehmen und seine Cousine heiraten. Die junge Witwe ist aus gutem Haus, anpacken kann´s und gut ausschauen tut sie auch. Poldi, sei vernünftig! Die Kinder brauchen eine Mutter und du brauchst a Frau“. Sie drehte sich um und ließ Lupold stehen. Lupold blieb mit gesenktem Kopf und den Händen in den Hosentaschen zurück. Er murmelte etwas Unverständliches und trat dann gegen einen Stein. Man sah ihm den Unmut über Rosas Worte an.

„ Kommt Kinder, wir gehen“! rief er knapp, wandte sich um und stapfte davon.

Drei Wochen später saß Lupold mit den Kindern früh morgens am Tisch und kaute an einer harten Kante Brot. Er starrte stumm und lange auf die Tischplatte. Kurz entschlossen sprang er plötzlich auf, warf das Brot hin, holte seine Jacke, schloss die Haustür ab und ohne ein Wort zu sagen, ging er.

Fünf Stunden später kehrte er zurück, mit Maria.

Der Vater stellte den Kindern die Fünfundzwanzigjährige wenig einfühlsam als seine zukünftige Frau und ihre neue Mutter vor. Maria hatte freundliche, braune Augen und eine kleine Nase in einem runden Gesicht. Ihre zart roten Lippen waren schön geformt und ihre Wangen zeigten zwei kleine Grübchen, wenn sie lächelte. Aus ihrer Haube drängten sich lange, braun gelockte Strähnen und sie roch gut. Maria begrüßte die Kinder mit einer kurzen, aber herzlichen Umarmung. Sophie war sofort von ihr hingerissen und wich nicht mehr von ihrer Seite. Es dauerte eine Weile, bis auch Heinrich begriff, dass Maria ein Segen für sie alle war.