Damals - und die Hoffnung starb zuletzt

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Damals - und die Hoffnung starb zuletzt
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Damals - und die Hoffnung starb zuletzt

1  Titel Seite

2  Damals

3  Vorwort

4  ZWEI

5  SECHS

6  SIEBEN

7  NEUN

8  ZEHN

9  ZWÖLF

10  DREIZEHN

11  VIERZEHN

12  FÜNFZEHN

13  SECHZEHN

14  SIEBZEHN

15  ACHTZEHN

16  NEUNZEHN

17  EPILOG

18  Flucht und Vertreibung

Titel Seite
Impressum
Copyright 2018 (1.Auflage) by Rena Bardorf
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Peter Lindemann

Covergestaltung: Paul Rommel

Rena Bardorf

Damals – und die Hoffnung starb zuletzt

Buch

Eine Liebe unter dem Damoklesschwert

Der härteste Winter seit vierzig Jahren

Eine Odyssee des Grauens

Masuren, Januar 1945. Eine Welt im Strudel des Wahnsinns. Martha Molinskis heimliche, verbotene Liebe zu dem polnischen Zwangsarbeiter Jan wird auf eine harte Probe gestellt, als sie mit ihrer Großfamilie die Flucht von Gut Mantowen antreten muss. Im Schlepptau: Charlotte, ein auf Linientreue eingeschworenes „arisches Glanzlicht“, für das Verrat zu den Tugenden zählt. Nach einer alptraumhaften Irrfahrt durch Masuren haben sie erstmals ein konkretes Ziel: die „Wilhelm Gustloff“ am Pier von Gotenhafen. Doch der Weg führt über das gefrorene Haff – ein Todesmarsch. Und ein weiteres Problem liegt vor den beiden Liebenden: Was wird aus Jan, sollte Martha auf das Flüchtlingsschiff gelangen?

Autorin

Rena Bardorf (bürgerlicher Name: Renate Panja Bartsch) wurde am 22.06.59 in Obererbach (Westerwald) geboren und lebt seit 1980 in Bendorf am Rhein. Schon in jungen Jahren gab es für sie kaum etwas Schöneres, als Menschen mit ihren Erzählungen zu unterhalten, sie zu informieren und in fremde Welten eintauchen zu lassen? Darum nutzt sie, allen Alltags-Turbulenzen zum Trotz, auch jede freie Minute, um ihrer heimlichen Leidenschaft zu frönen: der Schriftstellerei!

Ihre Devise: Das Leben schreibt die besten Geschichten. Man muss nur hinschauen, zuhören und alles geschickt in Worte fassen können.

Damals
-und die Hoffnung starb zuletzt

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Foto by freestockgallery.de
Verlag: Renate P. Bartsch
Im Stein-Reich 12
56170 Bendorf
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das Böse triumphiert allein dadurch,
dass gute Menschen nichts unternehmen

(Edmund Burke 1729 - 1797)

Vorwort

Erinnerungen – es bedarf nicht viel, sie zu erwecken: ein Bild, ein Geräusch, ein Geruch. Der Anblick wogender Getreideähren oder das Gemälde einer Seenlandschaft, eingebettet in sanften Hügeln, dazwischen kilometerlange Alleen, welche die urgemütlichen Ortschaften miteinander verbinden …; das Quaken der Frösche, die sich in unseren Gartenteich verirrt haben …, und schon entstehen Bilder vor meinem geistigen Auge. Zunächst nur schemenhaft, aber schon stellt sich das Gefühl von Wärme und Geborgenheit bei mir ein. Ich schließe die Augen und schnuppere in dem Wissen, dass die Nase das wohl stärkste „Erinnerungsorgan“ ist. Und plötzlich glaube ich ihn wahrzunehmen, den Duft von frisch gemähtem Heu, von Bratäpfeln, der Gaumenfreude des Winters, von Königsberger Klopse in Senfsoße oder von dampfenden Mehlklößen mit geschmolzener Butter oder ausgelassenem Speck. Und unwillkürlich öffnen sich die Schleusen meines Unterbewusstseins; eine Flut von Bildern längst vergan-gener Tage vergegenwärtigt sich und lässt die Grenzen zwischen Zeit und Raum verschmelzen.

