Wir haben geholfen

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Nach den Anfängen mit einer Handvoll Mitarbeitern und viel ehrenamtlichem Engagement ist die Diakonie Katastrophenhilfe inzwischen zu einer hochprofessionellen spendenbasierten Organisation mit ca. 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwachsen. Es gibt mehrere Regional- und Projektbüros in Afrika, Asien und Amerika, derzeit im Tschad, im Südsudan, in Kenia und im Kongo, in der Türkei, in Pakistan, in Kolumbien und auf Haiti.

Im Jahr 2012 erlebte das humanitäre Hilfswerk eine bedeutende Umstrukturierung. Seit Ende der 1950er Jahre war es Teil des Diakonischen Werks mit Sitz in Stuttgart. Nun gehört es zum neu gegründeten „Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.“ Dieses Werk entstand aus der Fusion des Diakonischen Werks mit der Diakonie Katastrophenhilfe, Brot für die Welt und dem Evangelischen Entwicklungsdienst. Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Vorstandsvorsitzende des Werks und Präsidentin von Brot für die Welt, wo heute die Diakonie Katastrophenhilfe angesiedelt ist.

Die Abteilung Diakonie Katastrophenhilfe leitet heute als Nachfolger von Ludwig Geißel, Hannelore Hensle, Thomas Hoerz und Volker Gerdesmeier Martin Keßler. Die Fusion brachte auch den Umzug von Stuttgart nach Berlin mit sich. Unbeeinflusst davon bleiben die Grundsätze der Arbeit: „Das Mandat der Diakonie Katastrophenhilfe, Betroffenen unabhängig von Religion, Hautfarbe und Nationalität in akuten Notlagen gemäß ihrem Hilfsbedarf so zu helfen, dass sie so bald als möglich wieder auf die eigenen Beine kommen, bleibt durch die Fusion ebenso unverändert wie ihre Arbeitsweise“, hält die Präsidentin Cornelia Füllkrug-Weitzel fest.


Organigramm der Diakonie Katastrophenhilfe



DIE 50ER JAHRE + +

Über die alte „Nibelungenstraße“ Regensburg-Passau-Linz rollten Ende Oktober 1956 zwei Viertonner, randvoll beladen mit Lebensmitteln und Medikamenten. Ihr Ziel war Wien. Die LKWs gehörten dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das dort eine Zweigstelle zur Unterstützung der Flüchtlinge aus Ungarn eingerichtet hatte.

Zahlreiche Ungarn flohen zu dieser Zeit vor den einmarschierenden sowjetischen Truppen ins Nachbarland Österreich, das mit der Aufnahme der mehr als 200.000 Flüchtlinge vollkommen überfordert war. Der ungarische Aufstand gegen die Regierung löste 1956 in der Bundesrepublik Deutschland eine beispiellose Welle von Hilfeleistungen und Spenden aus. Die im Aufbau begriffene Katastrophenhilfe des Hilfswerks der Evangelischen Kirche erlebte ihre erste große Bewährungsprobe.

UNGARN

NIEDERLANDE

GRIECHENLAND

PALÄSTINA

HONGKONG

Ungarn 1956

„Im Namen Jesu Christi: Kommt und helft uns! Das meiste, was wir auf Erden besessen haben, ist uns verloren gegangen …“ Dieser Hilferuf des ungarischen Bischofs Lajos Ordass erreichte die Ökumene am 2. November 1956 über Radio Budapest. Zu diesem Zeitpunkt waren vor den Augen der Welt alle Hoffnungen auf einen reformsozialistischen Kurs in Ungarn durch sowjetische Truppen gewaltsam zunichte gemacht worden. Zuvor hatten Budapester Studenten gegen die sowjetische Besatzungsmacht protestiert: für mehr Demokratie, freie Wahlen, den Abzug der sowjetischen Truppen und wirtschaftliche Reformen. Auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, der ein politisches „Tauwetter“ im Ostblock einleiten sollte, hatte sich die ungarische Regierung geweigert, ihren stalinistischen Kurs zu revidieren. Seit Oktober 1956 erschütterten deshalb heftige Demonstrationen die ungarische Hauptstadt. Dies war der Beginn des Ungarn-Aufstandes. An die Spitze der Bewegung hatte sich der reformsozialistische Politiker Imre Nagy gestellt und am 2. November im Namen einer inoffiziellen Gegenregierung den Austritt seines Landes aus der Staatengemeinschaft des Warschauer Vertrages erklärt. Die Sowjetunion griff ein und sowjetische Truppen lieferten sich auf den Straßen Budapests blutige Schlachten mit den Aufständischen. Die Lage eskalierte. Hatten schon in den Wochen zuvor zahlreiche Ungarn ihr Land verlassen, setzte nun eine Massenflucht ein: Mehr als 200.000 Menschen verließen ihre Heimat.


