Krankheiten - Signale der Seele

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Modekrankheit: vegetative Dystonie

Als ich vor Kurzem in einer Ausgabe der Illustrierten „Stern“ blätterte, fiel mir eine Artikelserie auf: „Die großen Krankheiten unserer Zeit“. Diese Nummer behandelte die „vegetative Dystonie“. In einigen fett gesetzten Zeilen hieß es: „Von hundert Menschen, die heute mit Herzbeschwerden, Kopfschmerzen oder Angstgefühl zum Arzt gehen, haben mindestens fünfzig keine organischen Schäden, sondern leiden an, vegetativer Dystonie‘. Was ist das? Eine Modekrankheit oder ein eingebildetes Leiden oder ein Symptom unserer Unrast?“

Viele Fachleute behaupten in der Tat, dass bei 50 von 100 Personen, die heute wegen Herzbeschwerden, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, schlechtem Schlaf, Magen-Darmstörungen, Verstopfung, depressiver Verstimmung, Licht-, Lärm- und Wetterempfindlichkeit, Schwindel und Allergien den Arzt aufsuchen, keine speziellen organischen Schäden vorliegen, sondern psycho-vegetative Störungen im Spiel sind. Viele Ärzte sind der Meinung, die vegetative Dystonie sei eine leere und substanzlose Diagnose. Was ist mit ihr gemeint?

Die vegetative Dystonie ist eine Störung im Gleichgewicht unseres so genannten sympathischen Nervensystems, das aus dem Sympathicus und dem Parasympathicus besteht. Beide Nervensysteme sind nicht unserem Willen unterworfen. Was der Sympathicus beschleunigt, verlangsamt der Parasympathicus. Normalerweise arbeiten sie in einem ausbalancierenden Gleichgewicht, sodass die Lebensvorgänge wie Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel und Drüsentätigkeit gesteuert sind.

Besonders enge Verbindungen bestehen zwischen dem vegetativen Nervensystem, den inneren Sekret-Drüsen (zum Beispiel der Hirnanhangdrüse, der Schilddrüse, der Nebenniere) und seelischen Vorgängen. Überall in den Wandungen der Hohlorgane (Magen, Darm, Blase, Gebärmutter, Herzkranzgefäße) und auch in der Haut sind empfindliche Antennen für feinste Reize vorhanden. Diese Antennen leiten alle Impulse, die sie aufnehmen, an die Zentrale des vegetativen Nervensystems, das Zwischenhirn, weiter. Wie in einem Computer werden die Impulse gespeichert, verarbeitet und in Form von Befehlen an die einzelnen Organe weitergegeben.

Allerdings, und das ist die Schwierigkeit, können wir dieses vegetative Nervensystem nicht willentlich steuern. Die Störungen können also von einem erkrankten Organ selbst kommen, sie können aber auch – und das steht wohl heute außer Frage – seelische Ursachen haben.

Krankheit als Schicksal?

Wenn wir das Wort Schicksal hören, denken wir an die geheimnisvollen Mächte, die aus den Bereichen Natur und Geschichte täglich auf unser Leben einwirken, und zwar von Geburt an.

Spielt dieses geheimnisvolle Schicksal mit uns Katz und Maus? Ist das Schicksal unabänderliches Gesetz, ist alles in uns programmiert? Ist es ein Neutrum, eine unpersönliche Größe? Hat das Schicksal ein Herz für uns?

Ist Gott unser Schicksal?

Zweifellos gibt es Schicksalsschläge, die uns ohne unser Zutun treffen. Es gibt Ereignisse und Krankheiten, Konflikte und Leiden, die uns ungewollt, ungefragt und unverschuldet überfallen.

