Hannah von Bredow

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Der Seelenverwandte Sydney Jessen

„Wenn Sie nur ahnten, was für eine Erleichterung darin liegt, mit Ihnen korrespondieren zu können, wenn’s auch das Reden nimmermehr ersetzt. Was für eine Hilfe es ist, an jemand, der noch denken kann, schreiben zu können, und zwar so schreiben zu können, dass man sich – bis auf gewisse Gestapohemmungen – nicht jedes Wort auf seine Möglichkeit hin, verstanden zu werden, überlegen muss.“

(Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 377 – Potsdam, den 27. September 1935)

Die Zahl der Schreiben, die Hannah von Bredow in den Jahren 1925 bis 1965 an Sydney Jessen verfasste und bis zuletzt stets mit „Lieber Herr Jessen“ begann, ist exakt nicht ermittelbar, dürfte aber über 2000 liegen. Der Umfang der von Sydney Jessen an die „Sehr verehrte, gnädige Frau“ verfassten Briefe ist geringer. Von Verlusten durch Kriegseinwirkung sowie durch die willkürliche Vernichtung durch Hannah von Bredows Tochter Marguerite waren Jessens Briefe in höherem Maße betroffen als die von Hannah. Diese begann Anfang des Jahres 1930 damit, ihre Briefe an Jessen zu nummerieren. Postkarten und nicht nummerierte Briefe von bis zu 20 handgeschriebenen Seiten kommen hinzu.

Der Briefaustausch erfolgte mindestens im Wochentakt, bisweilen alle zwei Tage und selbst bei räumlicher Nähe, wie am Ende der Kriegszeit. Am 19. Juli 1938 kalkuliert Hannah von Bredow in ihrem Brief Nr. 800, dass es „übermorgen 14 Jahre her sind, dass ich Sie kennenlernte“ und dass es „ungefähr 60–70 Briefe im Jahr sind, die ich Ihnen – als Durchschnitt angenommen – geschrieben habe, oder noch mehr, denn immerhin habe ich erst fünfeinhalb Jahre nach unserer Bekanntschaft mit dem Zählen begonnen.“ Ergänzt wurde der schriftliche Gedankenaustausch durch gegenseitige Besuche.

Hannah von Bredow und Sydney Jessen begegneten sich demnach erstmals Mitte des Jahres 1924. Nach seiner Promotion in Berlin zum Dr. rer. pol. wirkte Jessen als Privatsekretär für Otto Fürst von Bismarck, Hannahs Bruder, der ab 1923 Abgeordneter für die nationalkonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Reichstag war. Bald entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen dem 27-jährigen Abgeordneten und seinem um vier Jahre älteren Sekretär, in das Ottos Familie einbezogen wurde.

Hannah von Bredows Interesse am ein Jahr älteren Sydney Jessen belebte nicht zuletzt die Lektüre von Thomas Manns im Januar 1924 erschienenem „Zauberberg“. Darin verlieh der Autor einzelnen der lungenkranken Patienten im Internationalen Sanatorium Berghof in Davos Züge bekannter Zeitgenossen, wie z.B. dem Mynheer Peeperkorn die des berühmten Autors Gerhart Hauptmann. Aber auch Geheimrat Prof. Friedrich Jessen, international anerkannter Tuberkulosespezialist und Vater von Sydney, fand sich in Gestalt des dirigierenden Arztes der Klinik, Hofrat Dr. Behrens, wieder.

Wohl als sehr einseitig wird Hannah von Bredow die Sicht des „Zauberberg“-Autors auf den „Sohn des Hofrates, Knut mit Namen“ empfunden haben. Dieser „kam auf Ferienbesuch und wohnte bei seinem Vater im Seitenflügel, – ein hübscher, junger Mann, dem aber ebenfalls schon der Nacken etwas zu sehr heraustrat. Man spürte die Anwesenheit des jungen Behrens in der Atmosphäre; die Damen legten Lachlust, Putzsucht und Reizbarkeit an den Tag, und in ihren Gesprächen handelte es sich um Begegnungen mit Knut im Garten, im Walde oder im Kurhausviertel.“1 Zwar blieb auch Hannah von Knut-Sydneys Äußerem nicht unbeeindruckt, dennoch ist die mehr als 40-jährige intensive Beziehung zwischen den beiden weit mehr den zahlreichen gleichgerichteten Interessen zuzuschreiben.

