Heinrich die Suche

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DER SCHATTEN

Heinrich saß der Schreck noch in allen Gliedern. Er kniff die Augen zusammen und spähte in die Finsternis. Der Schatten, den er gesehen hatte, war verschwunden. Er war eins geworden mit der Dunkelheit und hinterließ die eisige Luft erkalteter Seelen. Es war ein Moment, in dem Heinrich überzeugt war, den Atem der Hölle gespürt zu haben.

„ Ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber ich kann dich fühlen.“ flüsterte er und bewegte sich vorsichtig, rückwärts auf die Eingangstür zu. Immer wieder hielt er Ausschau nach etwas Verdächtigem, doch nichts war zu sehen.

Er drehte sich um und starrte auf den schmalen Lichtstreif unterhalb der Tür seines Hauses.

Da raste aus dem Nichts ein blauer Funke heran und schlug wie ein Blitz neben Heinrich in den Boden. Gleich darauf fegte ein Sturm durch den Burghof, der ihn beinahe von den Beinen riss.

Heinrich klammerte sich mit aller Kraft am Türrahmen fest und stemmte sich gegen den Wind. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren.

„ Was willst du von mir?“ schrie er, doch das Tosen des Sturms verschlang seine Worte.

„ Ich werde nicht zulassen, dass dieser Familie etwas geschieht! Nicht, solange ich lebe!“

Der Sturm zerrte an seinen Kleidern und seinen Haaren, sodass Heinrich Mühe hatte sich festzuhalten. Er biss sich auf die Lippen und zog sich mit aller Kraft zur Tür.

Rasch drückte er sie auf und zwängte sich durch einen Spalt ins Haus.

Erschöpft lehnte er sich von innen mit dem Rücken gegen die Tür. Sein Brustkorb hob und senkte sich. In der Mitte des Raumes stand Franziska mit bleichem Gesicht, die Kinder fest an sich gedrückt. Sybilla weinte.

Conrad ließ seine Mutter los und kam auf ihn zu.

„Alles in Ordnung, Vater?“

„ Alles in Ordnung, Sohn.“ keuchte Heinrich.

Draußen hatte sich der Sturm so plötzlich gelegt, wie er gekommen war.

Es herrschte wieder Totenstille im Hof.

Vorsichtig löste Heinrich den Arm Franziskas von Sybilla und hob das Mädchen hoch. Die Kleine vergrub ängstlich ihr Gesicht in seiner Halsgrube.

„Was war das?“, fragte Franziska mit zittriger Stimme und legte die Stirn in tausend Sorgenfalten.

Heinrich streichelte beruhigend ihre Wange.

„Ich kann es dir nicht sagen, aber ich kann es fühlen und ich weiß, dass es sich noch in unserer Nähe befindet.“

Er drückte Franziska das Kind in die Arme und wandte sich zu Conrad.

„ Du musst jetzt sehr tapfer sein. Ich brauche deine Hilfe.“

„ Was kann ich tun?“

„ Verriegle die Tür und alle Fenster. Ich werde oben alles verschließen.

Es muss alles dicht sein, sodass niemand mehr herein kann. Beeil dich.“

Es war eine schwüle Nacht. Heinrich, Franziska und Conrad saßen mit verschwitzten Kleidern in der Stube und warteten. Sie warteten mit angespannten Nerven darauf, dass etwas passieren würde.

Sybilla saß auf Franziskas Schoß. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken und sie atmete regelmäßig.

Plötzlich vernahmen alle ein leises Geräusch. Ein Klirren.

Heinrich hielt den Atem an und lauschte.

„ War das der Wind?“, fragte Sybilla verschlafen.

„ Ja, Schätzchen. Das wird wohl der Wind gewesen sein.“ antwortete Franziska.

Ihre Stimme zitterte unmerklich.

Dann wieder.

Ein Scharren. Rascheln.

„ Oh Herr im Himmel“; sagte Franziska. Sie presste die Hand vor den Mund und starrte Heinrich mit weit aufgerissenen Augen an.

