Abi und ein paar andere Probleme

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Abi und ein paar andere Probleme
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Rebecca Rasmussen

Abi und ein paar andere Probleme

Erfahrungen einer Abiturientin

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Das bin ich

Allein zu Haus

Alex, die Landplage

Christopher, Teil 1

Christopher, Teil 2

Endlich 18

Amsterdam

Erwachsen

Ehepaare

Vorabi 1

Vorurteile

Abwege 1

Abwege 2

Vorabi 2

Rache

Weihnachten

Abwege 3

Phonies

Vorabi 3

Impressum neobooks

Das bin ich

Ich heiße Yasmine Hildegard Müller. Unmöglicher Name, gleich dreimal unmöglich, besonders in der Kombination! Für Müller kann keiner was, ist zwar wenig originell, aber wenigstens nicht ambitioniert. Hildegard ist altmodisch, aber geschenkt, musste sein wegen Oma. Stört mich nicht weiter, weil keiner weiß, dass ich so heiße. Ich kürze meinen Mittelnamen immer ab, wie die Amerikaner: Yasmine H. Müller.

Das Problem ist mein Rufname: Yasmine mit Y am Anfang und E am Ende. Diese Peinlichkeit verdanke ich meiner Mutter. Mein Vater wollte mich Marie nennen; aber meine Mutter wollte was Gehobenes, was Französisches; daher auch das Y und das E. Einfach Jasmin war ihr zu wenig. So was wächst ja in jedem Garten. Dabei kann meine Mutter überhaupt kein Französisch. Sie hat nur die Realschule geschafft, und das mit Mühe. Sie sitzt in einem Drogeriemarkt an der Kasse und bildet sich ein, das sei was Besseres, als bei Aldi an der Kasse zu sitzen. Sie meint, Drogeriemarkt, das sei so was Ähnliches wie Apotheke. Da sitze man nicht einfach an der Kasse, sondern sei so was wie Beraterin. In Wirklichkeit sitzt sie genau so an der Kasse wie die bei Aldi, nur dass die dort mehr Umsatz machen. Aldi verachtet meine Mutter. Da geht sie nie einkaufen. Sie geht in den Ökoladen, wo es die schrumpeligen Früchte gibt, oder allenfalls zum Marktkauf. Aldi sei was für Leute ohne Geld, meint sie. Da will sie nicht gesehen werden.

Ich hasse meinen Namen seit meinem elften Lebensjahr. Da hat mir Herr Schmitz, unser Nachbar, der aus Köln stammt, den Jasmin-Witz von Tünnes und Schäl erzählt: „Sagt der Tünnes zum Schäl: Dat riecht hier irgendwie nach Jasmin. Sagt der Schäl zum Tünnes: Dat is nicht Jasmin, das is min Jas.“ Seitdem muss ich bei Jasmin immer an einen Pups denken, auch wenn man es französisch schreibt. Außerdem habe ich mit Vierzehn festgestellt, dass Jasmin, besonders wenn man den Namen auch noch Französisch schreibt, ein typischer Hauptschulname ist. Ich gehe aber aufs Gymnasium, wo die meisten Mädchen einen ordentlichen Namen haben, und nicht so einen französischen, an dem man gleich erkennen kann, dass die Eltern es nötig hatten, ihre Rotznasen aufzuwerten.

Also wie gesagt, meinen Namen hasse ich seit ich elf bin, meine Mutter schon viel länger. Sie wollte immer hoch hinaus, und ich sollte ihr dabei helfen; dabei habe ich aber nicht mitgemacht. Ich habe mich nicht zu ihrem Ruhm einspannen lassen.Und jetzt beneidet sie mich, weil ich aufs Gymnasium gehe, während sie das nicht geschafft hat. Trotzdem gibt sie mir immer Ratschläge und klärt mich darüber auf, was in der Oberstufe und im Studium auf mich zukommt. Dabei komme ich bestens klar. Besonders in Sprachen bin ich gut. Das Talent habe ich ihrer Meinung nach von ihr geerbt. Sie gibt den Lehrern die Schuld, dass sie ihr Talent nicht zeigen konnte. Überhaupt schimpft sie gerne auf die Lehrer. Deshalb will ich auch Lehrerin werden. Natürlich nicht nur deshalb. Ich mag Kinder und ich glaube, ich kann gut erklären. Das habe ich bei den Nachhilfestunden festgestellt, die ich hin und wieder gebe.