In Sydney Jessen fand Hannah von Bredow einen Brief- und Gesprächspartner von breiter Bildung und umfassenden Interessen. Mit ihm konnte sie sich über gesellschaftliche, historische, künstlerische, literarische, philosophische und besonders politische Themen stets angeregt und vertrauensvoll austauschen. Jessens literarische Ambitionen, die er in Gedichten, ebenso wie seine künstlerischen Fähigkeiten, die er in Porträts und Skulpturen auszudrücken wusste, trugen zur Wertschätzung und geistesverwandtschaftlichen Verbindung der Beiden über Jahrzehnte bei.

Der am 24. April 1892 in Hamburg geborene Sydney Jessen kam erst spät zum Studium. Nach humanistischem Abitur trat er im Jahre 1911 mit 18 Jahren als Seekadett in die Reichsmarine ein und nahm im Rang eines Leutnants zur See am Krieg teil. Bereits im Dezember 1914 geriet er für drei Jahre in englische Gefangenschaft, konnte dank Vermittlung von Schweizer Ärzten im November 1917 freikommen, übernahm noch eine Funkstation und beendete den Krieg als Oberleutnant. Eine weitere Laufbahn bei der Marine schloss die restriktive Versailler Rüstungskontrollpolitik der Siegermächte aus, sodass Jessen sich 1919 für das Studium der Ökonomie in Zürich, München und Hamburg entschied, um es nach fünf Jahren mit der Promotion in Berlin abzuschließen. Seine guten Englischkenntnisse kamen Jessen im Büro Otto von Bismarcks zugute, für den er bis 1926 auch die englische Korrespondenz betreute. Im Anschluss halfen ihm ab 1927 seine ebenso guten Französischkenntnisse in der Geschäftsführung des Deutsch-Französischen Studienkomitees. Das von Vertretern der Großindustrie gegründete Komitee diente der deutsch-französischen Verständigung. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise kamen die Aktivitäten bereits im Jahre 1930 zum Erliegen.

Sydney Jessen hatte sich nach einer neuen Betätigung umzusehen. Seine im Jahre 1927 geschlossene Ehe mit Helene Gräfin von Zeppelin, einer Tochter des Lothringer Bezirkspräsidenten Friedrich Graf von Zeppelin-Aschhausen, erleichterte die Suche. Ein Jahr zuvor hatte die 21-Jährige von einer Großmutter im südbadischen Laufen ein Weingut geerbt, das Jessen dann leitete. Hannah von Bredow bemühte sich von Anfang an um ein gutes Verhältnis zu der zwölf Jahre jüngeren Helene Jessen und war nicht nur Gast bei der Hochzeitsfeier, sondern wurde auch Taufpatin der Tochter Iris.

Verschiedentlich besuchte Hannah von Bredow die Familie Jessen in Laufen, und Helen kam auch allein zu ihr nach Potsdam. Daneben entwickelte sich eine Korrespondenz zwischen den beiden Frauen, in der sich die geborenen Gräfinnen standesgemäß mit „Liebe Helene“ und „Liebe Hannah“ ansprachen. Ihre teilweise sehr umfangreichen Briefe beschloss Hannah bisweilen mit dem Gruß: „Leb wohl, meine liebste Helene, grüß Deinen Mann, küsse die liebe Iris und sei innig umarmt von Deiner Dich liebenden und dankbaren Hannah“.