Mein Masuren, das Land der tausend Seen, der sanften, fruchtbaren Hügeln und der endlos erscheinenden Wälder – meine Heimat! Nichts auf dieser Welt vermag in mir größere Sehnsüchte zu wecken. Ein Zauber schien einst über dieser ostpreußischen Provinz zu liegen, in dem die Menschen ihren Alltag mit einer an Sturheit grenzenden Gelassenheit meisterten. Vielleicht lag es aber auch an diesem melodischen Dialekt, der zur Verkleinerung oder Vernied-lichung neigte. Einerlei ob Personen oder Gegenstände, im Ostpreußischen endete alles auf –che. Wurde somit aus einem Problem ein Problemche, dann pflegte Frauche zu Mannche zu sagen: „Ärger di erscht am drödde Dag!“

Ach Gottchen, wie sehr ich das alles vermisse: Das Land, die Menschen, die Mentalität und eine Mundart, die mir noch immer in den Ohren klingt, mit der ich allerdings selbst nicht mehr sprechen kann. Und es musste schon der Himmel über uns einstürzen, um all das zu zerstören. Übrig blieb nur die Erinnerung, verbunden mit Wehmut.

Masuren war ein Gefühl, das sich auf ewig in meinem Herzen verankert hat – und welches mich Bodenständigkeit lehrte. „Hol di am Tun (Zaun), de Himmel ös ze hoch!“ Es war nur eine der ostpreußischen Lebensweisheiten, die ich bis heute beherzige – und die mich stets gelehrt hat, demütig mein Schicksal anzunehmen. In schweren Stunden erlaube ich mir noch zeitweise einen Ausflug in die Vergangenheit, hin zu meinen kräftigen Wurzeln, denen die Zeit nichts anhaben konnte.

Welch‘ unbekümmerte Kindheitstage hatte ich in Mantowen, auf diesem paradiesischen Vorwerk verbracht! So viel Liebe und Geborgenheit durfte ich im Kreise meiner Großfamilie erfahren. Unvorstellbar, dass irgendetwas diese Idylle jemals trüben, ja sogar zerstören könnte. Doch dieses Etwas kam und mit ihm das Leid.

Nein, nur nicht darüber nachdenken!

Energisch versuche ich meine Gedanken in angenehmere Bahnen zu lenken. Doch zu spät. Ähnlich eines Damms, der zu bröckeln beginnt, um dann vollends einzustürzen, brechen nun all die vernichtenden Eindrücke, jene unerträglichen Erinnerungen, die ich vor siebzig Jahren in die Tiefen meines Unterbewusstseins verbannt hatte, schonungslos hervor.

Meine Kehle wirkt wie zugeschnürt; der Kloß in meinem Hals droht mich fast zu ersticken.

Haltung bewahren, Martha, Haltung bewahren! Oder besser gesagt „Contenance!“, wie uns Fräulein von Bernheim in Nikolaikens Lyzeum einst unermüdlich einzubläuen versuchte. Du bist eine Ostpreußin, eine Masurin.

Unter Aufbringung aller Willenskraft ringe ich um Selbstbeherrschung. Was bringt es, einer Zeit oder Dingen nachzutrauern, die unwiederbringlich verloren sind. Preußischer Pragmatismus. Mir wurde schon in die Wiege gelegt, die Launen des Schicksals anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Doch eine leise Wehmut gestatte ich mir. Eine Wehmut, die mich dieses Mal zurückführt zu jenem Zeitpunkt, als ich mit Jan die Liebe meines Lebens erfahren durfte – und zeitgleich ein wahrer Alptraum begann.

Vertriebene nennt man uns. Was für eine oberflächliche Bezeichnung! Man denkt an Hühner, die am Abend zu ihren Nestern gescheucht oder an Kühe, die im Herbst von ihren Sommerweiden in den Stall getrieben werden. Doch auf uns wartete keine behagliche Zukunft. Wir waren auf einer Odyssee des Grauens, der Trostlosigkeit, stets im Wettlauf mit einer der hässlichsten Fratzen des Todes.

Damals, als letztlich auch noch die Hoffnung starb.

EINS

Novembertristesse. Bei allem Wohlwollen konnte ich dieser Jahreszeit nichts Positives abgewinnen. Wie eine bleierne Decke hatte sich der Nebel auf unser Land gelegt und schien alle Geräusche zu schlucken. Kein Vogelgezwitscher, kein Froschkonzert. Sogar unsere Hühner und Gänse, allen voran der vorwitzige, angriffs-lustige Ganter Hamilkar, bevorzugten die Wärme und Geborgenheit des Stalles. Nur das rhythmische Klappern des Dreschkastens aus der Scheune und das Hämmern aus der hofeigenen Schmiede drangen gedämpft an mein Ohr. Auch eine aufgeschreckte Krähe war ab und an zu vernehmen.