Etwas schabte an der Hauswand entlang.

Conrad spürte sein Herz im Hals schlagen. Sybilla wimmerte leise.

Heinrich schloss die Augen und bündelte seine ganze Konzentration auf das Geräusch vor dem Haus.

Wieder dieses Kratzen an der Wand, dieses Mal höher.

Franziska, Conrad und Sybilla sahen Heinrich erwartungsvoll an. In ihren Augen war nur pure Angst zu sehen.

„Es ist wieder da“, sagte Heinrich.

„ Es versucht, hier hereinzukommen.“

DAS FEUER

Wenig später hörten sie von oben ein Prasseln und Knacken.

Heinrich sprang auf und schnupperte in der Luft.

„ Mir kommt es vor, als würde ich Rauch riechen“, sagte er.

Franziska schnupperte ebenfalls.

„ Tatsächlich, ich rieche es auch.“

Jetzt drang deutlich Brandgeruch in die Stube ein.

„ Feuer!“ schrie Heinrich.

Kurz darauf war der Raum voller Rauch.

„ Das Dach brennt! Alle raus hier!“, rief Heinrich entsetzt.

Conrads Herz begann wie wild zu schlagen. Mit jedem Atemzug sog er den Rauchgeruch ein. Wie ein gehetztes Tier blickte er um sich und wusste nicht, was er tun sollte, während Heinrich Franziska und Sybilla zur Tür drängte.

Es rumpelte und krachte, als Conrad nach oben blickte.

Das Feuer hatte bereits ein großes Loch in das strohgedeckte Dach gefressen und bildete einen roten Kreis vor dem schwarzen Hintergrund des nächtlichen Himmels.

„Was sollen wir tun?“, rief Conrad seinem Vater zu. Panik drohte ihn zu ergreifen.

„ Unser ganzes Haus wird abbrennen! Wir müssen das Feuer löschen!“

„ Raus, hab ich gesagt. Schnell!“, herrschte ihn sein Vater an.

Er hielt Sybilla an einer Hand und Franziska an der anderen.

Mit sanfter Gewalt stieß er sie zur Tür hinaus. Conrad stand wie angewurzelt und starrte auf das brennende Dach.

„ Isabella!“, schrie Sybilla und riss sich von ihrer Mutter los.

„ Ich habe Isabella vergessen!“

Sie wollte zurück ins Haus laufen, doch Heinrich fing sie wieder ein und klemmte sich das zappelnde und schluchzende Mädchen wie einen Sack Mehl unter den einen Arm und mit dem anderen hielt er die Tür auf.

„ Komm jetzt, Conrad, bevor es zu spät ist“, rief Heinrich und schlüpfte mit der schreienden Sybilla durch die Tür ins Freie in der Meinung, dass sein Sohn ihm folgte.

Doch Conrad zögerte, denn er sah Isabella, Sybillas Puppe, die ihr Mama genäht hatte, auf dem Tisch liegen. Er lief hin, ergriff die Puppe und steckte sie vorne in sein Hemd.

Damit verlor er kostbare Sekunden.

Dann krachte es erneut.

Conrad zuckte zusammen und als er nach oben blickte, sah er einen riesigen Balken, der herab fiel, sich mehrmals um sich selbst drehte und mit solcher Wucht auf den Boden aufschlug, dass die Wände des Hauses erzitterten. Ein Funkenregen und glühende Asche folgten nach. Conrad sprang im letzten Moment zurück und riss instinktiv die Arme schützend über den Kopf. Ein paar Funken trafen seine Kleidung und brannten kleine Löcher hinein. Gesicht und Haare blieben zum Glück verschont. Als er die Arme wieder herunternahm, starrte er voller Entsetzen auf eine Feuerwand. Vor ihm lag der brennende Balken und versperrte ihm den Weg zur Tür. Die Luft wurde jetzt so heiß, dass sein Gesicht und seine Augen schmerzten. Nun fingen auch die Möbel und das Stroh, mit dem der Boden ausgelegt war, Feuer. Rund um Conrad züngelten die Flammen hoch.