Krankheiten und Leiden sind aber auch Fügungen Gottes. Heinrich Giesen, der ehemalige Direktor der Berliner Stadtmission, schrieb auf die Frage „Warum lässt Gott die Menschen krank werden?“: „Krankheit ist einer der Wege, auf dem Menschen klug werden können. Denn zu erfahren, dass es nicht nur mit anderen, sondern auch mit uns ein Ende haben muss, macht klug. (…) Gott ist Arzt solcher Krankheit. Er verlangt Fürsorge für Leib und Seele. Er erwartet, dass Menschen gesund sein sollen und wollen. Man kann nicht an Gott glauben und zugleich mit der Krankheit kokettieren oder auch Krankheit leugnen und Krankheit unbekämpft sein lassen. (…) Wir bekommen nicht nur ein Geschenk der Gesundheit, sondern auch in der Krankheit mit Gott zu tun.“4

Darüber hinaus gibt es genügend Leiden, Schmerzen, Krankheiten, für die wir entscheidend mitverantwortlich sind, die durch unsere Eifersucht, durch unser Konkurrenzstreben, durch Neid, Ehrgeiz, Ärger, Hass, falsch verstandene Toleranz etc. mit heraufbeschworen werden.

Krankheit als Lebenslüge?

Der Neurotiker benutzt eine Methode oder ein Verhaltensmuster, um sich im Leben auf seine Art durchsetzen zu können. Er braucht das perfekte Alibi, um vor sich und anderen bestehen zu können. Er möchte nicht als Verantwortungsloser, als Drückeberger und Feigling charakterisiert werden. Das Etikett „Krankheit“ kommt ihm wie gerufen. Hier findet er ein schützendes Dach und eine plausible Entschuldigung. Die Individualpsychologie hat diese Zusammenhänge seit ihren Anfängen aufzudecken versucht. Alfred Adler hat sie schon vor 80 Jahren aufgezeigt, als er schrieb:

„Es liegt bisher nicht der geringste Beweis vor, dass Heredität (Vererbung) oder ein Erlebnis oder ein Milieu zur Neurose oder gar zu einer bestimmten Neurose verpflichtet. Diese ätiologische Verpflichtung, die nie der persönlichen Tendenz und Mithilfe entbehrt, existiert vielmehr nur in der starr gewordenen Annahme des Patienten, der seine neurotische oder psychotische Konsequenz, damit den Zusammenhalt seiner Erkrankung, kausal zu sichern versucht, indem er irgendwelchen Ursachen die Folgen folgen lässt. (…) Unter anderem verlangt sein Lebensplan kategorisch, dass er durch fremde Schuld scheitere. Dass seine persönliche Verantwortung dabei aufgehoben sei.“5

Was wird zusammengefasst deutlich?

 Der Neurotiker benutzt seine Krankheit als Ausrede.

 Erbdispositionen verpflichten nicht zur Neurose.

 Erbdispositionen und Milieueinflüsse können aber sinnvoll in den Lebensplan oder Lebensstil des Menschen einfließen.

 Der Neurotiker glaubt fest daran, durch fremde Schuld gescheitert zu sein bzw. mit verschiedenen Lebensaufgaben nicht fertig zu werden.

 Er glaubt, die Krankheit, die ursächlich in diesem oder jenem begründet ist, hindere ihn daran, als tüchtiger und erfolgreicher Mensch zu leben.

 Die Krankheit, die ihn schicksalhaft heimgesucht hat, nötige ihm keine persönliche Verantwortung ab.

 Diese Lebenseinstellung kann ihn zum Stillstand, Rückzug, zur Isolierung, Menschenfeindlichkeit, Ausflüchten und zur Passivität verleiten.

 Der Neurotiker ist ein Sicherheitsfanatiker: Er sichert sich durch Rückzug ab, damit seine Eitelkeit, sein Hochmut und sein Ehrgeiz keine Niederlage erleiden müssen.

 Er kann eine Krankheit unbewusst steigern oder sogar produzieren, um einer befürchteten Niederlage oder einem Prestigeverlust aus dem Wege zu gehen.