Ich stand am Küchenfenster und ließ meinen Blick wehmütig über unser Vorwerk schweifen. Es thronte auf einem der sanften Hügel, ein geräumiges, schmuckes Herrenhaus, das von zwei dreißig Meter langen Gebäuden mit Stallungen, Scheune, Speicher und Gesindetrakt flankiert wurde. Dazwischen lag die Hofeinfahrt, markiert durch zwei mannshohe Pfosten aus gebrannten Ziegeln, denen sich zur Linken ein Geräteschuppen und zur Rechten eine Schmiede anschlossen. Von hier aus führte eine Allee schnurgerade hinunter ins Dorf. Inmitten des riesigen rechteckigen Hofes stand eine alte Trauerweide, umrundet von einer Bank mit kunstvollen Schnitzereien auf den Rückenlehnen; ein Steckenpferd meines Vaters, dem er sich in den ruhigen Wintermonaten vor zwei Jahren gewidmet hatte. Den Eingang zum Herrenhaus säumten große Hortensienbüsche, als wollten sie einen jeden willkommen heißen. Auf weitere Blumen vor ihrer Haustür hatte Mutter bewusst verzichtet; manchmal ist weniger mehr. Umso größeren Wert legte sie auf ihren parkähnlichen Garten, dem sie und Kathinka, unsere polnische Hausperle, jede freie Minute ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit widmeten. Das Ergebnis hätte das Herz jedes Botanikers höher schlagen lassen: Im Gemüsegarten wagte kein Unkräutchen zwischen Kräuter und Stecklingen hervorzulugen. Im Obstgarten säumten Blumenrabatte die Wege. Von hier aus führte auch ein Feldweg hinunter zum Salzigsee, dessen glasklares Wasser im Sommer zum Baden oder Angeln und im Winter, wenn eine dicke Eisschicht darüber lag, zum Schlittschuhlaufen oder Eis-fischen einlud.

 

Mein Mantowen, mein Masuren. Hier hatte der Herrgott einen kleinen Garten Eden erschaffen, der selbst IHM zur Ruhe gereichen würde.

Doch von all der Pracht war nun nichts mehr zu sehen. Die kahlen Äste der Trauerweide schienen sich noch stärker zu neigen, gerade so, als würde die Dunstglocke sie niederdrücken. Die noch vor wenigen Wochen leuchtenden Blütendolden der Hortensien waren verwelkt und zeigten sich in hässlichem Rotbraun.

Ich lenkte meinen Blick gen Himmel. Die Sonne, eine milchige, diffuse Scheibe, tat sich selbst zur Mittagsstunde noch schwer, die Nebelschwaden zu durchdringen. Sie nagte zwar an der oberen Schicht des grauen Dunstes, aber ihr diesiges Licht konnte meine Stimmung nicht erhellen. Im Gegenteil! Melancholie legte sich über mich wie ein dunkler Mantel.

Nun war er also endgültig vorbei, der bislang schönste Sommer meines Lebens, der uns noch bis Mitte Oktober mit seiner Wärme verwöhnt hatte. Vorbei die milden Abende, an denen wir nach erledigtem Tagwerk am Ufer unseres Sees saßen, welchen die untergehende Sonne in flüssiges Gold zu verwandeln schien. Völlig hingerissen hatten wir den Fröschen und Wasservögeln gelauscht. Was für eine Idylle, fernab von Krieg, Elend und Leid! In dieser nahezu unwirklichen Zeit sollte ich erfahren, was es heißt zu lieben; was es heißt, mit einem anderen Menschen eins zu werden. In Jans Armen wurde ich erstmals zur Frau, allen Widrigkeiten zum Trotz; denn wahre Liebe schreckt kein Verbot.

Das Storchennest auf dem Giebel des reetgedeckten Herrenhaus‘ war längst verwaist, seine Bewohner schon vor Wochen zu ihrem Winterquartier in südliche Gefilde gezogen, um Nässe und Kälte zu entfliehen. Ich sehnte mich schon jetzt nach ihrer Rückkehr, nach dem vertrauten Klappern ihrer Schnäbel.