Er war gefangen.

Der beißende Rauch brannte in seinen Augen und in seiner Lunge. Er fühlte die unerträgliche Hitze des Feuers auf seiner Haut. Das alles war so unwirklich, ein Albtraum......

„Ich sterbe.. ich verbrenne“, dachte Conrad und versuchte taumelnd einen Weg durch die Feuerwand zu finden.

Doch überall schlug ihm glühende Hitze entgegen.

Es war aussichtslos.

Jetzt hatte er Todesangst.

Als ihn ein heftiger Hustenanfall überfiel, geriet er ins Stolpern und fiel auf die Knie. Plötzlich hörte er seine Mutter und seinen Vater von weit her und verweht seinen Namen rufen.

Am liebsten hätte er losgeheult.

„Mama!“, brüllte er wie von Sinnen und in dem Schrei lag die ganze tiefe Verzweiflung seines Herzens.

Das Tosen des Feuers schwoll an und wurde lauter und lauter. Immer wilder schlugen die Flammen empor.

Vor Conrads Augen war alles nur mehr eine rotgelbe Feuersbrunst.

Einmal mehr versuchte er die Panik niederzukämpfen und starrte wieder zur Decke hinauf. Dort oben war nur noch ein Flammenmeer.

Angstvoll blickte er um sich, doch seine Augen tränten so sehr, dass er kaum noch etwas sehen konnte.

Einen Augenblick lang glaubte Conrad im Rauch eine verzerrte Gestalt wahrgenommen zu haben. Oder war es seine Fantasie, die ihm einen Streich gespielt hatte?

Da packte ihn von hinten eine Hand und hielt ihn an der Schulter fest.

Namenloses Entsetzen ergriff Conrad.

„Jetzt ist alles aus“, dachte er und schloss die Augen.

Conrad war bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben.

Er wurde hochgehoben und davongetragen. In seinen Ohren dröhnte das Tosen der Feuersbrunst und dann brach die ganze rechte Seite des Dachstuhls ein.

Doch Conrad war nicht mehr in Gefahr. Sein Retter schleppte ihn schwer atmend und schweißüberströmt ins Freie, wo sie gemeinsam in sicherer Entfernung zur Erde fielen.

„ Er hat ihn! Gott sei Dank, er hat ihn!“, hörte er die Stimme seiner Mutter vor Freude und Erleichterung rufen.

Conrad öffnete die Augen und sah verblüfft Bertram ins Gesicht, der ihn noch immer fest hielt. Es roch versengt und Conrad sah Kratzer und Russspuren auf seinem Gesicht. Um den Kopf hatte er ein nasses Tuch wie einen Turban geschlungen. Behutsam ließ er Conrad los.

„ Na, alles klar, Hasenfuß?“, lächelte Bertram und zog sich mit einer schwungvollen Bewegung das Tuch vom Kopf. Er schüttelte die nassen Locken und zwinkerte Conrad schelmisch zu.

„ Ich....., ich......,“ stotterte Conrad, kam aber nicht mehr dazu einen vollständigen Satz zu formen, denn Franziska hatte ihn erreicht und fiel vor ihm auf die Knie. Sie drückte ihn so heftig an sich, dass ihm die Luft weg blieb. Ihr Kopf war unbedeckt, ihr Haar zerzaust und sie weinte Tränen der Freude. Immer wieder strich sie Conrad übers Gesicht, dann drehte sie den Kopf und rief Heinrich, der mit Sybilla angerannt kam, zu:

 

„ Es ist alles in Ordnung! Heinrich, er lebt! Unser Sohn lebt!“

Conrad zog die Puppe aus seinem Hemd und hielt sie grinsend seiner Schwester entgegen. Isabella war unversehrt.

Sybilla flog ihrem Bruder in die Arme und drückte die Puppe überglücklich an ihre kleine Brust.