Mehr als 200.000 geflohene Ungarn müssen versorgt werden.

Fieberhafte Überlegungen

Im Stuttgarter Hauptbüro des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland überlegte man fieberhaft, wie der ungarischen Katastrophe begegnet werden könnte. Bereits im Oktober reiste Ludwig Geißel, der spätere Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, nach Österreich. Mit einer Sofortspende von 20.000 D-Mark für das Österreichische Hilfswerk im Gepäck informierte er sich vor Ort über die Lage. Schon wenige Tage später rollten Lastzüge randvoll mit Decken, Lebensmitteln und Medikamenten von Passau nach Wien. Das sollte die schlimmste Not lindern, reichte aber lange nicht aus. In Zusammenarbeit mit der Inneren Mission, dem Lutherischen Weltdienst und anderen Organisationen initiierte das Hilfswerk eine groß angelegte Soforthilfeaktion für Ungarn. Leitstelle für die „Aktion Ungarnhilfe“ wurde das Hilfswerkbüro in Nürnberg, das zunächst Hilfstransporte direkt in die ungarischen Städte Budapest und Györ schickte. Als sich die Sowjetunion zur blutigen Niederschlagung des Aufstandes entschlossen hatte und sich die Situation vor Ort zuspitzte, konnte sich das Hilfswerk nur noch auf Paketsendungen nach Ungarn und auf Hilfe für die rund 70.000 Flüchtlinge konzentrieren, die in österreichischen Lagern untergekommen waren. Das Hilfswerk stand vor einer bislang unbekannten und mit der vorhandenen Infrastruktur kaum zu lösenden Aufgabe. An die deutsche Bevölkerung erging ein Aufruf zu großzügigen Spenden – mit Erfolg.


Gerettet: Eine Flüchtlingsfamilie kommt im Flüchtlingslager des Hilfswerks an.

Eine „neue ökumenische Tat“ die Aktion Ungarnhilfe

Uber 500 Tonnen Sachspenden kamen innerhalb kurzer Zeit zusammen, dazu Geldspenden in Höhe von 1,6 Millionen D-Mark. Das war der bis dahin höchste Betrag, den Deutsche für humanitäre Hilfe im Ausland gespendet hatten.


Ludwig Geißel

(geb. 1916 in Alzey/Rheinhessen; gest. 2000 in Stuttgart)

war im Zweiten Weltkrieg Soldat im Frankreich- und Russlandfeldzug. Im Diakonischen Werk leitete er von 1957 bis 1981 die Abteilung „Finanzen und Notstandshilfe“. Er engagierte sich im Aufbau einer internationalen Not- und Katastrophenhilfe. Mit ihm verbunden ist die Organisation der „Joint Church Aid“ für Biafra und die Leitung zahlreicher Hilfsaktionen für den Lutherischen Weltbund und den Ökumenischen Rat der Kirchen. Von der Bundesregierung wurde er mit der Abwicklung des Gefangenenfreikaufs aus der DDR betraut. 1991 erschienen seine Memoiren unter dem Titel „Unterhändler der Menschlichkeit“, darin hält er fest: „Unser oberstes Gebot lautet: Wenn Menschen in Gefahr sind, muss sofort gehandelt werden. Ich habe das einmal auf die Formel gebracht: ‚Erst fliegen, dann beten‘.“

Auch die evangelischen Kirchen in der DDR beteiligten sich mit einer Weihnachtskollekte von umgerechnet 400.000 D-Mark an der Ungarnhilfe. Alle zwei Tage konnte ein Waggon mit Hilfsgütern von Nürnberg nach Österreich geschickt werden. Schon zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass die Ungarnhilfe zum bislang größten Auslandseinsatz des Hilfswerks werden würde.