„Martha, du bringst uns noch alle in Teufels Küche! Lass gefälligst die Finger von Jan!“, zischte Mutter mit zusammengebissenen Zähnen und riss mich unsanft aus meinen Träumen. Dabei jagte ihr ängstlicher Blick hin zur Küchen-tür, durch die soeben Sonja verschwunden war, um die Männer zum Mittagessen zu rufen.

Unwillkürlich umspielte ein Lächeln meine Lippen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet jene resolute, stattliche Frau, die zehn Kinder zur Welt gebracht hatte und die unerschütterlich, gleich einem Fels in der Brandung, jeder Sturmflut des Lebens zu trotzen wusste, bei der Liebelei ihrer Erstgeborenen ins Wanken gerät? Dabei wusste ich ganz genau, wie sehr sie Jan und die anderen polnischen Helfer schätzte. Sie wurden zwar alle zwangsverpflichtet, auf Gut Mantowen zu arbeiten; für meine Eltern gehörten sie jedoch zur Familie. Anders aber in Sachen Herzens-angelegenheit: Hier zählte nur das staatlich auferlegte Tabu. Ein Verstoß dagegen wurde drakonisch geahndet. Bei Entdeckung unserer Beziehung drohte Jan der Strick; ich hingegen musste bestenfalls mit Lagerhaft zwecks Umerziehung rechnen. Was für eine grausame Welt, in der man Liebe mit dem Tod zu unterbinden gedachte. Und so war es nicht weiter wunderlich, dass Mutter mich mit Argusaugen beobachtete, sobald sich Jan in meiner Nähe aufhielt. Doch hier auf unserem Vorwerk, fernab der nächsten Ortschaft …, wer sollte uns hier wohl denun-zieren? Folglich war Mutters ungewohnte Nervosität völlig unbegründet. Selbst meine kleinen Brüder Lothar und Erwin blickten beunruhigt von ihrem Spiel im Laufstall auf.

„Was gibt’s denn da zu grinsen?“, herrschte Mutter mich an.

„Es ist wegen Sonja“, suchte ich mein Heil im Flunkern. „Jetzt ist sie schon seit einem halben Jahr bei uns und schaut immer noch verwundert drein, wenn ihre Landsleute mit uns zu Tisch sitzen dürfen.“

„Ja sollen wir etwa den schweren Topf in den Schuppen schleppen, jetzt da einheizen und womöglich noch den Tisch eindecken? Blödsinn! Piotr und Stanislaw waren bereits vor dem Krieg Knechte auf unserem Hof gewesen, also lange bevor die Herren in Sensburg sie zu Zwangsarbeiter erklärt haben. Kathinka wurde sogar auf diesem Hof geboren. Schon ihre Eltern standen im Dienste deiner Großeltern. Das ist jetzt sechzig Jahre her. Und Jan und Sonja … was würden wir wohl ohne ihre Hilfe machen? Ist ja schon traurig genug, dass wir sie nicht im Haus unterbringen dürfen und sie mit dem Gesindetrakt Vorlieb nehmen müssen – na ja, immerhin ist es da warm und trocken. Aber essen werden sie hier in der großen Gesindeküche, mit uns zusammen, ohne Wenn und Aber. Das müsste Sonja schon längst kapiert haben“, endete Mutters leidenschaftlicher Appell an die Menschlichkeit. Sie seufzte, schüttelte ungläubig den Kopf und trug mir dann auf, meine Geschwister und Kathinka aus Stall, Scheune oder Waschküche zu holen. Mit anderen Worten: Ich durfte mich erst einmal auf die Suche nach ihnen begeben.

Als ich die Tür hinter mir schloss, atmete ich erleichtert auf. Geschafft! Mutter von brisanten Themen abzulenken, hatten wir Kinder schon recht früh zu einer sportlichen Disziplin erklärt. Denn zu jener Zeit war es undenkbar, den Eltern mit Widerrede oder gar Respektlosigkeit zu begegnen. Es blieb uns nichts weiter übrig, als uns in Ausflüchten zu üben und ihre Schwächen auszuloten. Und Mutters wunder Punkt war eindeutig der gesellschaftliche Status ihrer Haus- und Hofperlen, wie sie unsere polnischen Helfer stets bezeichnete. Besonders jetzt, da Vater die meiste Zeit „nutzlos bei der Ortsgruppenleitung herumlungern musste“, wie er sich oft beschwerte, und Bernhard und Jacob an der Front für Volk und Vaterland tagtäglich ihr Leben riskierten, schienen allein schon Loyalität und Fleiß ihres Gesindes unbezahlbar. Dass sie uns zudem auch noch mit einer Herzlichkeit begegneten, die ihresgleichen suchte, führte Mutter den Wahnsinn des Nationalsozialismus‘ erst recht vor Augen. Da half ihr auch ihr stark ausgeprägter masurischer Pragmatismus nicht weiter. Sie stellte sich - ganz Matriarchin – vor ihre Schützlinge und verteidigte sie wie eine Löwin ihren Nachwuchs. Sogar einen wöchentlichen Obolus steckte sie ihnen heimlich zu. Doch bei dem Gedanken an meine Liebe zu Jan stellten sich ihr vor Entsetzen die Haare zu Berg; die Gefahr war einfach zu groß.