Heinrich stand für einen langen Moment nur da, um zu begreifen was er sah.

Dann begannen seine Schultern zu zucken. Ein Weinkrampf schüttelte ihn und er schlang seine Arme um seine Familie.

Es dauerte Minuten, bis seine Schultern aufhörten zu zucken.

Das laute, drängende Läuten der Feuerglocke ließ alle aufschrecken. Erst jetzt bemerkte Conrad, dass sich alle Bewohner der Burg auf den Beinen befanden. Mit Wassereimern versuchten sie das brennende Haus zu löschen, um das Übergreifen der Flammen auf die anderen Gebäude zu verhindern. Herabstürzende Balken zerbarsten in tausend Stücke und überall brannten kleine Feuerchen. Alle liefen aufgeregt und schreiend durcheinander. Die Hitze war jetzt auch im Burghof deutlich spürbar.

Heinrich hatte sich wieder gefangen, richtete sich auf, holte tief Luft und straffte die Schultern. Entschlossen nahm er wieder die Führung auf.

„ Bertram, kommt! Wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren.“

Mit lauter Stimme rief er die Bewohner zusammen, erteilte Befehle und ordnete das Chaos.

„ Bertram und ich stellen uns so nahe es geht zum brennenden Haus.

Die anderen in einer Reihe bis zum Brunnen hinter uns. Wir bilden eine Menschenkette und reichen die Wassereimer durch. So geht es schneller!

Justinian, Sebastian ihr zählt alle, damit wir wissen, ob jemand fehlt und haltet Ausschau nach Verletzten!

Agnes, bring die Kinder hier weg, ins Haupthaus, da seid ihr sicher!“

Das Feuer hatte seinen Höhepunkt erreicht und die Flammen leckten bereits am Dach des Wehrgangs, der Heinrichs Haus mit dem Bergfried (Beobachtungsturm) verband. Das Getöse wurde lauter und lauter. Voller Entsetzen beobachtet Conrad, dass das ganze Haus sich ächzend, ein Stück nach vorne neigte und dann mit ohrenbetäubenden donnern und krachen in sich zusammenstürzte. Ein Schwall glühender Holzstücke regnete auf alle Umstehenden herab.

„Gott steh uns bei“, flüsterte Franziska und bekreuzigte sich.

Sie half Conrad auf die Beine und nahm Sybilla, die mit weit aufgerissenen Augen auf das Feuer starrte, bei der Hand.

Gerade als die drei Agnes und den anderen Kindern ins Haupthaus folgen wollten, rief jemand aus der Menge:

„Da seht! Der Herr hat Erbarmen mit uns!“

Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach oben und alle wandten ihre Köpfe zum Himmel.

„ Ein Wunder!“, rief einer.

„ Der Herr hat unsere Gebete erhört!“, schrie ein anderer.

„ Heilige Muttergottes!“, rief eine Frau, schlug ein Kreuz und weinte.

Andere umarmten sich und hüpften auf der Stelle.

Dann begann es zu regnen.

Heinrich starrte in den nächtlichen Himmel, der mit tiefschwarzen Wolken verhangen war und wurde fahlweiß. Zwischen der Dunkelheit erwachte eine pulsierende, zuckende Helligkeit zum Leben und formte sich zu einer Frauengestalt mit wehenden Haaren, gehüllt in ein langes, weißes Gewand.

„Gertrud“, Ihr Name war kaum mehr als ein Hauch, der über Heinrichs Lippen kam.

Blitze zuckten und schufen ein wirres Durcheinander von Farben, in dem Gertruds Gestalt wie eine Insel der Ruhe mitten am Himmel stand. Sie lächelte.

Heinrich fühlte, wie ihm dieser Anblick die Kehle zuschnürte und die Welt ein Stück zurücktrat. Alles rund um ihn verstummte und verlangsamte sich. Überdeutlich vernahm er dann die Stimme Gertruds vom Himmel herab.

