Wörterbuch der Soziologie

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Wörterbuch der Soziologie
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[1]Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

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Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto

facultas.wuv · Wien

Wilhelm Fink · Paderborn

A. Francke Verlag · Tübingen

Haupt Verlag · Bern

Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck · Tübingen

Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden

Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel

Ferdinand Schöningh · Paderborn

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol

vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

[2][3]Günter Endruweit, Gisela Trommsdorff, Nicole Burzan (Hg.)

Wörterbuch der Soziologie

3., völlig überarbeitete Auflage

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/Lucius · München

[4]Dr. Günter Endruweit war Professor für Soziologie an der Universität des Saarlandes, der Technischen Universität Berlin, der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Stuttgart und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Kiel sowie als Gast an der Istanbul Üniversitesi und der Northwestern University in den USA. Er hatte zudem zahlreiche Ämter in der Selbstverwaltung in Bochum, Stuttgart (Dekan), Saarbrücken (Vizepräsident der Universität) und Kiel (Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät) inne.

Gisela Trommsdorff ist Forschungsprofessorin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Soziooekonomisches Panel (SOEP), Berlin sowie Leiterin der Arbeitsgruppe für Entwicklungspsychologie und Kulturvergleich an der Universität Konstanz. Sie bekam 2008 das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen und ist Mitglied der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften in Erfurt.

Nicole Burzan ist Professorin für Soziologie an der Universität Dortmund. Sie wurde 2013 in den Vorstand der DGS (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) gewählt und ist dort stellvertretende Vorsitzende und Schatzmeisterin. 2003–2007 war sie Junior-Professorin für »Sozialstrukturanalyse und empirische Methoden« an der FernUniversität in Hagen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Soziale Ungleichheit, Inklusion, Zeitsoziologie, Methoden der Sozialforschung.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter

www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

2. Auflage: © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2002 (ISBN 3-8252-0172-5)

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Lektorat: Claudia Hangen, Hamburg

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 8566

ISBN(ebook) 978-3-8463-8566-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

[5]Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abhängigkeit

Abhängigkeitstheorien

Aggregat, soziales

Aggression

Aktionsforschung

Akzeptanz und Sozialverträglichkeit

Alltagswissen

Alterssoziologie

Anomie

Anspruchsniveau

Arbeiterbewegung

Arbeitsbeziehungen

Arbeitssoziologie

Arbeitsteilung

Arbeitswissenschaft

Architektursoziologie

Aristokratie

Armut und Reichtum

Ausbeutung

Auswahlverfahren

Autorität

Bedürfnis

Befragung

Beobachtung

Berufssoziologie

Bevölkerungssoziologie und Demographie

Bewegung, soziale

Beziehungen, soziale

Bias

Bildungssoziologie

Biographieforschung

Boykott

Bürgertum

Bürokratie

Charisma

Clique

Datenanalyse

Definition der Situation

Differenzierung

Diskriminierung

Dunkelziffer

Ehe

Ehre

Ehrenamt

Eigentum

Einstellung

Einzelfallstudie

Elite

Emanzipation

Emergenz

Emotionen

Empirie

Entscheidung

Entwicklung

Entwicklungssoziologie

Erbe-Umwelt-Theorie

 

Erklärung

Ernährungssoziologie (Soziologie des Essens)