Noch heute sehe ich sie vor mir, wann immer ich meine Gedanken in die Vergangenheit schicke: diese unglaublich schöne Frau, ihre hochgewachsene Gestalt mit den üppigen Rundungen und ihr aufrechter Gang. Eine kastanienbraune, schulterlange Lockenpracht umrahmt ihr apartes Gesicht. Ihr kleiner Mund zeichnet dank der vollen Lippen die Form eines Herzens, sobald sie diese spitzbübisch zusammenpresste. Doch am meisten habe ich sie um ihre großen, stahlblauen Augen mit dem dichten Wimpernfächer und dem offenen, klaren Blick beneidet. Perfekt geschwungene Brauen vollenden das Bild; Aphrodite konnte nicht schöner gewesen sein. Kein Wunder, dass Vater sich in sie Hals über Kopf verliebt hatte. Doch Standesdünkel standen seiner Liebe im Weg. Mutter stammte nämlich aus sehr gutem Hause und hatte sogar ein Lyzeum (Höhere-Töchter-Gymnasium) besucht – ein Bildungsweg, der Jahre später weder mir, noch Else erspart bleiben sollte. Da war es durchaus verständlich, dass meine Großeltern nicht gerade begeistert waren von der Wahl ihrer Tochter. Dennoch obsiegte ihre Liebe, die mit zehn Kindern gekrönt wurde. Eigentlich hätte ich gerade von meiner Mutter mehr Verständnis erwartet.

Ich schien mich in einem schier aussichtslosen Dilemma zu befinden. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Kriegsende herbeizusehnen. Oder sollte ich es eher fürchten? Glaubte man den Meldungen aus Berlin, stand der Endsieg unmittelbar bevor. Andererseits hämmerte uns die Propaganda aus dem Volkempfänger unermüdlich Durchhalteparolen ein. Wozu? Das erfolgreiche Zurückdrängen der Roten Armee im Kreis Gumbinnen wurde zu einem wahren Heldenepos stilisiert. Aber wie konnte ein russischer Brückenkopf überhaupt so weit auf preußisches Gebiet vordringen und in Nemmersdorf Gräueltaten verüben? Oder waren das alles nur Lügen, um zu rechtfertigen, dass man bereits 16Jährige von der Schulbank holte, um sie an die Front abzukommandieren? Mein Gott, sie waren doch noch Kinder; und im Frühjahr sollte auch Hans eingezogen werden. Die Maschinerie der Manipulation lief jedenfalls auf Hochtouren. Doch so oder so: Würde es für Jan und mich eine Zukunft geben?

Mir schwirrte der Kopf, und der dumpfe Schmerz in meinem Nacken mahnte, mich nicht weiter in zermürbende und beängstigende Spekulationen zu ergehen. „Am Ende wird doch noch alles gut; und wenn’s nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende!“, pflegte meine Großmutter zu Lebzeiten stets zu sagen. Bei der Erinnerung daran wurde mir ganz warm ums Herz; neuer Mut keimte in mir auf. Ich atmete tief durch, straffte die Schultern, schüttelte den Kopf, als könnte ich auf diese Weise alle störenden Gedanken vertreiben und machte mich auf den Weg zur Waschküche.