 Die Neurose ist keine Dispositionserkrankung, sondern eine Positionserkrankung. Die Position des Neurotikers in seiner Umwelt ist gefährdet. Er glaubt, nicht genügend beachtet, geehrt und bestätigt zu werden. Sein Ehrgeiz trägt nicht genügend Früchte. Vielmehr sucht er einen Weg, den Anforderungen von Gesellschaft und Gemeinschaft glaubhaft und einleuchtend zu entgehen, um seine Position zu sichern.

Den Lebensstil solcher Menschen kennzeichnet die Lebenslüge. Dass dieser leider oft unterschlagene Gesichtspunkt so betont wird, soll uns nicht hindern, auch die Mangelerlebnisse im frühkindlichen Sozialisierungsprozess mit zu bedenken.

Neurosen – eine veraltete Terminologie?

Der Begriff Neurose wurde 1787 durch den schottischen Arzt William Cullen eingeführt. Er versuchte, eine Zweiteilung der Nervenkrankheiten zu begründen. Den Psychosen stellte er die Neurosen gegenüber. Es sind reaktive oder psychogen verstandene Störungen, die nur zum geringen Teil somatogen, das heißt körperlich bedingt sind. Die Störungen stehen mit dem gestörten Entwicklungs- und Lernprozess des Menschen in Verbindung. 1980 wurde das Neurosenkonzept in der 3. Auflage des DSM III (Diagnostisches und Statistisches Manual) fallen gelassen und durch den beschreibenden Begriff neurotische Störungen bzw. psychische Störungen ersetzt. Das heißt, das Krankheitskonzept und die Krankheitsbegründungen wurden beiseitegelassen. Das bedeutet aber nicht, dass die psychogenetischen und psychotherapeutischen Erkenntnisse heute beiseitegelassen werden.

Die meisten neurotischen Störungen haben etwas mit Angst zu tun, die in verschiedenen Stärkegraden und Eigenarten auftritt. Es gibt gesunde und pathologische Ängste.

Prof. Tölle, ehemaliger Direktor einer Klinik für Psychiatrie, formuliert:

„Genetische Bedingungen. Die psychische Ausstattung eines Menschen, seine emotionale Antriebsstruktur (Temperament) ist nach neuesten Erkenntnissen nicht einfach das Produkt der Lebensbedingungen in der Kindheit, sondern auch genetisch bedingt.

Bei neurotisch gestörten Patienten zeigten Zwillingsuntersuchungen, dass konkordantes Erkranken bei eineiigen Zwillingen 1,5 – 2-mal so oft zu beobachten ist wie bei zweieiigen Zwillingen. Diese Befunde sprechen eindeutig für einen genetischen Faktor (…). Die Entstehung neurotischer und verwandter Störungen lässt sich weder allein noch ausschließlich psychodynamisch erklären.“6

Krankheit und Tod als Folge fehlender menschlicher Zuwendung

Untersuchungen von René Spitz an Säuglingen in den ersten sechs Lebensmonaten haben überzeugend bewiesen, wie sehr die leib-seelische Entwicklung eines Menschen von der intensiven Mutterbeziehung abhängt. Spitz konnte zwei Gruppen von Säuglingen vergleichen, die unter genau den gleichen Hygiene- und Ernährungsbedingungen aufwuchsen.

 

Die eine Gruppe der Säuglinge wurde lediglich gefüttert und trockengelegt, ohne mütterlichen Kontakt. Die andere Gruppe von Kindern hatte Gelegenheit, mehrere Stunden am Tag von der Mutter betreut zu werden.

Bei der ersten Gruppe – es handelte sich um Waisenkinder – lag die Sterblichkeit im ersten Jahr bei fünfzig Prozent. Bei der zweiten Gruppe handelte es sich um Mütter, die im Gefängnis eine Strafe absitzen mussten und ihre Kinder ständig bei sich hatten. Die Kindersterblichkeit betrug hier lediglich etwa drei Prozent.

Was wird hier deutlich?

 Der mitmenschliche Kontakt ist wichtiger als die beste Hygiene und die gesündeste Ernährung.

 Die mütterliche, warmherzige Zuwendung, der zwischenmenschliche Austausch ist lebensnotwendig, und das ist buchstäblich zu verstehen.