Überhaupt belehrt mich meine Mutter gern: Ich soll nicht so krumm gehen, ich soll was Anderes anziehen, was besser zu mir passt, ich soll auf meine Figur achten und nicht so viel Süßkram essen, ich soll mal in die Sonne gehen und Laufen täte mir auch gut. Ich habe aber keine Lust zu laufen und will kein Kleiderständer werden wie meine Mutter und erst recht nicht meine Haut in der Sonne oder im Solarium verbrennen und dann wie ein Grillhähnchen aussehen. Das soll sie machen, wenn es ihr gefällt. Sie meint, so wie ich aussehe, kriege ich keinen Mann ab. Das hat sie immerhin geschafft; aber natürlich ist sie unzufrieden mit ihm, schon allein deshalb, weil er Müller heißt, und sie somit auch. Sie hätte ja gerne einen Graf Rotz geheiratet. So einer hat aber nicht bei ihr angebissen, und da ist sie eben bei Müller hängen geblieben. „Müll, Müller, am müllsten“, ärgert sie sich. Sie würde sich gerne wenigstens Mulle´re schreiben, mit Betonung auf der zweiten Silbe; geht aber nicht.

Mit meinem Vater könnte sie eigentlich ganz zufrieden sein. Der ist Ingenieur und ganz in Ordnung, allein schon deshalb, weil er mich gerne Marie genannt hätte. Marie Müller, das hätte gepasst. Außerdem ist das eine Alliteration, wie mir meine Deutschlehrerin Frau Hundsgeburth beigebracht hat. Apropos Hundsgeburth: Es gibt schlimmere Namen als Müller. Ich werde mich mal erkundigen, ob man seinen Vornamen ändern kann, wenn man unter ihm leidet. Auf jeden Fall werde ich, wenn ich studiere und einen neuen Bekanntenkreis bekomme, mich immer Marie nennen lassen, auch wenn das nicht in meinen Papieren steht.

Ich werde in Kiel studieren. Das ist einigermaßen weit weg und am Meer. Ich mag das Meer, besonders im Winter und Herbst, wenn es stürmt und die Möwen mir um den Kopf flattern. Im Sommer ist es weniger schön. Da ist es mir zu heiß, und dann liegen da überall die eingeölten Touristen herum wie Robben auf der Sandbank, aber nicht so schön schwarz wie diese putzigen Balancierkünstler, die ich mal bei einer Vorführung im Zoo mit Bällen habe spielen sehen, sondern rot wie gekochte Hummer.

Meine Mutter macht sich Sorgen, weil ich mit 17 immer noch keinen Freund habe. Für sie ist das eine Katastrophe. Bei ihr hätten die Männer Schlange gestanden, als sie 17 war, sagt sie. „Deshalb hast du auch keine Zeit gehabt, was zu lernen“, habe ich ihr geantwortet. Sie hat mich sogar zur Psychiaterin geschickt. Fünfmal war ich da und habe mit der Tante gequatscht. Eigentlich war das ganz nett; aber zu meiner Mutter habe ich gesagt, dass ich das ganz fürchterlich finde und nicht mehr hingehe. Und mein Verhalten habe ich erst recht nicht geändert. Ich wollte meiner Mutter nicht den Triumph gönnen, „Siehste!“ zu sagen. Außerdem fand mich die Psychiaterin ganz ok. Als ich zu ihr gesagt habe, das Problem liegt eher bei meiner Mutter, hat sie mir auch nicht widersprochen. Das verbuche ich mal als Zustimmung.

Meine Freundin Gesa hat wie die meisten in meinem Jahrgang schon lange einen Freund. Sie war auch schon mit ihm im Bett. Er heißt Nico und ist eigentlich ganz nett. Jedenfalls gibt es schlimmere. Wenn ich mir demnächst auch einen Freund zulege, dann eigentlich nur, damit ich nicht dauernd gefragt werde, warum ich keinen habe. Manche gucken mich auch schon ganz mitleidig an. Ansonsten brauche ich vorläufig keinen Freund. Ich habe Besseres mit meiner Zeit zu tun. Wenn ihr nun denkt, ich hätte Angst vor Sex: Irrtum! Ich weiß, was da auf mich zukommt. Wir leben ja nicht mehr in einer Zeit, in der man sich die Sache von den Bienchen und den Blümchen anhören muss und sich dann im Bett darüber wundert, warum da so wenig Bienchen herumsummen. Man guckt einfach mal ins Internet und dann weiß man Bescheid. Ich kann aber vorläufig gut darauf verzichten. Ich lese lieber ein Buch oder lege mich unter einen Baum und schaue, wie die Wolken durch die Äste ziehen.