Erwünschtheit, soziale

Ethnomethodologie

Ethnologie

Ethnozentrismus

Evaluation

Evolutionstheorie

Experiment

Explorationsstudie

Familiensoziologie

Feldforschung

Feldtheorie

Forschung

Freizeit

Fremdenfeindlichkeit

Führung

Funktion

Gemeinschaft

Generationen

Gerechtigkeit

Geschichte der Soziologie

Geschlechterforschung

Gesellschaft

Gewalt

Gewohnheit

Globalisierung

Grounded Theory

Gruppe

Gütekriterien

Habitus

Handeln, soziales

Handlungstheorien

Herrschaft

Hypothese

Identität

Ideologie

Image

Indikator

[6]Indikatoren, soziale

Individualisierung

Individualismus, methodologischer

Individuum

Industriesoziologie

Inferenz, statistische

Inhaltsanalyse

Initiation

Inklusion/Exklusion

Innovation

Institution

Integration

Intellektuelle/Intelligenz

Interdisziplinarität

Interesse

Jugendsoziologie

Kapital

Kapital, soziales

Kapitalismus

Kaste

Katalysator, sozialer

Kindheit

Klasse

Kodierung

Kohäsion

Kollektiv

Kolonialismus

Kommunikations- und Mediensoziologie

Konflikttheorie

Konsens

Konservativismus

Konsistenz

Konstruktivismus

Konsumsoziologie

Kontrolle, soziale

Konvergenztheorie(n)/Konvergenztheorem(e)

Körpersoziologie

Korrelation

Kultursoziologie

Kunstsoziologie

Kybernetik

Land- und Agrarsoziologie

Längsschnittuntersuchung

Lebenslaufforschung

Lebensstil

Leistungsgesellschaft

Lernen

Liberalismus

Literatursoziologie

Macht

Makro- und Mikrosoziologie

Marginalität

Markt

Marktforschung

Masse

Materialismus, dialektischer und historischer

Matriarchat

Medizin- und Gesundheitssoziologie

Mensch-Tier-Sozialität

Messung

Methoden, qualitative

Methoden, quantitative

Methodologie

Migration

Milieu

Militärsoziologie

Minderheit

Mobilität

Mode

Modernisierung

Musiksoziologie

Nachahmung

Nachbarschaft

Nationalcharakter

Netzwerk

Norm und Sanktion

Operationalisierung

Organisationssoziologie

Organismustheorie

Persönlichkeit(sentwicklung)

Phänomenologie

Politiksoziologie

Position

Positivismus

Praxis

Prestige

Pretest

Probleme, soziale

Professionalisierung

Prognose

Proletariat

Prozess, sozialer

Qualifikation

Rasse

Rational Choice Theorie / Theorie der rationalen Wahl

Rationalisierung

 