 Die Mutter bzw. die gleich bleibende Betreuungsperson ist das Schicksal des Kindes.

Der Psychotherapeut Felix Schottländer hat ein Buch mit einem gleichlautenden Titel geschrieben. Auch neuere Forschungsergebnisse belegen, dass eine Beziehungsperson, die nicht ständig ausgetauscht werden kann, für das körperliche und seelische Wohlbefinden notwendig ist.

 Krankheiten drücken etwas aus.

 Krankheiten sprechen für sich.

 Krankheiten formulieren seelische Konflikte.

 Krankheiten formulieren seelisches und soziales Leiden.

Was setzt den Körper unter Druck?

Was beeinflusst die Organe derart, dass sie sich ins Krankhafte verändern? Was ruft psychosomatische, also leib-seelische Krankheiten hervor?

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich beantwortet dies so:

Beeinflusst werden die Organe durch …

… die Erlebnisverarbeitung;

… die Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt;

… unsere spezifische Reaktion auf Herausforderungen;

… die individuelle Art, mit Angst, Eifersucht, Kummer, Erniedrigung, Misstrauen, Zweifel, Minderwertigkeitsgefühlen etc. fertig zu werden.

Krankheiten und Leiden sind in der Regel kein Zufall, kein blindes Schicksal, sondern die Reaktionsmöglichkeit des Menschen auf eine hilflose Lage.

Alexander Mitscherlich schreibt wörtlich: „In den letzten Jahren ist man ziemlich übereinstimmend davon ausgegangen, dass ca. 30 bis 50 Prozent der Kranken, welche ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, sogenannte, funktionelle Leiden‘ zeigen. Für das Zustandekommen dieser Krankheitsformen sind nicht materielle Dinge primär haftbar zu machen, sondern – der starke, aber treffende Ausdruck sei erlaubt – Erlebniskatastrophen. Damit ist gemeint, dass in Gefühlsbeziehungen der Menschen untereinander, Spannungen‘, ,Erregungen‘, ,Ängste‘ entstehen, welche keine symptomfreie Verarbeitung zulassen.“7

Das heißt also:

 30 bis 50 Prozent aller Krankheiten haben auch seelische Ursachen.

 Nicht im Organ selbst ist primär der Grund für die Krankheit zu suchen.

 Mangelnde seelische Widerstandskraft, Spannungen, Erregungen, Ängste und andere Affekte schlagen auf ein Organ.

 Ein schwaches und schlecht disponiertes Organ kann dieser Spannung entgegenkommen und sich angreifen und schädigen lassen.

Redewendungen zeigen Leiden auf

Im täglichen Leben gibt es, wie schon angedeutet, Redewendungen, die treffend psychosomatische Zusammenhänge charakterisieren. Der Volksmund weiß die Hintergründe bewusst oder unbewusst zu deuten.

Wir sagen:

 Mir ist die Kündigung auf den Magen geschlagen.

 Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen.

 Der Tod des Ehemanns hat ihr das Herz gebrochen.

 Sie wurde gelb vor Neid.

 Er wurde rot vor Wut.

 Er war nass geschwitzt vor Angst.

 Sie litten unter einer tödlichen Langeweile.

 Eifersucht, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.

 Die Scheidung ging ihm ziemlich an die Nieren.

 Er hat sich die Krätze an den Hals geärgert.

 Man sah, wie er innerlich kochte.

Die Organsprache

Jeder menschliche Körper spricht seine eigene Sprache – wenn wir erregt sind, wenn wir uns bedroht fühlen oder angegriffen werden, wenn wir schwere Frustrationen erleben.

Fachleute sprechen von Organsprache oder Organdialekt. Immer geht es darum, welches Organ am besten geeignet ist, den Konflikt zum Sprechen zu bringen.

 Der eine zittert in bestimmten Situationen.

 Dem anderen stehen die Haare zu Berge.

 Ein Dritter reagiert mit Herzklopfen.