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK)

ist ein weltweiter Zusammenschluss von 349 Mitgliedskirchen (2013). Die Mitgliederbasis des ÖRK umfasst mehr als 500 Millionen Christen in Kirchen, Denominationen und kirchlichen Gemeinschaften in aller Welt: Zu ihnen zählen die Mehrzahl der großen Kirchen der evangelischen Traditionen (Lutheraner, Reformierte, Methodisten, Baptisten etc.), die anglikanischen Kirchen, die altkatholischen Kirchen und die meisten orthodoxen und altorientalischen Kirchen sowie viele vereinigte und unabhängige Kirchen.

Die römisch-katholische Kirche gehört dem ÖRK nicht an. Während die meisten ÖRK-Gründungsmitglieder europäische und nordamerikanische Kirchen waren, setzt sich die heutige Mitgliedschaft vorwiegend aus Kirchen in Afrika, Asien, der Karibik, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie dem pazifischen Raum zusammen. Aus verschiedenen Wurzeln hervorgehend war seine Gründung ursprünglich für 1938 vorgesehen, musste dann aber wegen des Kriegsausbruches auf die Nachkriegszeit verschoben werden. Nach dem Krieg ermutigte der Ökumenische Rat die Kirchen zum Ausbau ihrer Entwicklungshilfe und führte selbst Hilfsprogramme unter Flüchtlingen, Migranten und mittellosen Bevölkerungsgruppen durch.

Als der ÖRK 1948 dann auf seiner Ersten Vollversammlung gegründet wurde, zählte er zunächst 147 Mitgliedskirchen. Er dient der Förderung der Einheit und der Mission der Kirchen, dem theologischen Dialog und dem gemeinsamen Dienst an der Welt. Dazu gehören gemeinsame Advocacy- und Lobbyarbeit der Kirchen gegenüber den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit, Friedensmissionen, Menschenrechtsarbeit, Studienarbeit zu Fragen von Wirtschaft und Ökologie. Die vorher wichtige konkrete Koordinierung von zwischenkirchlicher und humanitärer Hilfe in Katastrophenfällen hat der ÖRK mit der Gründung des Netzwerks Action by Churches Together (heute ACT Alliance) ausgelagert. Er beschäftigt sich heute mit Grundsatzfragen und Leitlinien des Teilens von Ressourcen und der weltweiten diakonischen Arbeit.

 

Es kann nur vermutet werden, was die Deutschen in Ost und West zu dieser enormen Hilfsbereitschaft bewegte. Eine Antwort darauf kann das eigene Erleben des Flüchtlingsschicksals nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Die Bilder wiederholten sich: Viele Deutsche werden beim Anblick der Flüchtlingslager in Österreich an das eigene Überleben in Baracken der Nachkriegsjahre, den Nissenhütten, und das Flüchtlingselend im besetzten Deutschland erinnert worden sein. Eine weitere Erklärung für die deutsche Hilfe 1956 liegt in der angespannten politischen Situation des „Kalten Kriegs“ in Europa. Nur drei Jahre zuvor, am 17. Juni 1953, hatten Deutsche einen Aufstand gegen die Regierung der DDR gewagt – und ebenso dessen blutige Niederschlagung durch sowjetische Panzer erlebt. Über das humanitäre Motiv hinaus war die Spende für die Menschen hinter dem „eisernen Vorhang“, der sich nach dem Weltkrieg über Europa gesenkt hatte, auch ein politisches Zeichen. Dieser Kontext führte zu neuen Fragen innerhalb des Hilfswerks, denn genau das – ein politisches Zeichen – sollte die Unterstützung der Kirchen nicht sein. Sie distanzierten sich von jeglicher Politisierung ihrer Aktivitäten. Für die Katastrophenhilfe wurde damit ein weiteres Prinzip ihrer Arbeit begründet: Nicht Machtinteressen und Ideologien sollten ihr Handeln bestimmen, sondern einzig und allein die Not von Menschen. Nur unter dieser Maßgabe konnte die Idee der Katastrophenhilfe an Integrationskraft gewinnen, auch wenn daraus in den kommenden Jahrzehnten immer wieder Konflikte und Vereinnahmungsversuche mit politischen Interessengruppen entstanden. Im Schatten der Politik wuchs die Hilfe für die Ungarnflüchtlinge zu einer internationalen Aktion heran. Zusammen mit Spenden des Ökumenischen Rates der Kirchen, des Lutherischen Weltdienstes und anderer kirchlicher Organisationen Europas wurden kontinuierlich Hilfsgüter nach Österreich und Ungarn geliefert. Die internationale kirchliche Zusammenarbeit, so heißt es im Tätigkeitsbericht des Hilfswerks von 1956/57, habe der Ungarnhilfe „den Charakter einer neuen ökumenischen Tat“ verliehen.