Irgendwann will ich natürlich Kinder haben. Drei wäre gut. Aber zuerst will ich mal studieren. Und dann suche ich mir einen Mann, der was auf dem Kasten hat. Er darf auch ruhig Fußball gucken, wenn er sonst nicht blöd ist. Ich bin da tolerant. Ich werde ihn auf jeden Fall besser behandeln als meine Mutter meinen Vater, weil ich meine Träume selbst verwirklichen will und nicht darauf angewiesen sein werde, dass er mich über die Zugbrücke ins Schloss trägt. Bezeichnenderweise ist der Lieblingsfilm meiner Mutter „Pretty woman“. So ein Kitsch!

Am häufigsten habe ich Streit mit meiner Mutter wegen meiner Klamotten. Sie meint, ich laufe rum wie der letzte Penner. Sie will doch tatsächlich, dass ich Röcke und Kleider anziehe und aussehe wie die Püppchen, die ich als Kind bekommen habe. Nicht mit mir! Seit ich zwölf bin, trage ich nur Jeans, und zwar dunkle. Am liebsten habe ich es, wenn sie unten ein bisschen ausgefranst sind. Die kann man ja schon ausgefranst kaufen; aber so was will ich nicht haben. Ich mache mir selbst die Fransen hinein. Ich hasse nämlich Markenklamotten. Mit so was anzugeben, finde ich blöd. Ok, eine Markenklamotte muss sein: Doc Martens Schnürstiefel. Die trage ich bei jeder Temperatur und jedem Wetter. Ich habe es mal eine Zeitlang mit Plateauschuhen versucht, weil ich ziemlich klein bin und es leid war, mir immer den Hals zu verrenken, wenn ich mit anderen geredet habe. Aber da hatte ich das Gefühl, ich laufe auf Stelzen und kippe demnächst um. Und außerdem ist das unecht, wenn man sich größer macht als man ist. Blusen kommen nicht in Frage. Das sieht mir einfach zu brav aus. Da fühlt man sich gleich wie vierzig. Ich trage Pullover oder Sweat-Shirts oder auch T-Shirts, wenn es heiß ist. Ein Problem ist mein Busen. Ich habe einen. Ich kann nichts dafür, er ist mir einfach irgendwann gewachsen. Ich habe kein Silikon einfüllen müssen. Manche Mädchen beneiden mich darum. Ich wäre aber auch zufrieden, wenn ich weniger hätte; aber nun habe ich eben mehr. Eigentlich ist das aber auch weniger ein Problem für mich als für die Männer, die da hinstarren. Das stört mich manchmal, aber wenn ich jemanden ärgern will, ziehe ich halt ein Shirt mit Ausschnitt an. Ich würde mir ja gerne ein kleines Tattoo stechen lassen, nichts Großes, nur so eine kleine Rose am Unterschenkel; aber dafür brauche ich die Genehmigung meiner Mutter, solange ich noch nicht 18 bin, und die bekomme ich nicht.

 

Ich habe noch einen kleinen Bruder. Naja, klein ist er eigentlich nicht mehr. Er ist einen Kopf größer als ich, obwohl er erst 14 ist: Alessandro Maximilian, auch so ein Name, der wunderbar zu Müller passt. Als Kind war er mal ganz niedlich; jetzt ist er eine Landplage. Er nervt ständig und macht nur Scheiß. Er rebelliert gegen alles; aber ohne Sinn und Verstand. Ich bin zwar auch rebellisch, mache aber trotzdem, was nötig ist. Früher habe ich mich manchmal auch blöd verhalten und gekratzt und gebissen, wenn mir einer krumm gekommen ist. Aber damit erschwert man sich nur das Leben. Das habe ich Alex auch schon mal klar machen wollen; hat aber nicht geholfen. Dass er so verkorkst ist, ist natürlich kein Wunder. Schließlich hat er dieselbe Mutter wie ich. Wenn er so weitermacht, fliegt er noch von der Realschule. Meine Freundin Gesa hat auch so einen chaotischen kleinen Bruder, obwohl der nicht ganz so schlimm ist wie Alex. Aber neulich hat Gesa gesagt: „Ich bin ja grundsätzlich gegen die Todesstrafe; aber in einem Fall würde ich eine Ausnahme machen: bei meinem Bruder.“

Ich gehe gerne in die Schule. Ich habe Spaß daran, was zu lernen, und die meisten Lehrer sind gar nicht übel. Die freuen sich darüber, wenn da jemand vor ihnen sitzt, der was lernen will.