Rationalismus, Kritischer

Rationalität

Raum, sozialer

Raumforschung und Raumplanung

Rechtssoziologie

[7]Reduktionismus

Regressionsanalyse

Reiz

Religionssoziologie

Revolution

Risiko

Ritual

Rolle

Rückkopplung

Schicht, soziale

Segregation

Sekundäranalyse

Sexualität

Sippe

Skalierung

Sozialarbeit

Sozialdarwinismus

Sozialethik

Sozialgeographie

Sozialgeschichte

Sozialisation

Sozialkunde

Sozialökologie

Sozialpädagogik

Sozialphilosophie

Sozialpolitik

Sozialpsychologie

Sozialstruktur

Sozialwissenschaften

Soziologie

Soziologie, Allgemeine und Spezielle

Soziologie, marxistische

Soziologie, mathematische

Soziologie, strukturell-individualistische

Soziologie, verstehende

Soziologie, visuelle

Soziometrie

Soziotechnik

Sportsoziologie

Sprachsoziologie

Stadtsoziologie/Gemeindesoziologie

Stand

Ständegesellschaft

Statistik

Status

Struktur

Strukturalismus

Studie, komparative

Subjekt, soziales

Subkultur

Sukzession

Symbol

Symbolischer Interaktionismus

Systemtheorie

Tabellenanalyse

Tabu

Tausch

Taylorismus

Techniksoziologie

Thanatosoziologie

Theorie

Theorie des Handelns

Theorie des kommunikativen Handelns

Theorie, kritische

Theorie, strukturell-funktionale

Tradition

Umweltsoziologie

Ungleichheit, soziale

Utopie

Verband

Verfahren, multivariate

Verfahren, nichtreaktive

Vergleich, interkultureller, intersozietärer

Vergleich, sozialer

Verhalten, abweichendes

Verhalten, konformes

Verhalten, prosoziales

Verhaltensmuster

Verhaltenstheorie

Verstädterung

Vorurteile

Wahrnehmung, soziale

Wahrscheinlichkeit

Wandel, sozialer

Werbung

Wert/Wertewandel

Wertfreiheit/Werturteilsproblem

Wirtschaftssoziologie

Wissenschaft

Wissenschaftssoziologie

Wissenschaftstheorie

Wissenssoziologie

Zeit

Zensus

Zivilgesellschaft

Zivilisation

Zukunftsforschung

Register

Autorenverzeichnis

[8][9]Vorwort

Sozialer Wandel ist eines der großen Themen der Soziologie. Sozialen Wandel hat auch dieses Wörterbuch der Soziologie erlebt. Die erste Auflage erschien 1989 im Ferdinand-Enke-Verlag, der später die Veröffentlichung von Soziologie-Büchern einstellte (nicht etwa wegen dieses Wörterbuchs!). Deshalb kam die zweite Auflage 2002 im Verlag Lucius & Lucius heraus, dessen Verleger sein UTB-Programm 2010 aus Altersgründen der UVK Verlagsgesellschaft übertrug, die nun diese dritte Auflage betreut hat und zudem digitale Fassungen des Wörterbuchs plant. Wir danken hier insbesondere Sonja Rothländer für ihre wertvolle Unterstützung.

Wozu braucht man, ob in gedruckter oder digitaler Variante, im Zeitalter schneller Informationsbeschaffung im Internet noch ein Wörterbuch der Soziologie? Für die Herausgeber, für die Autorinnen und Autoren, für Soziologinnen und Soziologen liegt auf der Hand, dass die fachlich fundierte Einordnung des vielfältigen sozialen Wandels in gesicherter Weise von Expertinnen und Experten erfolgen sollte, die aktuell in den verschiedenen Themengebieten der Soziologie forschen, und dass dabei insbesondere der soziologische Blick auf Phänomene wie Emotionen, Markt oder Recht, die ja auch von anderen Disziplinen thematisiert werden, im Fokus der Aufmerksamkeit steht.

Sozialer Wandel zeigt sich entsprechend auch im Inhalt des Wörterbuchs. So wurden als neue Stichworte z. B. aufgenommen: Ehrenamt, Exklusion/Inklusion, Innovation, Interdisziplinarität, Kommunikationssoziologie, Körpersoziologie, Lebenslaufforschung, Risiko, Thanatosoziologie und Wissenschaftssoziologie. Im Übrigen wurde das frühere Konzept beibehalten. Neben der bewährten Mischung aus längeren und kürzeren Beiträgen ist unter anderem kennzeichnend, dass Sie als Leserinnen und Leser sowohl nach Stichworten suchen können, denen ein eigener Beitrag gewidmet ist, als auch nach Begriffen im Register, sodass Querbezüge leicht herzustellen und Sachverhalte ohne eigenen Beitrag gut auffindbar sind.

Außerdem ist eine Veränderung in der Herausgeberschaft eingetreten. Die ursprünglichen Herausgeber danken Nicole Burzan dafür, dass sie bereit war, sich der zeit- und nervenaufreibenden Arbeit zu unterziehen und zur Kontinuität bereit zu sein. Auch im Kreis der Autorinnen und Autoren ergaben sich aus unterschiedlichsten Gründen große Veränderungen. Wir danken allen, die zu dieser Auflage Beiträge geliefert haben, für ihre Mühe.

Wir hoffen, mit dieser neuen Auflage allen an der Soziologie Interessierten eine nützliche Hilfe leisten zu können.