Die „Sonderaktion Babywäsche“

Dass man beim Hilfswerk auch zu unkonventionellen Mitteln griff, illustriert das Beispiel der „Sonderaktion Babywäsche“. Den Säuglingen und Kleinkindern der ungarischen Flüchtlinge mangelte es im Dezember 1956 an Wäsche und Windeln. Das Evangelische Hilfswerk in Bayern und der bayerische Landesverband der Inneren Mission wandten sich daher in Kirchenblättern an Frauen und Mädchen: „Opfert doch als Zeichen christlichen Erbarmens und brüderlicher Hilfe nach Möglichkeit ein paar Tage oder Stunden, um die so dringend gebrauchte Säuglingswäsche eigenhändig zu stricken oder sonstwie zu beschaffen!“ Diese Aktion fand ungeahnten Widerhall: Wochenlang trug die Post tausende von Paketen mit Babywäsche in das Dienstgebäude des bayerischen Hilfswerks.

Die „rollenden Einsatzgruppen“

Die Ungarnhilfe zeigte vor allem eines: Das Hilfswerk konnte mit einem kleinen Mitarbeiterstab und unter Nutzung kirchlicher Strukturen schnelle und unkonventionelle Katastrophenhilfe leisten sowie Menschen in Deutschland und in ganz Europa mobilisieren. Lebensmittel, Decken und Medikamente waren ein Anfang. Doch was kam danach? Wenn man Verantwortung im Sinne der Nächstenliebe übernehmen wollte, konnte Katastrophenhilfe nicht nur heißen, schnell die Hilfssendungen abzuliefern und sich dann wieder zurückzuziehen. Wirkliche Hilfe musste weiter gehen, sie musste langfristiger gedacht werden. Ungarn wurde dafür zum Präzedenzfall. Gemeinsam mit dem Ökumenischen Rat und dem Lutherischen Weltdienst rief das Hilfswerk „rollende Einsatzgruppen“ ins Leben.

In enger Zusammenarbeit mit den Leitern der Flüchtlingslager sollten auf diese Weise weitergehende Fürsorge und Seelsorge gewährleistet werden. Leiter der Aktion war Paul Laufer aus München, in der bayerischen Landeskirche für die Vertriebenenarbeit zuständig. Er erkannte, dass es in Katastrophenfällen einen Mechanismus gab, dem das Hilfswerk entgegenzusteuern hatte: „Die kirchliche Hilfe war ja nicht nur für die Wochen der ersten Begeisterung im Helfen und Geben gedacht“, so Laufer, „sondern bis hin zu jenem Zeitpunkt, an dem die Bereitwilligkeit erfahrungsgemäß abzuflauen beginnt.“ Die „rollenden Einsatzgruppen“ bestanden aus Hilfswerkmitarbeitern, einer Schwester und einem ungarischen Theologen, der Gottesdienste abhielt und Einzelgespräche anbot. Die Seelsorge spielte bei der Katastrophenhilfe anfänglich eine wichtige Rolle. Ab Dezember 1956 fuhren die Einsatzgruppen von Wien aus in Kombi-Volkswagen von Lager zu Lager. Wie es im Jahresbericht des Hilfswerks rückblickend heißt, galt es „zunächst einmal, die aus aller Welt so reichlich geflossenen Liebesgaben in die Lager zu bringen, sie aber gleichzeitig auch an die richtigen Leute auszugeben.“ Keines der zahlreichen Lager blieb über die Festtage ohne Gottesdienst.


Neue Perspektiven nach der Flucht: Ungarische Jugendliche in der Obhut des Hilfswerks.