Kurze Zeit später saßen wir alle am riesigen Küchen-tisch. Doch zuvor galt es, in Reih‘ und Glied zur Essenausgabe anzutreten. Mütterchen hatte nämlich schon beizeiten die Vorzüge des Kantinengeschehens für sich entdeckt. Und so löffelten wir nach dem Tischgebet alle brav den deftigen Eintopf: unser fleißiges Gesinde und meine Geschwister Hans, Else, Roland, Emil und Peter. Der 5jährige Lothar wich Piotr nicht von der Seite, und Klein-Erwin saß auf Mutters Schoß; als Dreijähriger musste er hin und wieder noch gefüttert werden. Mir wurde der Platz zu ihrer Rechten angewiesen, damit ihr auch ja keiner der verstohlenen Blicke entging, die Jan und ich gelegentlich tauschten. Dann entfuhr ihr meist ein energisches Hüsteln, was augenblicklich ein unterdrücktes Grinsen auf das Gesicht eines jeden Erwachsenen zauberte.

„Wo bleibt denn nur euer Vater?“, fragte sie rein rhetorisch in die Runde. „Er wollte doch zum Essen daheim sein. Auf nichts kann man sich mehr verlassen.“

„Annchen“, meinte der alte Piotr mit einem Augen-zwinkern. „Du kennst Heldchen von Volkssturm. Bei so nasskalte Wetter die muss aufheize in Wirtshaus.“

Ein Blick von Mutter genügte, um Piotr verstummen zu lassen. Doch plötzlich zuckten ihre Mundwinkel amüsiert und mit einem verständigen Kopfschütteln antwortete sie: „Ja, ja, Piotr, ich hab’s kapiert! Kriegst ja nach dem Essen deinen Schnaps. Ohne Schlubberche schick ich dich bestimmt nicht wieder vor die Tür. Und für die anderen gilt das Gleiche.“

Plötzlich vernahmen wir das Klappern von Pferdehufen und das Rattern eines Fuhrwerks in unserem Hof. „Brrr…, haaalt!“ War das nicht Vaters Stimme?

Neugierig liefen wir zum Fenster; keine zwei Minuten später standen wir draußen vor den Neuankömmlingen: eine alte Frau, ihre Tochter und zwei Kinder.

Augen voll Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit starrten uns entgegen, und gleichzeitig schienen sie durch uns hindurch zu blicken. Die Greisin kletterte überraschend behände vom Kutschbock und half zunächst den Kindern vom Fuhrwerk herunter. Als Vater Anstalten machte, der jüngeren Frau seine Hilfe anzubieten, indem er die Hand nach ihr ausstreckte, wich diese panisch zurück und brabbelte nur noch wirres Zeug.

„Schon gut, schon gut! Wir sind in Sicherheit, mein Kind“, redete die Alte beruhigend auf ihre Tochter ein, deren von zahlreichen Blessuren gezeichnetes Gesicht wieder einen versteinerten Ausdruck angenommen hatte. Mit ihren eingefallenen, blassen Wangen und den dunklen Schatten unter den Augen wirkte sie mehr tot als lebendig.

Mein Vater kam um das Fuhrwerk herum. „Das sind Ida, ihre Tochter Charlotte und die Zwillinge Stefan und Paul. Sie bleiben vorerst bei uns. Kathinka und Sonja, ihr beide richtet oben das große Zimmer für sie her. Piotr, Stanislaw, Jan … ausspannen und Pferde versorgen, bevor ihr ab-ladet!“ Und dann hörte ich, wie er Mutter zuraunte: „Überlebende aus Nemmersdorf. Hab sie unten im Dorf aufgelesen. Völlig neben der Spur, wenn du mich fragst. Et Charlottche konnte zwar ihre Mutter und die Kinder noch in Sicherheit bringen. Sie selbst hatte es allerdings nicht mehr geschafft. Armes Ding! Sie muss durch die Hölle gegangen sein. Wenn man bedenkt, dass der Überfall der Bolschewiken schon drei Wochen zurückliegt und sie immer noch Blessuren hat …“

 

Weiterer Erklärungen bedurfte es nicht. Mutter legte Charlotte kameradschaftlich einen Arm um die Schulter und führte sie ins Haus mit den Worten: „Jetzt gehen wir erst mal ins Warme, und dann gibt’s was zu essen. Ihr seid ja völlig ausgemergelt.“ Als Charlotte müde den Kopf schüttelte und ein „ich kann nicht; hab keinen Hunger“ hauchte, meinte Mutter in ihrer unbeirrbaren Art: „Ach papperlapapp! Du musst wieder zu Kräften kommen, und da gibt’s nicht Besseres als einen Teller Eintopf und Schmalzbrote.“ Und in gemäßigterem Ton fügte sie noch hinzu: „Ich weiß, du hast Schlimmes durchmachen müssen! Du hast es überstanden, du hast überlebt. Was geschehen ist, können wir leider nicht mehr ändern. Aber jetzt musst du nach vorne blicken! Und mit der Zeit wirst du vergessen, was die Schweine dir angetan haben.“

Aus heutiger Sicht mögen Mutters Worte herzlos erscheinen, dennoch waren sie nicht weniger als die typische Überlebensstrategie der Menschen jener Zeit: Tote beweinen, Wunden lecken, dann Schicksalsschläge ver-drängen, nach vorne blicken und dem Herrgott danken für die Chance auf eine hoffentlich bessere Zukunft.