Kiel/Konstanz/Dortmund, im Januar 2014

Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff/

Nicole Burzan

[10][11]A

Abhängigkeit

Abhängigkeit (engl. dependence, dependency) bezeichnet einen für eine längere Zeit anhaltenden zwischenmenschlichen Zustand in Dyaden oder Gruppen als Ergebnis wiederholt abgelaufener Prozesse sozialer Bindung meist mit asymmetrischen und komplementären Tendenzen in Interaktion und Kommunikation: etwa als Gehorsam gegenüber Herrschaft oder Macht in hierarchisch gegliederten sozialen Gebilden (hierarchische Abhängigkeit) oder paradigmatisch im Rahmen der primären Sozialisation als überwiegend gefühlsmäßige Beziehung zwischen Kleinkind und Dauerpflegeperson (emotionale Abhängigkeit). Dabei sind generell und über die Bedingungen der Primärsozialisation hinaus Verhaltensdispositionen wie die Suche nach körperlicher Nähe, Fürsorge, Beachtung und Anerkennung oder die Angst vor Trennung, sozialer Isolation und Einsamkeit charakteristisch (Abhängigkeitsbedürfnis). Es können sich daraus wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse ergeben, die unter dem Aspekt abweichenden Verhaltens zu untersuchen sind, insofern sie nicht für eine Übergangsphase soziokulturell gebilligt werden (z. B. bei Liebespaaren) oder sich auf soziale Phänomene des Tausches beziehen, die Gegenstand von kulturanthropologischen Tauschtheorien und verhaltenstheoretischen Austauschtheorien sind.

Daneben wird der Begriff Abhängigkeit verwendet, um eine Beziehung von Personen zu Sachen zu kennzeichnen: etwa in der Arbeitsorganisation, wo sich die Rolleninhaber einer Steuerung und Kontrolle durch technische und nicht-technische Technologien unterwerfen (funktionelle Abhängigkeit), oder im Bereich des nicht mehr kontrollierbaren, süchtigen Konsums von psychotropen Substanzen, z. B. Alkohol (Abhängigkeitssyndrom), der Gegenstand der Soziologie sozialer Probleme ist.

Siegfried Tasseit

Abhängigkeitstheorien

Die Abhängigkeitstheorien (Dependenztheorien, engl. dependency theories) entstanden Ende der 1960er Jahre in Lateinamerika als Reaktion auf ausbleibende Entwicklungserfolge. Bei den Abhängigkeitstheorien handelt es sich nicht um ein geschlossenes Theoriegebäude, sondern um eine beträchtliche Zahl konkurrierender bzw. aufeinander aufbauender Ansätze (zusammenfassend Menzel 2010: 97–124, Boeckh 1982). Allen gemein ist, dass sie sich von den bis dahin in der Entwicklungstheorie dominierenden ökonomischen Aushandelstheorien und den sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien absetzen und Entwicklungsprozesse im Rahmen internationaler ökonomischer und politischer Herrschaftsprozesse analysieren. Kurz gefasst sehen sie die fehlende Entwicklung der Dritten Welt als eine Folge der Entwicklung der Ersten Welt an.

Während die Aushandelstheorien auf der Basis der Theorie komparativer Kostenvorteile (Ricardo) einen Wohlstandsgewinn durch die Eingliederung in den Welthandel unterstellen, blieb dieser Effekt in Lateinamerika aus. Singer und Prebisch (Prebisch 1968, Kapitel 1) verweisen zur Erklärung auf die im Vergleich zu Industrieprodukten langfristig fallenden Preise für Rohstoffe und sprechen von der Verschlechterung der Tauschverhältnisse (Terms of Trade). Marxistische Autoren, die wesentlich die weitere Debatte in den Abhängigkeitstheorien bestimmten, sehen in dieser Ungleichheit eine Grundstruktur des kapitalistischen Weltsystems, wobei zur Begründung auf frühere Imperialismustheorien (Lenin) bzw. auf Argumente im Rahmen neomarxistischer Überlegungen zurückgegriffen wurde (u. a. marxistische Arbeitswertlehre). Frank (1968) brachte das Kernargument auf die Formel »Entwicklung der Unterentwicklung«. Auf diesen Überlegungen aufbauend entwickelte Wallerstein (1982) seinen Weltsystemansatz.