„ Erinnert Euch an unseren Stein! Nur seine Macht kann euch vor dem Bösen schützen!“

Heinrich zuckte zusammen und sah sich verstohlen um, doch Franziska starrte nur mit rot geweinten Augen auf die brennenden Reste ihres Hauses. Die Kinder und auch sonst niemand außer ihm schien die Gestalt am Himmel wahrzunehmen. Heinrich schaute wieder hoch und plötzlich waren die bunten Lichter überall. Gertruds langes Haar strebte auseinander und wirkte wie goldene Flammen, die in einem rhythmischen Auf und Ab den ganzen Himmel in Brand setzten.

Danach begann sich Gertruds Gestalt langsam aufzulösen, ihr Lächeln verblasste und sie verschwand hinter dem dichten, schwarzen Wolkenband, das den nächtlichen Himmel überzog.

Wieder zuckten Blitze durch die Nacht und rissen Heinrich aus seiner Starrheit. Der Wind peitschte den Regen in die Gesichter der Menschen, Regenböen fegten über den Burghof und die Flammen wurden kleiner und kleiner, bis sie ganz erstarben.

Aber alle jubelten vor Freude und tanzten im Regen.

Nur Heinrich nicht. Er konnte nicht fassen, was da geschah.

Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck großer Verwirrtheit. War er gerade dabei, verrückt zu werden? Wieder war ihm Gertrud erschienen und hatte zu ihm gesprochen. Sie hatte den Stein erwähnt- ihren Stein. Nein, das war kein Streich seiner überreizten Fantasie. Sie hatte den Regen gebracht und die Burg samt ihren Bewohnern vor großem Unglück bewahrt. Es war, als hielte die Gräfin von Falkenstein noch im Tode ihre schützende Hand über ihr einziges Kind und der Liebe ihres Lebens. Heinrich blickte zum Schlossturm hinauf, der wie ein dunkler Fingerzeig in den Himmel ragte. Darüber zuckten Blitze und ihr kurzer, greller Saum blendete ihn. Seine vom Regen durchnässten Kleider klebten an seiner Haut und er ballte die Hände zu Fäusten. Eine beunruhigende Vorahnung machte ihm klar, dass dies der Anfang eines langen, beschwerlichen Weges war. Er stand da und starrte auf den Trümmerhaufen, der einst sein Haus gewesen war, Franziska und die Kinder schweigend neben ihm.

„ Wer oder was dies alles verursacht hat, bei Gott, ich werde es herausfinden“, flüsterte er.

NEUER ANFANG

Heinrich versammelte alle im Rittersaal und befahl ein Feuer anzuzünden.

Erst jetzt bemerkte er, dass es allmählich zu tagen begann.

„ Agnes, Margarete! Richtet für alle einen warmen Brei und heiße Honigmilch für die Kinder“, befahl er.

Die Köchin und ihre Tochter machten sich sofort an die Arbeit.

Auch der Graf war aufgewacht und in den Saal gekommen. Er erteilte die Erlaubnis ein Fass starken Weins zu öffnen und bediente sich als erster daran. Bald waren alle versorgt und Heinrich verließ den Rittersaal.

„ Wartet auf mich, Heinrich!“, rief Bertram ihm nach und folgte ihm.

Es hatte aufgehört zu regnen und durch den grauen, mit Wolken verhangenen Morgenhimmel versuchte die Sonne durchzubrechen. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, stiegen die beiden Männer die Wendeltreppe des Wehrturms hinauf. Oben angekommen, atmete Heinrich tief durch. Ein leichter Luftzug ließ den Schweiß auf seiner Haut eiskalt werden und jagte ihm einen kurzen Schauer über den Rücken. Tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf und er stützte sich mit den Händen auf die Zinnen. So oft schon hatte er hier oben gestanden, ratlos oder verwirrt und jedes Mal hatte er durch diesen atemberaubend schönen Ausblick wieder neue Kraft geschöpft. Ungehindert konnte er seinen Blick über das Gebiet schweifen lassen und wie immer beschlich ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Überall erstreckten sich wilde Wälder und Auen und die Donau bahnte sich mit ihren zahlreichen Nebenarmen einen natürlichen Weg durch diese märchenhafte Landschaft. Der Bisamberg, Endpunkt der Ostalpen und die kleine, donauseitig gelegene Ortschaft (Lang) Enzersdorf, waren schon vor langer Zeit seine Heimat geworden.