Als die Weltöffentlichkeit sich schon abgewendet hatte

Bis Juli 1957 hatte allein der Wagen der Gruppenleitung mehr als 36.000 Kilometer zurückgelegt. Die Aktion, die nur einen Bruchteil der Probleme lösen konnte, wurde bis September 1957 verlängert. Sie hatte ein Zeichen der Hoffnung gesetzt, wie eine Mitarbeiterin berichtete: „Wie oft standen wir ratlos da, ein Berg von Fragen vor uns, die einfach nicht überschaubar waren. Wo und wie diesen Menschen überhaupt helfen? Unsere Gaben waren zwar stets kleine Freuden in der Trostlosigkeit des Lagerlebens, die entscheidende Hilfe aber lag im regelmäßigen Wiederkommen, im Da-Sein für die Flüchtlinge.“

Ab Mitte 1957 konzentrierte sich das Evangelische Hilfswerk auf die Betreuung der 11.000 Ungarnflüchtlinge in Deutschland. Die meisten von ihnen waren Jugendliche im Alter von 17 bis 22 Jahren. Ludwig Geißel und Christian Berg schrieben am 1. Juli 1957 an die Landesverbände und Hauptbüros des Hilfswerks: „Sie erleben nun Freiheiten, die sie nicht kennen. Wir dürfen sie nicht sich selbst überlassen, sondern müssen ihnen helfen, Wege zeigen und ihnen Rat und Hilfe gewähren.“ Das österreichische Hilfswerk erhielt zugleich weiterhin finanzielle Unterstützung zum Bau von Häusern für die dortigen Flüchtlinge. Nach der Soforthilfe verlegte sich der Schwerpunkt nun auf die Integration der geflohenen Ungarn.

„Christliche Liebe mit den Augen gesehen“

Im Mai 1957 fand der ungarische Bischof Ordass, der sich im Jahr zuvor über Radio Budapest hilfesuchend an die Ökumene gewandt hatte und nun die ungarische Diasporagemeinde in ganz Europa betreute, herzliche Worte des Dankes für die deutsche und österreichische Unterstützung: „Wir haben in den schwersten Tagen die christliche Liebe nicht bloß empfunden, sondern mit den Augen gesehen als ein Wunder.“ Bei einem Deutschlandbesuch 1957 fügte er hinzu: „Doch nicht die Not zu beschreiben ist nötig, sondern davon zu sprechen, was wir an christlicher Liebe zumal durch das Evangelische Hilfswerk in Österreich und Deutschland erfahren durften!“

Der Lutherische Weltbund

wurde 1947 in Schweden gegründet. Darin sind heute 136 Kirchen lutherischer Tradition aus 76 Ländern zusammengeschlossen. Sie repräsentieren den Großteil der lutherischen Christenheit. 1952 wurde der Lutherische Weltdienst als Unterabteilung gegründet. Dessen Sekretariat befindet sich in Genf. Von Beginn an arbeitete er eng mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen und anderen internationalen Organisationen zusammen. Die Not- und Katastrophenhilfe gehört zu seinen wichtigsten Aufgaben. Im Vordergrund standen damals lutherische Christen, die durch den Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg zu Flüchtlingen wurden. Heute umspannt die Nothilfe der Abteilung für Weltdienst die ganze Welt, unabhängig von ethnischen, nationalen, politischen oder religiösen Grenzen. Die Abteilung Weltdienst des Lutherischen Weltbundes gehört zu den wichtigen Partnern der Diakonie Katastrophenhilfe.

Der Katastrophenhilfe außerhalb der Bundesrepublik hat die Ungarnhilfe zum Durchbruch verholfen. Das betonte Ludwig Geißel rückblickend in seinen Memoiren. 1957 fand diese Entwicklung ihren organisatorischen Niederschlag in der Gründung der Abteilung „Finanzen und Notstandshilfe“ innerhalb des im gleichen Jahr entstandenen Diakonischen Werks der EKD, das aus Hilfswerk und Innerer Mission hervorgegangen war. Geißel leitete die Abteilung und die darin zusammengefasste Katastrophenhilfe ab diesem Jahr. Eine bis 1981 währende Ära nahm hier ihren Anfang.

Die Katastrophenhilfe erntete allgemeine Beachtung wie Anerkennung und dehnte im Folgenden ihre Arbeit stärker auch auf Katastrophenfälle in Ländern außerhalb Europas aus. Schon mit der Ungarnhilfe 1956 zeichneten sich die besonderen Qualitäten der Diakonie Katastrophenhilfe ab: Schnelligkeit, Flexibilität und Unkonventionalität sowie der hohe persönliche Einsatz ihrer Mitarbeiter, zudem ein langer Atem, der weit über den unmittelbaren Katastropheneinsatz hinaus reicht.