Die Abhängigkeitstheorien stehen auch im radikalen Gegensatz zu zentralen Annahmen »klassischer« Modernisierungstheorien (Rostow 1960, Lerner 1971), welche Entwicklung als vornehmlich endogenen Prozess bestimmen, der, sobald traditionelle Widerstände überwunden sind, gleichsam automatisch vonstattengehe. Aus Sicht der Abhängigkeitstheorien sind die sozioökonomischen Verhältnisse in der Dritten Welt durchaus dynamisch, allerdings[12] führe die strukturelle Ungleichheit zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern sowie zwischen den kleinen entwickelten Bereichen der unterentwickelten Länder und dem überwiegenden unterentwickelten Teil (strukturelle Heterogenität) zu einem peripheren Kapitalismus (Galtung 1972). Dieser sei nur durch strukturelle Änderungen des ökonomischen Weltsystems unter sozialistischem Vorzeichen oder durch eine zeitweise Abkopplung (Dissoziation) vom kapitalistischen Weltsystem zu überwinden (Amin 1975). Diese theorielastige Argumentation konnte jedoch weder steigende Rohstoffpreise in den 1970er Jahren noch die wirtschaftliche Entwicklung einiger weltmarktorientierter Schwellenländer (u. a. Brasilien, Mexiko, Süd-Korea, Taiwan) erklären.

Cardoso und Faletto (1976) argumentierten weniger ideologisch und betrachteten unterschiedliche Verläufe ausbleibender Entwicklung in Lateinamerika, wobei endogene und exogene Faktoren berücksichtigt wurden. Diese stärker empirisch begründeten Ansätze waren eher in der Lage, die veränderten Bedingungen in der Weltwirtschaft der 1970er Jahre zu erfassen. Trotz aller Unterschiede blieb der Analysefokus auf die als ungerecht empfundenen weltwirtschaftlichen Strukturen gerichtet. Spätere konsequent empirisch ausgerichtete Arbeiten von Menzel und Senghaas (1986) überwanden das dichotome Denken zwischen Erster und Dritter Welt. Sie entwickelten typische Muster von Entwicklung und Unterentwicklung, die durch das Zusammenspiel spezifischer historischer Bedingungen, Weltmarktkonstellationen und gezielter Wirtschaftspolitiken in Bezug auf selektive An- und Abkopplung an den Weltmarkt geprägt sind. Die Autoren distanzierten sich damit von zentralen Argumenten der Abhängigkeitstheorien und plädierten für empiriegeleitete Analysen von Entwicklungsprozessen, die seither anstelle »Großer Theorien« diskutiert werden.

Die wichtige Erkenntnis, dass Entwicklung wesentlich durch globale Prozesse mitbestimmt wird, ist heute eine bedeutsame Grundlage der Globalisierungsdebatte. Insbesondere globalisierungskritische soziale Bewegungen (z. B. Attac) beziehen sich auf die Abhängigkeitstheorien und greifen beispielsweise die empirisch wenig fundierten Argumente der »Entwicklung der Unterentwicklung« auf.

Literatur

Amin, Samir, 1975: Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformationen des peripheren Kapitalismus, Hamburg. – Boeckh, Andreas, 1982: Abhängigkeit, Unterentwicklung und Entwicklung. Zum Erklärungswert der Dependencia-Ansätze; in: Nohlen, Dieter; Nuscheler, Franz (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1 Unterentwicklung, Hamburg, 133–151. – Cardoso, Fernando H.; Faletto, Enzo, 1976: Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M. – Frank, André G, 1968: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M. – Galtung, Johan, 1972: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus; in: Senghaas, Dieter (Hg.): Imperialismus und strukturelle Gewalt, Frankfurt a. M., 29–104. – Lerner, Daniel, 1971: Die Modernisierung des Lebensstils: eine Theorie; in: Zapf, Wolfgang (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin, 362–381. – Menzel, Ulrich, 2010: Teil I Entwicklungstheorie; in: Stockmann, Reinhard et al. (Hg.): Entwicklungspolitik. Theorien – Probleme – Strategien, München, 11–159. – Menzel, Ulrich; Senghaas, Dieter, 1986: Europas Entwicklung und die Dritte Welt, Frankfurt a. M. – Prebisch, Raúl, 1968: Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer, Berlin. – Rostow, Walt W., 1960: Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen. – Wallerstein, Immanuel, 1982: Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen Weltsystems. Zur Grundlegeung vergleichender Analyse. In: Senghaas, Dieter (Hg.), Kapitalistische Weltökonomie, Frankfurt, 31–66.