 Manche Menschen kommen ins Schwitzen.

 Sie bekommen Lampenfieber.

 Diesem oder jenem verschlägt es den Appetit oder wird es übel.

 Andere erbrechen und

 der Nächste reagiert mit Gleichgewichtsstörungen und Ohnmacht.

Alfred Adler schildert ein anderes eindrückliches Beispiel: „Ein Kind (…), das sich fügsam benimmt, aber das nachts das Bett nässt, gibt dadurch deutlich seine Meinung kund, sich der angeordneten Kultur nicht fügen zu wollen. (…) Von jedem Blickwinkel aus können wir erkennen, dass die Enuresis (Bettnässen) wirklich ein schöpferischer Ausdruck ist, denn das Kind spricht anstatt mit seinem Mund mit seiner Blase.“8

Oder da ist die Frau in der Beratung, die Gespräche braucht, wie sie sagt. Sie lebt vom Austausch der Gedanken, Gefühle und Probleme. Sie lebt mit ihrem Mann in großer Spannung. Am meisten leidet sie darunter, dass sie nicht mit ihm reden kann, dass er nicht zuhört, dass er sich für ihre Probleme nicht interessiert, dass sie einsam und allein ist.

Ihre Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Sie haben ihre Bezugspersonen. Sie hat ihre Mutter, die aber schwach und kränklich ist und die sie mit ihren Problemen eigentlich nicht belasten darf. Die Frau sagt interessanterweise „eigentlich“. Und uneigentlich? Auf der Fahrt mit der Mutter im Auto passiert es ihr dann, dass sie plötzlich rasende Herzschmerzen bekommt. Sie muss am Straßenrand anhalten und lange Zeit ausspannen.

Jetzt ist es heraus. Mit dem Mund wollte sie der Mutter ihr Herz nicht ausschütten. Sie wollte sie schonen. Aber ihr Herz hat – buchstäblich – nicht geschwiegen. Ihr Herz hat gesprochen. Sie wurde anschließend gesund, als sie ihrer Mutter ihre vielfachen Herzbeschwerden, ihre Kümmernisse offenbaren konnte.

Herr X fährt auf der Autobahn und ärgert sich über einen gelben Porsche, der langsamer fahrende Fahrzeuge durch beständiges Lichthupen auf die rechte Seite zwingt. Er fährt ebenfalls relativ schnell und beobachtet das unverschämte Verhalten dieses Porschefahrers. Ein Mercedes lässt sich nicht abdrängen. Er fährt ruhig auf der linken Seite weiter, ohne zu beschleunigen, denn vor ihm auf der rechten Seite sind etliche LKWs, die er in Ruhe und ohne Hetze überholen will. Der Porschefahrer betätigt neben der Lichthupe ein grell klingendes Signal.

Plötzlich ist es passiert. Der Porschefahrer ist auf den Mercedesfahrer aufgefahren. Einige Fahrzeuge hängen ineinander. Herr X folgt mit seinem Wagen. Im Nu entsteht ein Verkehrsgewühl. Herr X springt aus seinem Wagen und will dem Verletzten helfen. Aber beim Anblick des Verletzten im Porsche und beim Anblick des Blutes wird ihm übel und er muss sich übergeben.

Was ist passiert? Der optische Eindruck hat bei dem Betroffenen einen heftigen Reiz auf das Zwischenhirn, die Zentrale des vegetativen Nervensystems und zugleich Empfangsstation für seelische Eindrücke, ausgelöst. Der Impuls erreicht den Magen mit dem Befehl „Übelkeit und Erbrechen“. Durch seelischen Einfluss wird also ein organisches Geschehen hervorgerufen.