Was ich hasse, sind Weicheier und Nichtskönner. Gibt es auch unter den Lehrern. Die lassen sich von jedem Dummschwätzer eine gute Note aus den Rippen leiern, weil sie keinen Durchblick haben und mit den Schülern Gut-Freund sein wollen. Ich bin für Gerechtigkeit. Wer nichts kann, kriegt `ne Fünf. Was soll aus solchen Nullen werden? Die studieren dann Sozialwissenschaften, weil sie glauben, da können sie sich weiter durchschummeln. Aber Deutschland braucht ja auch Taxifahrer.

Politik habe ich abgewählt. Das ist so ein Laberfach, wo alle, die nichts gelernt haben, besonders viel reden. Das ist nicht so meine Sache. Wenn ich eine Sache nicht durchschaue, halte ich den Mund. In der Mathematik weiß man, woran man ist, in der Politik nie. Die einen sagen so, die anderen anders. Wenn man hört, was die Politiker über sich selbst sagen, haben sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ich halte mich aber lieber an das, was sie über andere sagen. Danach sind die alle Lügner, Träumer, Betrüger und Trottel. Wenn ich wählen kann, wähle ich die Tierschutzpartei. Über die sagt keiner was Negatives, weil sich das gar nicht lohnt. Die werden einfach totgeschwiegen, weil sie noch nicht einmal ein Prozent der Stimmen bekommen. So eine Partei gefällt mir. Außerdem weiß man da, wofür die stehen: Tierschutz. Dafür stehe ich auch.

Ich bin Vegetarierin. Ich fresse keine Tiere. Das ist die einzige Sache, bei der ich mit meiner Mutter einer Meinung bin. Mein Vater und mein Bruder sind dagegen Fleischesser. Sie lassen sich auch mit den besten Argumenten nicht davon abbringen. Sie müssen sich allerdings das Fleisch selbst braten, wenn sie es auf dem Teller haben wollen, oder zu McDonalds gehen. Ich jedenfalls werde nie in meinem Leben Tiere essen. Tiere sind unschuldig, auch Raubtiere, obwohl die natürlich andere Tiere fressen. Aber die können ja nicht anders. Ein Löwe kann nicht von Gras leben und er denkt sich nichts dabei, wenn er ein Zebra anfällt. Wir Menschen aber können auch ohne Tierfleisch leben und wir machen uns schuldig, wenn wir trotzdem Tiere töten.

Ich bin aber keine Veganerin. Veganer finde ich blöd. Wenn man die Kühe nicht melkt, schreien sie vor Schmerzen, und die Hühner können auch gerne mal auf ein Ei verzichten. Sie würden die Eier ja sowieso nicht ausbrüten, wenn nicht Brütezeit ist, sondern einfach vergammeln lassen. Ich bin auch sonst nicht ganz konsequent. Wenn mich eine Mücke sticht, haue ich sie tot. Da gilt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Manchmal weiß ich auch nicht so recht, was ich tun soll. Ich mag Katzen; aber wenn ich sehe, wie eine Katze eine quiekende Maus im Maul hat und dann wieder laufen lässt und wieder einfängt und dann in die Luft wirft, bevor sie die Maus frisst, dann rette ich die Maus, obwohl diese Spielchen auch zur Natur der Katze gehören und ohne Katzen die Mäuse überhand nehmen würden. Aber ich rette die Maus trotzdem, weil auch die Maus eine Seele hat oder, sagen wir besser, Gefühle wie Angst und Freude, und sicher auch Schmerzen empfindet. Das war aber jetzt vorläufig genug über Tiere.