Dieter Neubert

Aggregat, soziales

Ein Aggregat (engl. social aggregate) bezeichnet (ähnlich den Begriffen Masse und Menge) eine Ansammlung von Personen, die sich in räumlicher Nähe befinden, zwischen denen jedoch Kommunikation und Interaktion nicht oder nur sporadisch stattfindet. Im Gegensatz zur »Kategorie« bezeichnet Aggregat eine reale, physisch abgrenzbare soziale Einheit. Aggregate weisen nach Fichter einen geringen Strukturierungs- bzw. Organisationsgrad sowie zumeist einen territorialen und vorübergehenden Charakter auf (vgl. auch Esser 2000, Kap. 2). Die Personen, die ein Aggregat bilden, bleiben relativ anonym, haben (auch bei physischer Nähe) nur beschränkten sozialen Kontakt und zeigen in ihrem Verhalten nur geringe Modifikationen gegenüber ihrem Verhalten außerhalb des Aggregats (Fichter 1970, 57/58). Ordnet man Begriffe, die zur Charakterisierung einer sozialen Einheit dienen, nach dem[13] zunehmenden Grad von Organisiertheit, Interaktion und physischer Präsenz der Mitglieder, so entsteht die folgende Reihe: Kategorie (z. B. Gesamtheit aller Fußballfans unter 30 Jahren), Aggregat (Menge der Zuschauer eines Spiels), Kollektiv (Fußballverein), Gruppe (Fußballmannschaft).

Literatur

Esser, Hartmut, 2000: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaften, Frankfurt a. M. u. a. – Fichter, Joseph H., 1970: Grundbegriffe der Soziologie, 3. Aufl., Wien/New York.

Gerhard Berger

Aggression

Aggression (engl. aggression) umfasst eine individuelle oder kollektive Haltung, Einstellung (Feindseligkeit) oder Emotion (Ärger), resp. Verhalten gegenüber Menschen, Tieren, Dingen oder Einrichtungen, mit dem Ziel, sie zu beherrschen, zu schädigen oder gar zu vernichten (Schädigungsabsicht). Damit ist diese Definition von Vorstellungen abzugrenzen, die unter Aggression jede gerichtete, offensive Aktivität oder »Energie« verstehen. Aggressives Verhalten meint die Umsetzung der genannten Ziele; der Begriff Aggressivität bezeichnet die überdauernde Disposition zu aggressivem Verhalten. Entlang mehrerer Dichotomien werden verschiedene Ausprägungen aggressiven Verhaltens differenziert: z. B. feindselig vs. instrumentell, reaktiv vs. aktiv, offen vs. verdeckt, affektiv vs. räuberisch; zudem werden verbale, physische und indirekte/relationale (auf Beziehungsebene) Formen unterschieden. Aggression kann auf individueller, interpersonaler und intergruppaler Ebene beobachtet werden und wird meistens gesellschaftlich als Normenverstoß betrachtet und negativ bewertet. Andererseits kann Aggression im Sinne von Durchsetzungsverhalten auch positiv konnotiert sein. Entscheidend ist dabei die kulturelle, zeitliche und situative Einbettung des Verhaltens. Aggressives Verhalten weist zudem einen Überschneidungsbereich zu Gewalt auf.