Ich frage den Klienten, der mir diese Episode in einem anderen Zusammenhang erzählt, wie er sich gefühlt habe, als er ausstieg. Er sagt: „Mir stand es schon im Hals, als ich den Angeber in dem gelben Wagen erlebte. Und als es dann passierte, war ich einen Augenblick lang schadenfroh.“

Der Klient berichtet, dass der Porschefahrer ihm im Hals stand. Seine ablehnenden Gefühle bringt er nach dem Unfall sofort zum Ausdruck. Sein Kopf mag anders denken, seine Vernunft die schadenfrohe Gesinnung zurückdrängen wollen – aber das autonome Nervensystem ist längst von der gegensätzlichen Einstellung alarmiert worden und hat prompt reagiert. Er müsste eigentlich helfen, aber er sträubt sich. Die Körpersymptome, die sich einstellen, verraten seine Haltung. Die Seele ist in der Lage, die körperlichen Symptome in Gang zu setzen. Er kann nicht helfen, er muss sich übergeben.

Wenn die Erde wackelt – ein Fallbeispiel

Die Wahl des Symptoms hängt davon ab, was dem Menschen als wirksam erscheint. Nur die Symptome, die der Mensch als wirksam erkennt, produziert er weiter. Symptome, die ihren Zweck nicht erfüllen, gibt er schnell wieder auf. Der Mensch kann auf drei Gebieten Symptome produzieren, und zwar im Fühlen, im Denken und im Körper. Ich will versuchen, die Symptomwahl im Bereich des Gefühls an einem Beispiel zu demonstrieren.

Der Mensch entwickelt Angst, ich kann auch sagen, er produziert Angst, um einen Menschen an sich zu fesseln. Das kann der Lebenspartner sein, das kann – vom Kind her gesehen – die Mutter sein.

Frau M. kann nicht allein auf die Straße gehen. Seit zwei Jahren hat sie diese Symptomatik. Viele Menschen in ihrer Umgebung haben versucht, ihr diesen „Spleen“ auszureden. Frau M. redet nur noch sehr ungern über diese Problematik. Sie möchte nicht als krank angesehen werden. In der Bibelstunde haben ihr gute Bekannte geraten, vorher zu beten und sich dann vertrauend hinauszuwagen. Der Rat war nicht ungeistlich, traf aber keineswegs den Kern der Sache. Ihr Problem liegt woanders, und das müssen wir zuerst erkennen, um ihr effektiv helfen zu können.

Sie sagt: „Ich habe den Eindruck, der Boden wackelt. Die ganze Erde vibriert. Ich wage gar nicht mehr, offen darüber zu reden, weil man mich für verrückt halten könnte.“

Ich: „Sie haben das Gefühl, Sie können sich nicht aus dem Haus wagen. Sie verlieren das Gleichgewicht oder können sich nicht auf den Beinen halten.“

Sie: „Ich würde mich schon hinauswagen, wenn mich jemand fest unterhakt.“

Ich: „Wenn Sie einen starken Schutz hätten.“

Sie: „Und den habe ich eben nicht. Ich komme mir völlig schutzlos vor.“

Ich: „Sie kommen sich schutzlos vor, ohne Halt, oder wie verstehen Sie das selbst?“

Sie: „Sehen Sie, meine beiden Töchter sind verheiratet. Beide wohnen einige hundert Kilometer von hier entfernt. Wir sehen uns sehr selten. Hin und wieder fahre ich hin. Was habe ich noch?“

Ich: „Ihre beiden Kinder sind aus dem Haus. Sie vermissen sie sicher. Und Ihr Mann?“

Sie: „Ja, wenn wenigstens eine Tochter bei mir wohnte! Der Beruf frisst meinen Mann auf. Jeden Tag Überstunden, und an den Wochenenden hockt er hinter mitgebrachter Arbeit.“

Ich: „Mit anderen Worten, Sie fühlen sich im Stich gelassen, allein, ohne Halt.“

Sie: „Ich bin auch so machtlos. Mit keinem Mittel kann ich ihn zwingen, seinen Lieblingsplatz hinter dem Schreibtisch zu räumen. Er lebt und stirbt für die Firma.“

Was wird in diesem Gespräch deutlich?