Ähnlich einer Trauergemeinschaft zogen sie die Stufen zur Eingangstür hinauf, mit hängenden Schultern, als würde die Last der Welt auf ihnen ruhen. Ich blieb zurück, fassungslos und desillusioniert. Jetzt waren die Schatten des Krieges auch bei uns angekommen. Diese armen Menschen hatten alles zurückgelassen, was ihnen lieb und teuer war: ihr Zuhause, ihre Heimat. Sie hatten um ihr Leben laufen müssen. Traumverloren blickte ich mich um. Allein der Gedanke, mein geliebtes Mantowen verlassen zu müssen, jagte mir eisige Schauer über den Rücken. Seit Generationen hatte meine Familie aus diesem einstmals bescheidenen Bauernhof ein stattliches Vorwerk geschaffen.

In dem Moment trat Vater vor die Haustür, zündete sich eine Zigarre an und kam schweren Schrittes auf mich zu. Wahrscheinlich hegte er dieselben schwermütigen Gedanken wie ich, denn in seinen Augen schienen sich meine Ängste und Befürchtungen zu spiegeln. Ohne ein Wort zu sagen legte er mir seinen Arm um die Schultern.

„Werden die Russen auch bis zu uns kommen?“, brach ich mit zitternder Stimme das Schweigen.

„Ich weiß es nicht. Aber ich befürchte schon.“

„Aber…aber…“, weiter kam ich nicht. Unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen, die ich energisch zu unterdrücken versuchte, da Piotr und Jan aus dem Stall kamen und sich uns näherten. Haltung bewahren, Martha, Haltung bewahren! Meine Tränen sollten sie nicht sehen. Das verbot mir meine preußische Selbstdisziplin.

„Habt ihr alles erledigt?“, fragte Vater seine treuen Knechte und nach einem zu erwartenden Nicken: „Dann trinkt noch einen Kaffee und raucht von mir aus eine Zigarette oder gönnt euch ne Priese Schniefke, bevor ihr mit dem Dreschen weiter macht. Ach ja, und tut uns allen einen Gefallen und schaut der Frau nicht in die Augen. Sie hat verständlicherweise panische Angst vor Männern. Und sprecht auch die beiden Buben nicht an; sie haben Schreckliches gesehen und gehört.“

„Nemmersdorf?“, fragte Piotr.

„Nemmersdorf.“ So demütig hatte ich Vater noch nie erlebt.

„Dann waren das doch keine Gerüchte? Es wirklich passiert?“ Piotrs Fragen waren rhetorisch. „Diese Schweine. Das keine Männer, das Abschaum. Wie konnte kleines Frauchen das überleben.“

„Ein russischer Kommandant muss dem Spuk wohl ein Ende bereitet haben, nachdem seine Männer schon die halbe Nacht die Frau auf brutal Weise vergewaltigt hatten. Das hat jedenfalls die alte Ida erzählt. Sie selbst und die Kinder befanden sich in einem Versteck im Keller, in einem geheimen Raum, den Idas Mann - Gott hab ihn selig - schon im Ersten Weltkrieg vorsorglich angelegt hatte.“

Ich hatte genug gehört, wollte nur noch weg, drehte mich um und stieß mit Jan zusammen. Er nahm mich in Anwesenheit meines Vaters tröstend in die Arme und sagte leise: „Keine Angst. Dir werden nix passieren. Ich dich immer beschützen.“

„Jan!“, bellte Vater im Kasernenhofton und brachte uns beide somit zur Vernunft.