Ansätze der Aggressionsforschung

In der Aggressionsforschung lassen sich vielfältige Theorien finden, die auf unterschiedlichen Ebenen menschlichen Verhaltens und Erlebens Erklärungsmodelle anbieten. Letztlich ist Aggression nur multifaktoriell verstehbar, weshalb besonders integrative Ansätze, wie z. B. das integrative Prozess-Modell (Anderson) zu bevorzugen sind. Bei weitem nicht jede Aggression hat überwiegend psychologische oder psychopathologische Hintergründe. Nach evolutionsbiologischer Sicht wird Aggression als eine Form des Konkurrenzverhaltens um fitnessbegrenzende Ressourcen und Arterhaltung verstanden. Triebtheorien und die Ethologie sehen Aggression als biologisch determinierten/angeborenen Instinkt/ Trieb. Aus tiefenpsychologischer Sicht ist Aggression als Ableitung/Freisetzung negativer Energien und Versuch der Bewältigung von Angst, Unsicherheit und Enttäuschung zu verstehen. Die Frustrations-Aggressions-Theorie sieht Aggression als Folge von Frustration (Nicht-Erreichung von Zielen, Bedürfnisbefriedigung), während die lerntheoretische Sicht meint, aggressives Verhalten werde aufgrund der Vorbildfunktion aggressiver Menschen, die man beobachtet, erlernt (Lernen am Modell) und durch Verstärkung (Konditionierung) aufrechterhalten. Nach der Kognitiven Neoassoziationstheorie führen gewaltvolle Hinweisreize (z. B. Waffen, Provokationen) zu Aggression, indem sie aggressionsthematische semantische Inhalte aktivieren, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Die Sozial-Kognitive Informationsverarbeitungstheorie geht davon aus, dass Verzerrungen in der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung zur Interpretation von Signalen als feindselig und zu aggressiven Reaktionen führen.

Soziologische Perspektiven

Nach soziologischer Auffassung wird aggressives Verhalten nicht als Qualität der Handlung, sondern als Konsequenz der Existenz von Regeln und Normen verstanden, die im Prozess der Zivilisation zu einer zunehmenden Ächtung und Formung unkontrollierter Aggression geführt haben. Die Entstehung, Ausübung oder Stabilisierung aggressiven Verhaltens wird durch Bedingungen im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld bestimmt, wobei Macht, Einfluss und Besitzverhältnisse eine bedeutsame Rolle spielen. Die Einstufung eines Verhaltens bzw. [14]einer Handlung als »aggressiv« hängt sowohl von der Existenz von Regeln ab, deren Verletzung »abweichendes Verhalten« darstellt, als auch von der Definition und Anwendung der Regeln durch andere, weshalb die klassischen Devianztheorien Anwendung finden: Nach der Anomietheorie entsteht Aggression durch die Dissoziation zwischen kulturellen Zielen und dem Zugang bestimmter sozialer Schichten zu den dazu notwendigen Mitteln. Die Subkulturtheorie erklärt Aggression durch Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Teilkulturen (Subkulturen), die einen Teil der gesellschaftlichen Normen, Werte und Symbole ablehnen. Der Labeling approach versteht Aggression als Resultat von Zuschreibungs- und Etikettierungsprozessen im Verlauf interpersonaler Interaktion. Neuere Ansätze (z. B. Individualisierungsansatz, Sozialisationsansatz) sehen aggressives Verhalten als eine Form der Verarbeitung von Verunsicherung und Desintegration in Folge von Individualisierungs- und Modernisierungsprozessen bzw. als Ausdruck mangelnder sozialer Kompetenz und nicht gelungener Anpassung an Lebensanforderungen. Zur Erklärung intergruppaler Aggression existieren ebenfalls mehrere Theorien: Die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (Sherif) geht davon aus, dass Aggression gegen Fremdgruppenmitglieder entsteht, wenn sich eine Gruppe in einem Zielkonflikt mit einer anderen befindet und ihre Interessen gefährdet sind. Die Theorie der Sozialen Identität (Tajfel/Turner) meint, dass Konfrontationen mit Fremdgruppen gesucht werden, um ein positives Bild der Eigengruppe und eine soziale Identität zu entwickeln. Nach der Theorie der relativen Deprivation entsteht Intergruppenaggression, wenn die Gruppenmitglieder glauben, dass ihre Gruppe benachteiligt ist. Neuere Untersuchungen (Meier et al.) können zeigen, dass Individuen in Gruppen aggressiver sind, da die Entstehung feindlicher Gesinnungen, negativer Gefühle und Enthemmung in Gruppen wahrscheinlicher ist.