In ihren Schreiben an Helene Jessen ging Hannah von Bredow auf deren Interesse am erlernten Gartenbau ebenso ein wie auf ihre Vorliebe für das Modellieren. Sie erkundigte sich stets nach ihrer Patentochter, die sie reichlich beschenkte, und schrieb im Anschluss an einen Geburtstag von Iris: „Ich freue mich, dass die Kleider für Iris Dir gefallen haben. Ich schenke meinem Patenkind so sehr gern etwas, und doppelt gern, wenn die schöne und liebe Mutter auch Spaß daran hat.“

Hannah berichtete Helene in ihren Briefen häufig über ihr Familienleben, etwa über einen erheiternden Abend mit ihrer „Tante Rantzau, die ihre 238 Pfund in lichtrosa Atlas mit alten Spitzen gehüllt hatte und nach dem Dinner in aller Seelenruhe Bier verlangte – und bekam!“ Als Anspielung konnte die junge Mutter Helene die Charakterisierung des römischen Adels verstehen, die Hannah ihr anhand der Eindrücke ihrer Schwester Goedela nach einer Romreise im letzten von drei Punkten vermittelte: „Drittens, dass auch in den allerglücklichsten Ehen, wo Mann und Frau wie die Turteltauben leben, der Mann, so wie seine Frau irgendwie nicht dabei oder gar in den Wochen oder krank ist, sofort eine Nebenverbindung eingeht, sich ganz ungeniert überall zeigt und das ganz selbstverständlich gefunden wird!!“

Aufkommendes Misstrauen Helene Jessens konnte Hannah von Bredow sich angesichts ihres intensiven Schriftverkehrs mit Sydney Jessen durchaus vorstellen und wurde in ihren Vermutungen auch bestätigt. Nach einem Theaterbesuch mit Jessen fragt sie sich Mitte Februar 1935 im Tagebuch: „Kann man sich eine Ehefrau vorstellen, die alle Briefe ihres Manns liest? Sowohl die gesendeten wie erhaltenen? Welch erstaunliche Idee eines ehelichen Glücks! Aber solange sie daran Spaß hat …“ Mit Hinweisen auf ihre Treue und den Altersunterschied bemühte sich Hannah in ihren Briefen an Helene, das Misstrauen zu dämpfen: „Vergiss mich nicht ganz trotz langer Trennungen und lass Dich in treuer Freundschaft und Liebe innig umarmen. Grüße Deinen Mann und die Kinder. Deine alte, müde, traurige und allgemein erschöpfte Hannah“.

Dauerhaft konnte Hannah von Bredow den Argwohn und die Eifersucht von Helene Jessen nicht dämpfen. Zum zehnten Hochzeitstag Anfang April 1937 schenkte sie dem Paar einen alten englischen Freundschaftsbecher und bemerkte in ihrem Brief an Jessen Ende des Monats: „Vielleicht hat Helene ihn in Laufen noch gesehen.“ Die Ehe war in die Brüche gegangen und Helene auf das Familienanwesen in Aschhausen gezogen. Ende Juli reichte sie die Scheidung ein. Doch hierbei ließ sie es nicht bewenden: Sie benannte Hannah als Schuldige und denunzierte sie zudem, wie diese am 12. November 1937 im Tagebuch festhält: „I have been denounced by the nurse, by Helen, by Raeder and Arnim. Well, well! A close shave. Damn those Nazis!“ Hannah erwog eine Klage und überlegte im September, „wo mein Fehler lag. Ich habe sie nie verachtet, ich fand sie nur anders. Ich hatte nie unloyale Gedanken über sie. Das Komische ist, dass ich wirklich glaubte, sie mochte mich. Jetzt muss ich das alles für mich klären.“

Nach der Rückkehr von einer Wienreise wurde Hannah von Bredow Ende Oktober 1937 in Berlin völlig überraschend von zwei Zollbeamten empfangen, die sie nach Potsdam begleiteten und ihren Schreibtisch durchsuchten. Beiläufig erwähnten sie, dass Sydney Jessen wenige Tage zuvor inhaftiert worden war. Am 13. November berichtet Hannah dem Brieffreund Jessen ausführlich über das siebenstündige Verhör der Beamten. Diese bezichtigten sie des Devisenvergehens, welches sie unter einem Pseudonym vorgenommen habe. Den Beamten erklärte Hannah hierzu: „Dieses Mal wissen Sie ja aus Frau Jessens Denunziationen den Sinn, und deshalb brauche ich ihn nicht zu wiederholen.“2