Heinrich seufzte tief.

Er fühlte die kühle Luft vom Wald her und Morgentau lag auf dem hohen Gras. Zu dieser Stunde erwachte auch gerade auf der anderen Seite der Donau die kleine Stadt Wien. Heinrich wusste, dass sich in weniger als einer halben Stunde die wirren, engen Gassen mit Menschen und Tieren füllen würden, deren Ausdünstungen und Geräusche sich tief in seinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Dem Stadtleben konnte Heinrich nichts abgewinnen. Er war schon in vielen großen Städten gewesen, doch es hatte ihn immer wieder hierher zurückgezogen, auf die Burg Falkenstein.

Hier fühlte er sich wohl. Hier war sein Zuhause.

„Die Nordwand zum Haupttor wird erneuert werden müssen“, brach Heinrich das Schweigen.

„ Die Pechnasen (durch diese wurde heißes Wasser oder Öl auf Angreifer geschüttet) und das Nebentor haben nichts abbekommen. Der Wehrgang muss auch überprüft werden. Ich werde heute noch einen Boten in die Stadt auf den hohen Markt, zu den Zunfthäusern der Steinmetze und Zimmermannleute schicken. Die Mauer und das Haus sollten so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden. Wir brauchen bis zum Winter ein Dach über den Kopf.“

„ Ihr solltet zuerst mit meinem Vater darüber sprechen“, antwortete Bertram.

„ Euer Vater“, seufzte Heinrich und zog verächtlich die Mundwinkel herab.

„ Nach diesem Frühstück wird er wohl kaum in der Lage sein....“

„Vorsicht, Heinrich, ihr sprecht von meinem Vater, dem Grafen Willhelm von Falkenstein“, warnte Bertram.

Er wusste, wie Heinrich über seinen Vater dachte und darum bemühte er sich um einen heiteren Tonfall, als er weiter sprach.

„Er ist immer noch der Herr dieser Burg und ihrer Ländereien. Wir müssen seine Entscheidung abwarten.“

„ Aber das kann Tage dauern“, protestierte Heinrich verhalten.

Heinrich hatte Recht, das konnte Bertram nicht leugnen und er nickte. Längst schon hätte er, der junge Graf von Falkenstein, stellvertretend für seinen Vater, die Rolle des Führers übernehmen sollen, doch er hütete sich davor den Zorn des Greises zu erregen. Der Mann konnte nach wie vor hart und unerbittlich sein. Es war nur der Wortgewandtheit und Diplomatie seines väterlichen Freundes Heinrich zu verdanken, dass das Leben in - und außerhalb der Burg nicht aus den Fugen geriet.

Bertram legte die gekreuzten Arme auf die Zinnen und sah nachdenklich in die Ferne.

„ Wisst Ihr noch?“, nahm Heinrich das Gespräch wieder auf.

„Mit sieben wollte Euer Vater Euch als Page an einen fremden Hof schicken. Ihr wart noch so klein und mager.“

„ Ja, ich weiß,“ murmelte Bertram.

„Ihr habt es verhindert und Vater dazu überredet, dass er Euch meine Erziehung überlässt.“

„ Richtig, und mit vierzehn wurdet ihr in den Stand eines Knappen erhoben.“

Bertram wandte den Kopf und in seinen Augenwinkeln stand ein Lächeln.

„ Ich erinnere mich. Damals konnte meine Stimme kaum ihre Lage halten. Es war schrecklich.“

Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

Heinrich nickte und erwiderte das Schmunzeln.