Seit drei Monaten habe ich meinen Führerschein. Das hat mich eine Menge Geld gekostet, weil ich zweimal durch die praktische Prüfung gefallen bin. Ich kann schlecht Entfernungen einschätzen, besonders wenn sich die Gegenstände bewegen. Deshalb kann ich auch schlecht einen Ball fangen, was immer ein bisschen blöd aussieht, und deshalb habe ich vor Ampeln und Kreuzungen auch immer zu früh gebremst, weshalb dann die Idioten in den nachfolgenden Wagen gehupt haben, obwohl sie doch sehen konnten, dass ein Fahrschulwagen vor ihnen gefahren ist. Um diesen Fehler mit dem frühen Bremsen zu vermeiden, habe ich dann eben später gebremst, aber das war dann oft zu spät, sodass ich eine Vollbremsung machen musste. Meist hat aber der Fahrschullehrer die Vollbremsung gemacht, und das macht sich nicht gut bei der Fahrprüfung. Deshalb habe ich drei Anläufe gebraucht, alles von meinem Ersparten; aber das war mir die Sache wert. Ein Auto macht einen unabhängig. Auch wenn ich mir jetzt noch kein Auto leisten kann, bereite ich schon mal meine Unabhängigkeit vor. Mein Vater lässt mich manchmal mit seinem Auto fahren, damit ich nicht aus der Übung komme. Natürlich muss er daneben sitzen, solange ich noch 17 bin. Aber das dauert nicht mehr lange. Und er hat gesagt, dass ich eigentlich schon ganz gut fahre und dass ich dann auch manchmal alleine mit seinem Auto fahren kann, wenn ich 18 bin.

Die Fahrstunden waren ein ziemlicher Stress, erstens, weil ich immer zu früh oder zu spät vor den Ampeln gebremst habe, und zweitens, weil der Fahrschullehrer ein geiler Bock war. Immer wenn er mir was erklärt hat, besonders beim Rückwärtseinparken, hat er sich weit zu mir herüber gebeugt und in den Ausschnitt gestarrt. Dabei hat er dann immer die Hand wie aus Versehen auf meinem Oberschenkel gehabt, als würde er sonst keinen Halt finden. Einmal habe ich mir extra einen Pullover mit tiefem Ausschnitt angezogen, damit er was zu gucken hat, was er nicht anfassen darf. Er hat richtig Stielaugen bekommen. „Augen auf die Straße!“, habe ich zu ihm gesagt, „das haben Sie mir doch beigebracht.“ Er war zuerst ganz verdattert. Dann hat er gemeint: „Ich muss doch sehen, ob du deine Augen am Schaltknüppel oder auf der Straße hast.“ Da habe ich gesagt: „Meine Augen sind aber höher und nicht da, wo Sie hingucken.“

Allein zu Haus

In den Sommerferien bin ich zu Hause geblieben, allein. Mein schrecklicher Bruder war für drei Wochen in einem Feriencamp auf Langeoog und meine Eltern fuhren für zwei Wochen nach Travemünde. Natürlich gab es zunächst den alljährlichen Streit zwischen meinen Eltern, wohin sie denn fahren sollten: Meine Mutter will immer an den Strand, am liebsten im Süden, mein Vater will in die Berge. Meine Mutter hat mal wieder gewonnen, aber mein Vater hat wenigstens erreicht, dass er nicht in den Süden fahren und bei 30 Grad in der Sonne schmoren muss. „Da ist ja auch Thomas Mann mit seiner Familie immer hingefahren“, hat er über Travemünde gesagt. Das hat meine Mutter kompromissbereit gemacht. Dass Alex in ein Feriencamp wollte, haben meine Eltern gerne hingenommen. Wer will sich auch schon freiwillig von meinem Bruder den Urlaub versauen lassen? Aber dass ich auch nicht mitwollte, haben sie nicht so leicht akzeptiert. Ich schwimme eigentlich ganz gern im Meer; aber die Ostsee ist doch ein Tümpel. Da sind die Wellen kaum 20cm hoch, und vor allem habe ich wenig Lust am Strand von Travemünde zu liegen, trotz Thomas Mann. Da gibt es mir einfach zu wenig Bäume. Und dann muss man sich einölen und hat dann den Sand an sich kleben. Und dann muss man ins Wasser gehen, um den Sand wieder loszuwerden und sich dann wieder einölen, damit man keinen Sonnenbrand bekommt, und dann geht das Spielchen wieder los. Oder es regnet. Dann hockt man den ganzen Tag im Hotel und denkt daran, dass man zu Hause viel mehr Platz hat. Der Hauptgrund aber, warum ich nicht mitwollte: Ich wollte endlich mal alleine sein.

Ich habe die Sache auch geschickt angestellt oder, um mich mal Kentucky-schreit-ficken- mäßig auszudrücken: Das habe ich gefickt eingeschädelt: Ich habe mir einen Ferienjob für vier Wochen im Supermarkt besorgt, und der Urlaub meiner Eltern fiel „unglücklicherweise“ genau in diese vier Wochen.