 

Bereits in einem Schreiben an Jessen hatte Hannah von Bredow drei Tage zuvor resignierend festgestellt: „Es interessiert mich auch sehr wenig, denn ich bin nicht mehr auf dieser Welt, weil ich ja doch nur ein Schädling bin. Vielleicht kann ich mich als Skelett ausstellen, sonst fällt mir nichts mehr ein. Ich wiege jetzt 48 kg und das ist immerhin nicht sehr üppig, aber es ist wohl noch immer zu viel, denn ich nehme weiter ab. Das lässt sich nun nicht ändern …“ – Ein Alarmsignal einer knapp einen Meter achtzig großen Mutter von acht Kindern.

Hannah von Bredow verzagte nicht und bemühte sich mit allen Mitteln um Aufklärung. Erschwerend kam für sie aber hinzu, dass „alle Briefe, die ich Ihnen je geschrieben habe, in den Händen der Zollfahndungsstellen sind,“ schrieb sie Jessen Ende November 1937. Mit den abgefangenen und abgeschriebenen Briefen verband Hannah die Sorge, dass diese Jessen auch devisenrechtlich und politisch im Rahmen des Scheidungsprozesses belasten könnten.

Mit Hilfe ihres Bruders Otto und ihres Rechtsanwalts Walther von Simson gelang es Hannah von Bredow immerhin, beim Oberfinanzpräsidenten die haltlosen Vorwürfe wegen Devisenvergehen auch mit eigenen unkonventionellen Mitteln aufzuklären: Ihre Brüder hatten sie nämlich darin bestärkt, „dass nur mit Marktweibergebrüll heutzutage durchzukommen sei, nicht aber mit einem einzigen Zeichen des sich Unterordnens.“

Politische Unterordnung kam für Hannah von Bredow ohnehin nicht in Frage. Besorgt war sie aber, als sie erfuhr, dass Abschriften ihrer Briefe an Jessen auch dem Chef der Potsdamer Gestapo und zweitem Vorsitzenden im Volksgerichtshof, Wilhelm Graf von Wedel, vorlagen und er beabsichtigte, Hannah in Haft zu nehmen. Bruder Gottfried von Bismarck, Parteigenosse von Wedel, musste intervenieren und tat dies erfolgreich. Dennoch ließ Wedel im Januar 1938 Hannah von Bredows Pass einziehen. Gottfried empfahl ihr daraufhin dringlich, Sydney Jessen bis zum Abschluss des Scheidungsprozesses nicht mehr zu sehen. Hannah schlug den brüderlichen Rat aus und traf Jessen noch verschiedentlich vor Ende des Prozesses, der Anfang Oktober 1938 mit einem Schuldspruch gegen ihn endete. Kurz vor Weihnachten wurde die Scheidung wirksam. Den Jahreswechsel feierte der Geschiedene zusammen mit Hannah von Bredow und ihren acht Kindern in Potsdam.

Jessens aus dem Briefwechsel mit Hannah von Bredow ersichtliche ‚politische Unzuverlässigkeit‘ bestimmte das negative Scheidungsurteil wohl auch unabhängig von den Scheidungsgründen seiner Frau Helene. Seine früh geäußerte Distanz zum NS-Regime beantworteten dessen Erfüllungsgehilfen bereits im Jahre 1934 mit Jessens Ausschluss aus dem Vorstand der Laufener Winzergenossenschaft und einer bäuerlichen Berufsvereinigung in der Markgrafschaft Baden. Gegenüber weiteren Schikanen sicherte er sich ab 1934 durch Teilnahme an Reserveübungen ab. Diese erleichterten ihm nach seiner Scheidung die Einstellung in der Nachrichtenabteilung der Seekriegsleitung in Berlin Anfang 1939.