„Und endlich nach vierzehn Jahren Ausbildung habt Ihr in der „Schwertleite“ den Ritterschlag bekommen, mit ihm das Recht ein Lehen zu erhalten und im Turnier mitzukämpfen. Ihr seid ein außergewöhnlich hübscher, kräftiger junger Mann geworden und ich bin stolz auf Euch und all Eure Fähigkeiten. Aber wo war Euer Vater?“

Bertram wandte den Kopf ab, aber nicht schnell genug, um den Schmerz in seinem Gesicht zu verbergen.

„ Er ließ Euch damals durch einen Boten mitteilen, er könne der Zeremonie nicht beiwohnen, da eine schlimme Krankheit ihn ans Bett fesselte. Wer ihn wirklich ans Bett fesselte, wissen wir, nicht wahr, mein junger Freund?

Eine junge Mätresse war dem Vater wichtiger als sein eigen Fleisch und Blut.“

Längst vergessener Schmerz einer tiefen Enttäuschung stieg in Bertram auf und füllte seine dunklen Augen.

Einen kurzen Moment war Heinrich versucht, Bertram zu umarmen. Er bezwang seine Rührung und sprach weiter.

„ Warum ich Euch jetzt mit der Vergangenheit quäle, Bertram, hat einen Grund.“

Der Junge wandte sich um, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Mauer.

„ Ich habe Euer Vertrauen in all den Jahren nie missbraucht, junger Freund.“

Bertram nickte zustimmend.

„ Doch jetzt werde ich Euch von einem höchst sonderbaren Vorfall berichten.“

Heinrich hielt kurz inne und sah in den Burghof, auf den Trümmerhaufen hinunter.

 

„ Man wird mich und meine Familie dafür verantwortlich machen. Von uns trägt aber keiner Schuld an dem Brand.“

Wieder machte er eine kurze Pause, wog seine Worte genau ab und sprach weiter.

„Gestern Abend, nach dem Essen, habe ich im Burghof ein..., einen Schatten gesehen. Irgendetwas war da, ich weiß es genau. Es ist um unser Haus geschlichen. Wir haben es alle gehört. Es war so......kalt, so.....eisig. Als wäre es nicht von dieser Welt. Ich kann es Euch nicht besser beschreiben.“

Bertram zog die Augenbrauen hoch und musterte Heinrich ernst. Ihre Blicke trafen sich und Bertram erschrak, denn er sah Furcht in diesen seltsam blauen Augen.

„ Was redet ihr da?“

Heinrich hob abwehrend die Hand.

„ Nein, unterbrecht mich bitte nicht. Während des Gewitters heute Nacht erschien mir Eure Mutter und rief mir eine Warnung zu. Ja, ja, ich weiß, wie seltsam das klingt, aber sie war mir schon zwei Nächte davor im Traum erschienen und hatte mich vor etwas gewarnt, das Euch bedrohen würde.“

Bertram schwieg. Er schüttelte die langen, braunen Locken. Das konnten doch unmöglich die Worte jenes Mannes sein, der alles, was andere als Magie bezeichneten, Betrügereien und miese Tricks nannte.

„ Wollt gerade Ihr mir sagen, Ihr hättet einen Geist gesehen?“ Er betrachtete Heinrich mit einem abschätzenden Blick.

„ Ja,“ war Heinrichs knappe Antwort, dabei hielt er dem Blick Bertrams stand.

Der Dreiundzwanzigjährige stieß sich von der Mauer ab und machte zwei Schritte auf Heinrich zu. Den Ellenbogen auf den anderen Unterarm gestützt, drückte er den Zeigefinger auf die Lippen und dachte kurz nach.

„ Ihr wollt Euch über mich lustig machen?“

„ Dafür ist wohl jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“

Bertram legte den Kopf schief und drohte mit dem Zeigefinger.

„ Ziemlich gefährliches Gebiet für einen Ungläubigen.“

Heinrich antwortete nur mit einem Stirnrunzeln.

Bertram konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken.