Frau M. fühlt sich allein und im Stich gelassen. Die Kinder sind aus dem Haus. Sie kann sie nicht mehr betreuen, für sie sorgen. Sie fühlt sich überflüssig.

Ihre Ehe scheint problematisch. Der Ehemann sieht im Beruf offensichtlich seinen einzigen Lebenssinn. Über eheliche Gemeinsamkeiten spricht Frau M. nicht. Beide leben aneinander vorbei.

Frau M. möchte gern ihren Mann zwingen, seine beruflichen Ambitionen zu drosseln, um sich ihr mehr zuzuwenden. Sie schildert es freimütig. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres Platzangst-Symptoms. Sie fühlt sich ohnmächtig und machtlos.

 

In ihrer Machtlosigkeit produziert sie ein Symptom, das sehr durchschlagend wirkt. Allein kann sie nicht mehr auf die Straße, weil tatsächlich in ihrer Vorstellung die Erde bebt und vibriert. Auf diese Weise zwingt sie ihren Mann, sie zu begleiten, mit ihr Einkäufe zu machen, Besuchsverpflichtungen zu erfüllen und mit ihr an Geselligkeiten teilzunehmen. Gemäß ihrem Lebensstil – ich brauche einen Menschen, der mir beisteht – hat sie im Bereich des Gefühls ein Symptom gewählt, das ihr persönlich erfolgversprechend zu sein scheint.

In der Beratung lag mir daran, auch den Ehemann zu gewinnen. Im Dreiergespräch sollte die eheliche Situation angesprochen und die Flucht in die Arbeit bewusst werden. Durch eine verbesserte Partnerbeziehung verringerten sich allmählich die Platzangst-Symptome, die die eigene Wertlosigkeit vertuschen sollten. Frau M. leidet an ihrer Wertlosigkeit. Sie will sie nicht eingestehen.

Alfred Adler erklärt die Zusammenhänge von Symptom und Wertlosigkeit so:

„Es ist keine Frage, dass der Betreffende leidet. Aber er zieht diese Leiden noch immer jenen größeren vor, um nicht bei der Lösung wertlos zu erscheinen. Er nimmt lieber alle nervösen Leiden in Kauf als die Enthüllung seiner Wertlosigkeit. Beide, der Nervöse und der Nichtnervöse, werden einer Feststellung ihrer Wertlosigkeit den größten Widerstand entgegensetzen, aber der Nervöse weit mehr. (…) Er wird darauf bestehen, ich möchte gesund werden, ich will von den Symptomen befreit sein. Deshalb geht er zum Arzt. Was er aber nicht weiß, ist, dass er etwas noch mehr fürchtet: als etwas Wertloses dazustehen; es könnte sich etwa das düstere Geheimnis entpuppen, dass er nichts wert sei. Wir sehen nun, was eigentlich Nervosität ist: ein Versuch, dem größeren Übel auszuweichen, ein Versuch, den Schein des Wertes um jeden Preis aufrechtzuerhalten.“9

Sich von Gott Kraft zu erbitten, um angstfrei nach draußen gehen zu können, zielt an der eigentlichen Problematik vorbei. In dem Augenblick, in dem dieser Frau die unbewusste Finalität (Zielgerichtetheit) ihrer Platzangst-Symptomatik bewusst wird, kann sie beispielsweise um die Kraft bitten, nicht mehr so sklavisch an ihrem Mann hängen zu müssen. Das Gebet ist konkreter und bezieht sich auf das Problem ihrer Abhängigkeit. Sie kann darum beten, vorwurfsfreier mit ihrem Mann darüber zu reden, dass sie ihn braucht und von ihm stark abhängig ist.

Dem Mann wird klar, dass er die Arbeit benutzt, um vor der Umklammerung zu fliehen. Als er seine Lebensstilbewegung erkennt und die Frau vorwurfsfreier über ihre Bedürfnisse mit ihm spricht, bessert sich zusehends die eheliche Beziehung, seine so genannte Arbeitswut mindert sich und damit ihre Platzangst-Symptomatik.

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