Angesichts der räumlichen Nähe verzeichnet Hannah von Bredow in ihrem Tagebuch für das Jahr 1939 nahezu wöchentlich Treffen mit Sydney Jessen. Wenig zur Freude der Familie Bismarck-Bredow wohnte Sydney Jessen, als er in Berlin auf Wohnungssuche war, in den ersten Monaten sogar bei Hannah, die im Tagebuch vermerkt: „Mutter täglich ärgerlicher, dass Sydney in unserem Haus wohnt. Kein Trost für sie, dass er sich im Haus nicht wohl fühlt. Auf jeden Fall muss er bedauert werden.“ Das Mitleid für den unter unwürdigen und erniedrigenden Umständen geschiedenen Freund hatte aber Grenzen: Zur Frage ihres Bruders Gottfried, ob sie Sydney Jessen nicht heiraten wolle, vermerkt sie: „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.“

Ein dauerhaftes Zusammenleben mit Sydney Jessen oder gar eine Ehe mit ihm kam für Hannah von Bredow allein ihrer Kinder wegen nicht in Frage. Die drei älteren Töchter, die Ende der 1930er-Jahre bereits über oder knapp unter 20 Jahre alt waren, lehnten es strikt ab, Jessen eine Vaterrolle zuzugestehen. Hannah hatte besonders mit ihrer Ältesten, Marguerite, erhebliche Schwierigkeiten und wollte Jessen nicht in ihre Erziehungsprobleme hineinziehen. Auch hatte sie seit dem Tod ihres Mannes Leopold den großen Haushalt, unterstützt zwar durch reichliches Personal, mehr als fünf Jahre ohne männlichen Vorstand bewältigt.

Nicht zuletzt galt es für Hannah von Bredow, Vorbehalte gegen Jessen auch im weiteren Familien- und Bekanntenkreis zu berücksichtigen. So schreibt sie schon früh, Ende des Jahres 1934, ins Tagebuch, dass sie einer Einladung Jessens nach Laufen gern nachgekommen wäre: „Wie aber soll man das machen? Schade. Ich habe so wenig gute Freunde, und gerade dieser wird mir von den dümmsten Leuten verübelt, weil er bürgerlich ist. – Komische Welt.“

Hannah von Bredows Nähe zu Sydney Jessen, die sie in Form regelmäßiger Briefe und gelegentlicher Besuche seit dem Jahre 1925 hergestellt hatte, hielt sie in keiner Weise davon ab, die von ihr erwarteten gesellschaftlichen Aktivitäten und familiären Pflichten wahrzunehmen und zu erfüllen. Auch nach dem frühen Tod von Ehemann Leopold im Oktober 1933 verzichtete sie nicht auf ein reges Gesellschaftsleben. Gern nahm sie Einladungen zu Frühstücks-, Mittags- und Abendveranstaltungen von Verwandten und Freunden, von Vertretern aus Diplomatie, Politik und Wirtschaft wahr und lud ihrerseits zum Tee und zu Essen ein.

Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre versäumte Hannah von Bredow darüber hinaus wenige der von Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer oder Bruno Walter dirigierten Konzerte der Berliner Philharmoniker und erlebte das Theater von Max Reinhardt und Gustav Gründgens. Reisen zur Mutter nach Friedrichsruh oder zu den Brüdern kamen hinzu. Ein streng eingehaltener Tagesablauf ließ ihr genügend Zeit für ihre Kinder und deren Sorgen. Selbst nach Abendeinladungen beschloss sie den Tag am Schreibtisch und erledigte die anfallenden Rechnungen, häuslichen Angelegenheiten, Listen, Krankenkassen- und Steuersachen.