50ER JAHRE + + NIEDERLANDE GRIECHENLAND PALÄSTINA HONGKONG

Die Ungarnhilfe war die umfangreichste Auslandsaktion nach der Gründung der Diakonie Katastrophenhilfe 1954. Ihre Entstehungsgeschichte basiert aber auch auf einer Reihe weiterer Hilfsmaßnahmen in den Niederlanden, Griechenland, Palästina oder Hongkong. Sie gingen der Gründung zeitlich voraus.

Flutkatastrophe in den Niederlanden

Am 2. Februar 1953 wurden die Niederlande von der bisher schwersten Flutkatastrophe in ihrer Geschichte heimgesucht. Diese Naturkatastrophe forderte 1.800 Todesopfer, 300.000 Menschen mussten evakuiert werden. Für Ludwig Geißel war die „Hollandhilfe“ ein bedeutender Schritt auf dem Weg „von der nehmenden zur gebenden Kirche“ in Deutschland: „Die Katastrophenhilfe des Hilfswerks hatte ihren Anfang genommen“, schrieb er 1991 in seinen Memoiren.

Anlässlich der Not im Nachbarland rief das Hilfswerk erstmals zu einer spontanen Spendensammlung auf. Schon am 2. Februar habe man im Zentralbüro des Hilfswerks Überlegungen angestellt, ob es nicht an der Zeit sei, die deutschen Gemeinden zu bitten, einen Solidaritätsbeitrag für die Menschen in den Niederlanden zu leisten, erinnert sich Ludwig Geißel: „Wir wussten freilich, dass das riskant war. Die Not in Deutschland, vor allem unter den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, war noch längst nicht behoben.“ Tatsächlich gab es vereinzelt Widerspruch. So meldete ein Mitarbeter des Hauptbüros des Hilfswerks im Rheinland Bedenken an, ob denn die Niederländer die Hilfe aus dem Ausland wirklich bräuchten. Deren Textilwirtschaft müsse doch froh sein, den jetzt gestiegenen Bedarf abdecken zu können. Außerdem gäbe es in Deutschland noch genügend eigene Probleme zu bewältigen, so dass die Niederländer „Hilfe bei weitem nicht so nötig brauchen wie wir selbst“.


„Zend Water“ (Schickt Wasser) ist auf dem Lastkahn im niederländischen Bronvershaven zu lesen: Opfer der Sturmflut sind von der Nahrungs- und Trinkwasserversorgung abgeschnitten.

Insgesamt jedoch überwog die Spendenbereitschaft: Das Hilfswerk konnte knapp 38.000 D-Mark in die Niederlande schicken; der größte Teil dieses Geldes wurde für den Wiederaufbau eines Jugendzentrums in Rotterdam genutzt. Dazu kamen umfangreiche Sachspenden aus den Kirchengemeinden. Überraschend meldeten sich auch junge Leute, die sich persönlich am Wiederaufbau in den Niederlanden beteiligen wollten. Das „Holländische Komitee für zwischenkirchliche Hilfe und Flüchtlingsdienst“ bedankte sich im März 1953 überschwänglich für die empfangene Hilfe: „Die ergreifende Weise, in der Hunderttausende von Menschen in der ganzen Welt geholfen und vielfach wirkliche Opfer gebracht haben, hat im ganzen niederländischen Volk einen tiefen Eindruck hinterlassen. Gerade dass unsere deutschen Brüder und Schwestern nicht zurückstanden, sondern im Gegenteil zuerst zur Stelle waren, hat uns sehr erfreut.“

 

Ein Erdbeben erschüttert Griechenland


Kirchen helfen Kirchen: Mit Unterstützung des Hilfswerks wird die Kirche im griechischen Sofades wieder auf gebaut.