„Wir können dich doch nicht hier allein lassen“, hat meine Mutter gemeint, „und was willst du essen?“

„Trockenes Brot und Wasser“, habe ich gesagt, „und ab und zu einen Regenwurm. Ich soll doch abnehmen.“

Das war doch eine nette Antwort, fand ich. Das überzeugte meine Mutter aber nicht. Psycho bleibt psycho:„Wenn wir wiederkommen, werden wir unser Heim nicht wiedererkennen. Wahrscheinlich finden dann hier die wildesten Orgien statt.“

„Jassi ist doch vernünftig“, hat mein Vater gesagt. „Auf dich kann man sich doch verlassen, Jassi, oder?“

Ich habe keinen Grund gesehen, ihm zu widersprechen.

Meiner Mutter gingen die Argumente aus:

„Du sollst doch nicht immer Jassi sagen. Unsere Tochter heißt Yasmine. Jassi sagt der Schmitz zu seinem Hund, wenn er vor die Tür will: Kumm, loßens Jassi jonn.“

Vielleicht hat meine Mutter doch Sprachtalent. Ich hatte aber keine Zeit, mich darüber zu wundern. Ich musste nachsetzen:

„Es ist doch schön, wenn ihr mal ohne Kinder Urlaub machen könnt“, habe ich gesäuselt. „17 Jahre lang habt ihr euch mit uns herumplagen müssen, da könnt ihr euch auch mal einen richtigen Urlaub gönnen.“

Ich kam mir vor wie ein Therapeut: Immer positiv bestärken statt zu meckern. Die fünf Stunden bei der Psychotante haben sich ausgezahlt.

„Die Kinder sind jetzt in dem Alter, in dem man sie auch mal loslassen muss“, hat mein Vater gemeint. „Und dann finde ich es ja auch gut, dass Jassi ins Arbeitsleben hineinschnuppert und erfährt, wie man Geld verdient.“

Das war´s dann. 14 Tage allein, ein Traum! Im Supermarkt habe ich an der Kasse gesessen, mal Frühschicht, mal Spätschicht. Wenn man sich nicht zu blöd anstellt, beherrscht man den Job nach einem halben Tag. Der Computer kennt ja die Preise. Es kamen viele Bekannte vorbei, die mich alle freundlich gegrüßt haben. Die Gutmenschen, die gemeint haben, ich sei zu bedauern, weil ich meine Ferien an der Kasse verbringen müsste, habe ich damit getröstet, dass ich den halben Tag frei hätte. Am Anfang habe ich ein bisschen Rückenschmerzen bekommen; aber ich hatte bald heraus, wie man sitzen muss, damit sich der Rücken wieder entspannt.

Wenn ich zu Hause war, ging ich zuerst einmal durchs ganze Haus und sagte mir: „Das ist jetzt alles mein!“ Ich hielt mich meist im Wohnzimmer statt in meiner Kammer auf, weil ich den großen Raum auf mich wirken lassen wollte. Manchmal kam Gesa vorbei, die wegen Nico nicht wegfahren wollte. Nico jobbte nämlich in den Ferien bei Mercedes.

 

In den 14 Tagen, die meine Eltern in Travemünde abhingen, gab es wie bestellt eine Hitzeperiode: 30 Grad in Norddeutschland. Ich gönnte meiner Mutter das Vergnügen, vor allem aber meinem Vater, weil meine Mutter ihn so nicht wegen der Wahl von Travemünde schikanieren konnte. Ich habe mich aber auch gefreut, als es drei Tage gegossen hat. Ein bisschen Strafe muss ja auch sein.

Wenn ich Frühschicht hatte, bin ich am Nachmittag mit Gesa ins Schwimmbad gegangen. Wie gesagt, schwimme ich gerne. Erstaunlicherweise war das Schwimmbad voll, obwohl doch alle Leute im Urlaub sein sollten. Wir fanden aber trotzdem immer einen schattigen Platz unter einem Baum, wo sonst nur Mütter mit kleinen Kindern Schutz suchen. Die meisten Leute wollen nämlich lieber in der Sonne braten. Gesa weiß, dass ich nicht in die pralle Sonne will, und sie braucht keine Sonne. Sie ist so ein dunkler Typ, der sogar braun wird, wenn er noch die Kleider anhat.

Wir blieben aber selten allein. Im Gegensatz zu mir ist Gesa sehr kommunikativ, wie das auf gut Neudeutsch heißt. Also schauten einige Freundinnen vorbei, um mit uns zu quatschen. Und da Gesa auch noch süß aussieht, bemühten sich auch einige Jungs zu uns und versuchten sie in die Sonne zu locken, was sie immer ablehnte. Besonders nervig war Stefan aus unserem Jahrgang, ein richtiger Blödmann und Partyhengst, der glaubt, er habe bei Frauen einen Schlag.