Die Seelenverwandtschaft mit Sydney Jessen, sichtbar in ihren bis in die Morgenstunden geschriebenen regelmäßigen Briefen, beruhigte und kräftigte Hannah von Bredow. Beim Schreiben über Gespräche mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten, über jüngst gelesene Zeitungsartikel und Bücher, über Theateraufführungen, Konzerte und Vorträge, erinnerte sie sich nicht nur an die Geschehnisse eines Tages oder eine Woche. Aus der Reflexion der Ereignisse und ihrer Gedanken gewann sie Selbstvergewisserung. Belastendes oder traurige Erlebnisse in Worte zu fassen, war für sie eine Art Selbsthilfe, um Seele und Körper zu stärken.3

In depressiven Phasen konnte sie die Lust an der puren Beschreibung von Situationen oder die treffsichere Benennung von Details aus gesellschaftlichen Dialogen von Grübelei ablenken. Im schriftlichen Dialog mit dem verständnisvollen und einfühlsamen Sydney Jessen vermochte sie die Intensität ihrer Empfindungen sowie aufkommende Ängste zu zähmen. Der über vier Jahrzehnte geführte ununterbrochene Dialog erlaubte ihr trotz häuslicher Beanspruchung und wiederholter ernsthafter Erkrankungen die für sie besonders belastendenden zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“ weitgehend unbeschadet zu überstehen.

Wie wichtig Hannah von Bredow ihre Brieffreundschaft mit Sydney Jessen war, äußert sie schon nach wenigen Jahren der Bekanntschaft im Jahre 1931 in Form einer Bitte an ihn: „Es wäre netter denn je von Ihnen, wenn Sie mir, so oft es Ihre Arbeitslast gestattet, schreiben würden. Es ist ungeheuer wohltuend, mit jemand reden zu können, wenn man alles, was man sieht und hört, verschlucken muss.“ Zu ihren eigenen Briefen erklärt sie Jessen zu dessen 39. Geburtstag am 24. April 1931, sie werde sich, „was Briefeschreiben anbelangt, nicht bessern“, sondern habe die Absicht, „Sie weiter – auch einseitig – mit Episteln von allzu großer Länge zu ‚erfreuen‘“.

Den Umfang ihrer Briefe nennt Hannah von Bredow „kleinere Heftchen, denn Briefe sind die vielen Bogen wohl kaum mehr.“ Mit Beginn der NS-Zeit gewinnt der Schriftwechsel erheblich an Bedeutung, und Hannah schreibt Jessen im April 1933: „Wenn Sie nur ahnten, was für eine Erleichterung darin liegt, mit Ihnen korrespondieren zu können, wenn’s auch das Reden nimmermehr ersetzt.“ Zweieinhalb Jahre später bekennt sie ihm, „was für eine Hilfe es ist, an jemand, der noch denken kann, schreiben zu können, und zwar so schreiben zu können, dass man sich – bis auf gewisse Gestapohemmungen – nicht jedes Wort auf seine Möglichkeit hin, verstanden zu werden, überlegen muss. Dass ich mir unter solchen Umständen beneidenswert vorkomme, brauche ich nicht zu betonen.“

Hannah von Bredow verfasste die große Zahl ihrer umfangreichen Briefe an Sydney Jessen, die sie bisweilen mit seitenlangen Dialogen in Englisch und Französisch anreicherte, in einer eleganten, anregenden Sprache und in einem plastischen, oft erheiternden Stil, selbst bei Anweisungen an ihren Vertrauten: „Was ich Ihnen erzählen werde, ist derartig erstaunlich, dass ich’s Ihnen nicht vorenthalten mag, aber ich bitte Sie, diesen Brief zu all den anderen im W.C. oder wo sonst zu vernichten. Nicht im Meer, denn das speit sie bekanntlich aus.“

Im demselben Brief ermahnt Hannah von Bredow ihren Briefpartner Jessen im August 1933: „Sie haben doch meine sämtlichen Elaborate vernichtet, hoffe ich. Erstens sind sie wert, zu sterben (wie die Schreiberin selber übrigens) und zweitens plagt mich nicht die Ambition, als ‚Sévigné II‘ der Nachwelt überliefert zu werden. Denn ich schreibe wie ich rede, nicht für die Ewigkeit.“4

Selbst wenn Hannah von Bredow ihre Selbsteinschätzung und das von ihr erwartete Rollenverständnis einen Vergleich mit ihrem Großvater Otto von Bismarck verboten, wusste sie, dass dieser seine Privatbriefe auch für die Nachwelt schrieb. Hannahs Haltung zu den eigenen Briefen dagegen wurde durch die Veröffentlichung der sehr privaten Briefe ihres Vaters Herbert von Bismarck im Nachlass seines Freundes Fürst Eulenburg-Hertefeld im Jahre 1923 bestimmt.