„ Also gut, Ihr habt den Geist meiner Mutter gesehen und mit ihr eine kleine Unterhaltung geführt. Ich hoffe, dass Pfarrer Ludwig Euch morgen in seine Gebete aufnimmt, obwohl Ihr nie seine Messe besucht.“

„Er wird es nicht erfahren, denn ich bitte Euch, mit niemandem darüber zu sprechen.“

„ Also gut, ich werde kein Wort zu jemandem sagen. Lasst uns aber jetzt über wichtigere Dinge sprechen.“

Heinrich konnte den Spott in seiner Stimme nicht mehr länger überhören und warf ihm einen drohenden Blick zu.

„ Das ist kein Spiel und auch kein Scherz!“

Er packte Bertram nicht gerade sanft am Arm.

„ Habt Ihr denn gar nichts bemerkt? Kurz, nachdem wir den Saal verlassen hatten, fegte ein gewaltiger Sturm durch den Burghof.“

Er sah Bertram erwartungsvoll an, doch der schüttelte nur den Kopf.

„ Ihr müsst mir versprechen, äußerst wachsam zu sein. Ich fürchte, dass gefährliche Zeiten auf uns zukommen.

Eure Mutter hat Euch sehr geliebt. Es ist die einzige Erklärung, die ich habe um zu verstehen, warum sie aus dem Totenreich zurückgekehrt ist. Sie will EUCH schützen!“

Bertram hob begütigend die Hand.

„ Schon gut. Ich habe ja schon versprochen aufzupassen.“

Heinrich nickte ernst und ließ Bertrams Arm los. Ohne ein Wort wandte er sich ab und ging.

Bertram lief ihm nach, überholte ihn und lief rückwärts vor ihm her.

„ Heinrich, erlaubt mir ein paar Fragen. Was haltet ihr von Schlangensteinen, Drachenaugen und all den anderen Zaubersteinen?“

„ Nichts weiter als buntes Glas aus Italien“, antwortete Heinrich trocken.

„ Und was haltet ihr von Zaubertränken und diversen Elixieren?“

„ Alles erklärbar, wenn man sich in der glücklichen Lage befindet eine Alchemiekammer, einen Destillierkolben, Verschlackungspfannen, einige Gläser mit Kräutern, duftende Flüssigkeiten, Schwefel und ein Kohlebecken zu besitzen.“

Bei dieser Antwort lächelte Bertram.

„ Wie sieht es aus mit Drachen, Feen und Hexen?“

„ Haarsträubender Unsinn.“

Jetzt grinste Bertram breit. Er blieb stehen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dabei seufzte er übertrieben laut.

„ Gott sei Dank! Ihr seid nicht verrückt geworden.“

Heinrich war weitergegangen und blieb ebenfalls nach zwei Schritten abprupt stehen. Er wandte den Kopf und zog überrascht eine Braue hoch.

„Hattet Ihr das wirklich gedacht?“

Jetzt musste auch Heinrich lachen.

Er trat auf Bertram zu, legte die Hand auf seine Schulter und sagte wieder ernst:

„Eure Mutter wäre sehr stolz auf Euch gewesen, hätte sie gesehen, welchen Mut Ihr heute Nacht bewiesen habt. Wer weiß, vielleicht war sie ja Euer Schutzengel. Ich habe Eurer Mutter an ihrem Sterbebett das Versprechen gegeben auf Euch aufzupassen und nun habt Ihr meinen Sohn gerettet. Ich stehe tief in Eurer Schuld. Seid Euch gewiss, dass, wenn es sein muss, ich mein Leben geben werde für Eures, so wie Ihr bereit gewesen seid, Euer Leben für Conrad zu opfern.“

In diesem Moment brach die Sonne durch die dichte Wolkendecke und sandte ihre ersten, wirklichen Strahlen voller Licht über das Land. Sie streifte die Berge, die Wiesen, die Baumwipfel und übergoss das ganze Land mit Wärme.

„Ich danke Euch“, sprach Bertram doch der Ausdruck seiner Augen sagte Heinrich wortlos sehr viel mehr.

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