„Einsam?“, fragte er, als er mit Zigarette im Mund auf uns zu schwankte.

„Zähl mal!“, sagte Gesa, „Oder kommst du nicht bis zwei?“

„Ich komm´ sogar bis drei“, meinte er und zählte: „Eins, zwei, drei.“

„Wie schön war doch die Einsamkeit!“, stöhnte Gesa und schaute zu mir hin.

„Willst du nicht mit in die Sonne?“, fragte Stefan.

„Da wird man so geblendet“, klagte Gesa.

„Geblendet?“

„Ja“, sagte Gesa, „da sitzen so viele Blender herum.“

Trotz seiner wenigen Hirnzellen schnallte Stefan, was gemeint war. Nach der bekannten Anmacherdevise, dass Angriff die beste Verteidigung ist, versuchte er sich in Ironie:

„Von so viel Geist bekomme ich Kopfschmerzen. Au!“

„Dann kühl´ ihn dir mal ab!“, sagte Gesa.

Er trollte sich.

„Bis bald, Schnuckiputzi!“, rief er noch einmal aus sicherer Entfernung.

Nicht dass ich besonderen Wert darauf gelegt hätte, von Stefan angemacht zu werden, störte es mich doch, dass er mich wie Luft behandelt und nur mit Gesa geredet hatte, obwohl die doch, wie alle wussten, mit Nico zusammen war.

Ich rächte mich, indem ich mir Stefans Zukunft ausmalte:

„Ich stelle mir vor, wie Stefan in zehn Jahren als langjähriger Hartz IV-Empfänger in einem alten, dreckigen Feinripphemd und in einer Schlabberjogginghose vor dem Fernseher sitzt, Chips frisst und Bier säuft“, sagte ich zu Gesa.

„Genau“, antwortete Gesa lachend, „du bist eine Prophetin. Genau so wird er da sitzen und seiner Frau, die so blöd war ihn zu heiraten, ins Gesicht rülpsen: alte Schlampe!“

„Kann der Blödmann mich nicht wenigstens grüßen?“, fragte ich. „Schließlich wird er mal von unsern Steuern leben.“

„Du wirkst ein bisschen arrogant und abweisend“, tröstete mich Gesa.

„Das bin ich aber gar nicht“, protestierte ich.

„Das weiß ich doch“, sagte Gesa, „aber so ein Trottel wie Stefan ist natürlich zu blöd, hinter die Fassade zu schauen. In diesem Fall kannst du allerdings froh sein, dass du nicht durchschaut worden bist.“

Ganz überzeugt war ich nicht von diesem Trost. Ich bin eigentlich gar nicht arrogant, ich bin nur schüchtern. Natürlich gibt es Leute, die ich blöd finde, weil sie eingebildet oder unfair sind. Aber die meisten finde ich eigentlich ganz ok. Ich weiß gar nicht, warum ich so schüchtern bin. Eigentlich habe ich gar keinen Grund dazu. Ich bin nicht dumm und ich sehe zumindest erträglich aus. Das sage ich mal in aller Bescheidenheit. Trotzdem habe ich Angst vor Zurückweisung und mache deshalb den Mund vor den meisten Menschen nur auf, wenn ich etwas weiß und mir sicher bin. In den zwischenmenschlichen Beziehungen ist man aber nie sicher. Man weiß nie, was die Menschen wirklich meinen, außer ein paar Bekannten. Warum ich aber so viel mehr Angst vor Zurückweisung habe als die meisten, weiß ich nicht. Vielleicht hätte ich doch noch länger zu der Psychotante gehen sollen. Die hat in meiner Kindheit rumgestochert. Ich konnte mich zwar an dies und das erinnern, aber ein richtiger Hammer war nicht dabei. Vielleicht habe ich auch einfach zu viel Phantasie und denke viel Schlechtes in die Leute hinein, die ganz harmlos auf mich zukommen.

Gesa war inzwischen eingedöst, weil sie in der letzten Nacht in der Disco serviert hatte. So konnte ich meinen Gedanken nachhängen. Weil ich schüchtern bin, spiele ich gerne Theater. Da kann man alles herauslassen, was man an Gefühlen hat: Man kann verliebt sein oder richtig böse. Man kann auch einen Großkotz spielen, ohne dass man sich dafür rechtfertigen muss. Es steht ja alles so im Skript. Deshalb bin ich auch gleich in die Theater-AG gegangen, als ich in die Oberstufe gekommen bin. Am liebsten spiele ich Spötter, so richtig fiese Leute. Das macht Spaß.