Gleichermaßen mit ihrem Vater wie mit ihrem Großvater teilte Hannah von Bredow andererseits eine Eigenschaft, die für ihr Schreiben bestimmend war und die sie für ihre ständige innere Unruhe verantwortlich machte: „Genau zu wissen, was kommt“. Viele ihrer Briefe und Tagebucheintragungen belegen Hannahs ausgeprägte Fähigkeit zur Vorhersage von Ereignissen, zur Prognose. Ihre damit verbundene Unruhe bemühte sie sich, in den Schreiben an Jessen endgültig loszuwerden. Dies erklärte Hannah ihm im Sommer 1931 und ergänzte: „So flüchte ich mich nicht in die Öffentlichkeit, sondern ins Tintenfass und von da ins Feuer, wofür Sie bitte Sorge tragen werden.“

Zum Glück für die Nachwelt kam Sydney Jessen dem Wunsch Hannah von Bredows nicht nach. Ihre erhalten gebliebenen Briefe an ihn, an ihre Freunde und Familienangehörigen sowie ihre Tagebuchaufzeichnungen vermitteln dank der darin enthaltenen detaillierten gesellschaftlichen und politischen Beobachtungen und Reflexionen einen tiefen Einblick in die ausgehende Monarchie, in den Todeskampf der Weimarer Republik und in die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus. Das Privileg einer „höheren“ Geburt, mehr aber noch ihre breite Bildung, ihr scharfer Verstand und ihr außergewöhnliches Gedächtnis verschafften Hannah von Bredow den Zugang zu den Elitekreisen ihrer Zeit. Bereits früh hatte sie eine enge geistige Verbindung zu ihrem Vater und Großvater verspürt und entwickelte ein ausgeprägtes Interesse an Geschichte und Politik, welches sie durch ausgiebige Lektüre und intensive Gespräche stillte.

Die schriftlichen Selbstzeugnisse aus den letzten Jahren der Weimarer Republik sowie der gesamten Zeit der NS-Diktatur weisen Hannah von Bredow als ebenso scharfsinnige wie scharfzüngige Chronistin der Jahre von Unsicherheit und folgender Tyrannei als eine „Femina Politica“, aus. So traf sie mit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zusammen und führte wiederholt Gespräche mit den letzten Weimarer Kanzlern Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher. Ihr ständiger Gesprächspartner und Informant war von Januar 1931 bis Januar 1933 der enge Vertraute der Reichskanzler, die „graue Eminenz“ Erwin Planck.

 

Früh machten die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck ihre Schwester Hannah von Bredow auch mit Adolf Hitler, Hermann Göring sowie mit anderen NS-Größen und Wirtschaftsführern bekannt. Im Auswärtigen Amt unterhielt sie Kontakte zu Ministern und Staatssekretären sowie in verschiedenen deutschen Auslandsvertretungen zu Botschaftern. Regelmäßig erhielt sie Einladungen zu Empfängen und Essen von ausländischen Botschaften in Berlin und hatte Mitarbeiter von diesen bei sich zu Gast.

Von den verschiedenen Treffen mit Prominenten schildert Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen zeitnah und minutiös ihre Eindrücke und bemerkt hierzu: „Wenn ich so schnell aufschreibe, was ich gesehen und gehört habe, so versuche ich nur eines, die Situation möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben und die in Anführungsstrichen stehenden Reden möglichst im Wortlaut.“ Hannah von Bredows durch ihre Sehschwäche entwickelte außergewöhnliche Hörfähigkeit und ihr von dritter Seite immer wieder bestätigtes ausgezeichnetes Gedächtnis sprechen für eine hohe Authentizität ihrer schriftlichen Selbstzeugnisse.