„Ihr versteht nicht“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Bernhard und Jacob, meinen kleinen Brüder, sind mittendrin. Sie müssen jeden Tag diese schrecklichen Bilder sehen. Und sie sind nicht einmal zwanzig.“

„Die werden schon auf sich aufzupassen wissen. Übrigens –das hätte ich in der Aufregung beinahe ganz vergessen - ich habe Briefe von den beiden mitgebracht. Sie kommen zu Weihnachten nach Hause, Fronturlaub. Die Briefe liegen auf dem Sekretär in der guten Stube. Geh rein, und lies selbst!“

Das musste man mir nicht zweimal sagen. Ich löste mich von der kleinen Gruppe und stürmte förmlich die Stufen zur Eingangstür hoch.

Spät am Abend saßen wir noch am Küchentisch und lauschten entsetzt Idas Bericht. Außer mir durften noch Hans und Else anwesend sein, als uns das Schreckensszenario in Nemmersdorf geschildert wurde: Die Hauptstraße, die zur einzig nennenswerten Brücke in der Gegend über den Angerapp führte, war verstopft mit Flüchtlingen. In Windeseile hatten sie ihre Habseligkeiten auf Treckwagen - und alles was sich ziehen oder schieben ließ - verfrachtet, als die Hölle an jenem 21. Oktober über sie hereinbrach. Gnadenlos zermalmten die Ketten russischer Panzer alles und jeden, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte – oder besser gesagt: Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte. Doch auch in den umliegenden Häusern gab es keine Sicherheit. Nachdem die Panzer gleich dreimal den Treck überrollt und anschließend die Brücke gesichert hatten, nahm man sich ausgiebig Zeit, Frauen, Kinder und Alte langsam zu Tode zu meucheln. Den wenigsten wäre ein Gnadenschuss zuteil geworden.

Wie sollte man ein solches Martyrium verkraften, wie die schrecklichen Bilder jemals aus dem Kopf bekommen?

Charlotte und ihre Kinder schliefen schon tief und fest, da Mutter ihnen einen Tee aus Baldrian, Hopfen und Johanniskraut, versehen mit einem kräftigen Schuss „Melissengeist“ eingeflößt hatte. Und auch ich würde mich wohl später dieses Schlaftrunks bemächtigen müssen, wollte ich in der Nacht nicht von Alpträumen geplagt werden. Allein Idas Schilderung versetzte mich in Angst und Schrecken. Ein solches Schicksal zu ertragen, es zu überleben, - für mich unvorstellbar!

Dennoch war alles bitter grausame Realität gewesen: Wer auf der Stelle erschossen wurde, hatte noch Glück gehabt. Andere, besonders Frauen und junge Mädchen wurden bestialisch gefoltert, so dass der Tod eine Gnade darstellte. Wir hörten zu im Bann des Schreckens, unfähig die Botschaft ihrer Worte zu begreifen. Doch erst als Ida erzählte, sie hätten bei der Flucht die Leichen von Kleinkindern gesehen, denen man mit einem Spaten oder Beil den Kopf gespalten hatte, schrie ich vor Entsetzen auf und verließ fluchtartig den Raum. Meine Geschwister taten es mir gleich.

Ich rannte hinaus auf den Hof und schlang die Arme um meinen Leib, um dem Zittern und Beben Einhalt zu gebieten. Doch vergebens! Dann ließ ich im Schutz der Dunkelheit meinen Tränen freien Lauf und betete inbrünstig mit Blick gen Himmel: Lieber Gott, steh uns bei! Lösche die schlimmen Bilder aus den Köpfen von Stefan und Paul! Lass Charlotte alles vergessen, was ihr widerfahren war, und beschütze uns vor den Russen, auf dass sie nie wieder in Masuren einfallen werden. Bitte hilf uns! Lass uns nicht im Stich. Ich verspreche dir auch, nie wieder mit Jan zu sündigen. Amen.

Nach fast einer kleinen Ewigkeit, wie es mir erschien, begab ich mich ins Haus zurück. Ein Hoffnungsschimmer keimte in mir auf. Unsere tapferen Jungs an der Front hatten schon einmal die Rote Armee zurückgedrängt. Sie würden uns auch ein zweites Mal nicht im Stich lassen. Wenn Bernhard und Jacob zu Weihnachten nach Hause kämen, wollte ich sie befragen. Ihre Einschätzung der Lage war selbst Vater heilig, wurden doch beide schon ausgezeichnet wegen Tapferkeit vor dem Feind; Bernhard trug sogar das Eiserne Kreuz. Den Ratschlag dieser beiden Jungens, gerade achtzehn und neunzehn Jahre alt, würden, nein, mussten wir befolgen.