Zu einem Ort großer Not und einem wichtigen Schritt für die Diakonie Katastrophenhilfe wurde kurz nach der Flut in den Niederlanden ein Teil Griechenlands. Am 12. August 1953 zerstörte ein Erdbeben auf den Ionischen Inseln hunderte von Dörfern. 100.000 Menschen wurden obdachlos, 450 Menschen kamen ums Leben. Nach einem Hilfegesuch des Ökumenischen Rates der Kirchen bat Bischof Dibelius als Vorsitzender des Hilfswerkausschusses die evangelischen Kirchen in Deutschland um Unterstützung: „So groß und schwer auch die Aufgaben im eigenen Land noch immer sind – wir dürfen und wollen nicht immer nur die Nehmenden sein!“

Bis Mai 1954 kamen über 40.000 D-Mark an Spenden zusammen, teilweise auch von den Kirchen der DDR. Das Geld wurde dem Komitee für zwischenkirchliche Hilfe in Griechenland „als kleiner Beweis der Dankbarkeit und Zeichen der eigenen Opferbereitschaft“ für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt. Unter anderem wurde damit die evangelische Kirche in Sofades wiedererrichtet. 1955 und 1956 sandte das Hilfswerk 67 ostfriesische Zuchtschafe, außerdem Zugpferde für erdbebengeschädigte Bauern nach Griechenland. Die Schafe wurden von ihren heimatlichen Weiden per Zug und Luftfracht auf die Reise geschickt.

In Griechenland nahm sie das griechische Landwirtschaftsministerium mit einem kleinen Festakt freudig in Empfang. „Wir haben nicht gewusst, dass es so große Schafe gibt“, schrieben die griechischen Bauern in einem Dankesbrief an das Hilfswerk, „sie fühlen sich bei uns sehr wohl, auch die 35 Lämmer, die unterwegs geboren wurden.“ Der tiefe Eindruck war wechselseitig. Ein nach dem Krieg aus Schlesien vertriebener deutscher Bauer, der die Transporte nach Griechenland begleitet hatte, war erschüttert: „Ich habe nicht gewusst, dass es irgendwo solche Armut gibt. Und ich habe auf unserer Flucht doch so viel Elend gesehen.“

Flüchtlingshilfe in Palästina und Hongkong

Palästina 1953: Infolge des arabisch-israelischen Krieges von 1948 mussten dort und in den Nachbarländern hunderttausende palästinensischer Flüchtlinge in Lagern versorgt werden. Seit 1953 schickte das Hilfswerk jährlich bis zu 30.000 D-Mark an den Ökumenischen Rat der Kirchen oder direkt zu Partnerorganisationen nach Palästina. Ab 1955 beteiligte es sich an ökumenischen Projekten zugunsten der Flüchtlinge in den arabischen Ländern. Zusätzlich schickte das Hilfswerk regelmäßig Wolldecken und Medikamente in die palästinensischen Flüchtlingslager nach Syrien. Hier deutete sich ein Konflikt an, der die Katastrophenhilfe über die kommenden Jahrzehnte immer wieder beschäftigen sollte. Eine Flüchtlingskatastrophe gab es auch in Hongkong. Drei Millionen Chinesen waren nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 nach Hongkong geflohen, die damals britische Kronkolonie war.


Solche Bilder relativieren die Not Im Nachkrlegsdeutschland.

Ab Mitte der 1950er Jahre sammelte das Hilfswerk jährlich mehrere 10.000 D-Mark, die an kirchliche Partnerorganisationen in Hongkong geschickt wurden. Elisabeth Urbig machte auf eine – die politischen Zeitumstände reflektierende – Besonderheit der frühen deutschen Spendenbereitschaft aufmerksam: „Aus Berliner Flüchtlingslagern kamen die ersten Kollekten für Hongkong-Stadt ohne Hinterland. Wie das ist, wusste man dort sehr gut.“

All diese Beispiele von Hilfsmaßnahmen belegen einmal mehr den besonderen Zusammenhang der Hilfsbereitschaft in Deutschland mit dem Erleben der eigenen Katastrophe nach 1945. Das Gefühl großer Dankbarkeit für die ungeheure Unterstützung durch das Ausland in den Nachkriegsjahren wirkte in den 1950er Jahren als wesentlicher Antrieb für die Diakonie Katastrophenhilfe. Das wirtschaftlich konsolidierte Deutschland bot im folgenden Jahrzehnt vollkommen neue Perspektiven an Spendenaufkommen.

Im Schatten des Wirtschaftswunders verlangte die Not- und Katastrophenhilfe aber auch nach neuen Begründungen für die Bereitschaft zum Spenden. Dass diese nötig waren, zeigte der Lauf der Geschichte. „Nie wieder Krieg!“ hieß es nach 1945 mit voller Überzeugung auf der ganzen Welt, als man den Nationalsozialismus endlich besiegt hatte. Nie wieder Krieg?

You have finished the free preview. Would you like to read more?