Ich ließ meine Augen zum Pool schweifen. Da lagen sie alle, die nicht weggefahren oder schon wieder zurückgekommen waren: meine Mitschüler und einige andere Jugendliche, im Mittelpunkt Teresa, unsere Barbie: strohblonde Haare und trotzdem braune Haut und eine Topfigur. Das musste man einfach neidlos anerkennen. Sie hatte zu Hause bleiben müssen, weil ihr Vater nicht weg konnte. Er war Leiter eines Kaufhauses und sein Stellvertreter, der den Job im Sommer hatte übernehmen sollen, hatte einen Herzinfarkt erlitten und lag im Krankenhaus. Und der neue Vize musste erst eingearbeitet werden. Teresa ist eigentlich gar nicht blöd, trotz ihrer blonden Haare und ihrem Babyface. Sie ist sogar ausgesprochen nett und freundlich. Sie tut mir trotzdem ein bisschen leid, erstens, weil alle Leute denken, sie müsste doch blöd sein, wenn sie so gut aussieht, und zweitens, weil Top-Aussehen ein Problem sein kann. Ich habe neulich einen Bericht im Fernsehen gesehen über solche Leute, die sich zu einem Meeting bei „Beautiful people anonymous“ getroffen haben. Das ist eine Organisation wie die der Anonymen Alkoholiker. Ich dachte zuerst: Was soll der Quatsch? Die Leute sollen doch froh sein, dass sie gut aussehen. „Ugly people anonymous“, das würde Sinn machen. Aber da habe ich was Erstaunliches erfahren: Auch die Schönheitsköniginnen haben ihre Probleme. Wenn man von allen Leuten immer angestarrt und bewundert wird, kann sich das zu einer richtigen Sucht entwickeln, genau wie der Alkoholkonsum bei den Alkoholikern. Die kriegen dann davon nie genug und suchen immer neue Bewunderer. Und dann besteht die Gefahr, dass die Schönen völlig passiv werden, weil ihnen alles zufällt, ohne dass sie etwas dafür tun müssen, außer sich schön zu machen. Und wenn sie dann älter werden und das mit der Schönheit ein bisschen nachlässt, dann wissen sie nichts mit sich anzufangen und sind frustriert, weil ihnen nicht mehr der Hintern nachgetragen wird. Da ist es schon besser, wenn man sich im Leben was erarbeitet hat, worauf man stolz sein kann.

Auf unsere Barbie sehe ich auch das Problem zukommen. Komischerweise hat sie keinen festen Freund. Man sieht sie mal mit dem einen, dann mit einem anderen zusammen, manchmal auch mit etwas älteren Männern in einem teuren Auto. Man weiß aber nichts Genaues. Ich glaube, sie will sich nicht festlegen, weil sie es genießt, so viele Bewerber um sich zu haben. Im Schwimmbad ist das besonders auffällig. Da hocken dann gleich fünf bis zehn Jungs um sie herum. Zum Glück tragen die ja heutzutage labbrige Badeshorts und nicht die knappen Badehosen wie in früheren Zeiten. Das muss ja damals schrecklich für die Kerle gewesen sein: So eine Barbie in Griffweite und dann mussten sie dauernd ins kalte Wasser springen, damit man die Beule in der Hose nicht sah.

Das große Wort in der Gruppe unten führte aber Sandra. Sandra ist Teresas beste Freundin, aber was das Aussehen anbetrifft, das Gegenteil von ihr. Von Figur kann man bei ihr gar nicht reden, sie ist ein Kloß, oder um es etwas gepflegter auszudrücken: Sie ist unvorteihaft proportioniert. Trotzdem strahlt jedes Pfund an ihr – und davon hat sie reichlich – ein gnadenloses Selbstbewusstsein aus. Sie ist witzig und zieht alle und alles durch den Kakao. Ihr Selbstbewusstsein ist durch nichts zu erschüttern. Auch wenn sie mal wieder in ein Fettnäpfchen tritt, was bei ihrer Geschwätzigkeit häufig vorkommt, gerät sie nicht in Verlegenheit, sondern lacht alles weg, und schon geht es weiter. Ich frage mich immer, wie sie zu so viel Selbstsicherheit kommt, genauso wie ich mich frage, warum die mir fehlt. Vielleicht sollte ich doch Psychologie studieren.